Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.11.2013, Az. III R 12/11

3. Senat | REWIS RS 2013, 1109

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Gegenstand

Kindergeld für polnische Wanderarbeitnehmer


Leitsatz

NV: Auch in Fällen, in denen aufgrund Regelungen der VO Nr. 1408/71 eigentlich ein ausländischer Mitgliedstaat zur Erbringung von Familienleistungen für im EU-Ausland lebende Kinder eines Wanderarbeitnehmers zuständig ist, hat Deutschland --trotz § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG-- im Hinblick auf Rechtsprechung des EuGH (Rechtssache Hudzinski und Wawrzyniak, Urteil vom 12. Juni 2012 C-611/10, C-612/10, DStRE 2012, 999) Differenzkindergeld zu gewähren (Anschluss an BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040).

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist [X.] Staatsangehöriger. Er war in den Monaten Juli 2007 bis November 2007 bei einer Gärtnerei in der [X.] nichtselbständig beschäftigt. Während dieser [X.] war er in [X.] als Selbständiger sozialversichert. Die Familie des Klägers, zu der die beiden in den Jahren 1991 und 1993 geborenen Töchter A und [X.] gehören, lebt in [X.]. Die Ehefrau bezog nach einer in [X.] ausgestellten [X.]escheinigung von September 2005 bis August 2007 Familienleistungen nach [X.] Recht.

2

Der Kläger beantragte im Januar 2008 die Gewährung von Kindergeld. Die [X.]eklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte eine Festsetzung durch [X.]escheid vom 14. April 2008 ab, weil der Kläger in [X.] Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen habe. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 26. Mai 2008).

3

Im anschließenden Klageverfahren beantragte der Kläger, die Familienkasse zu verpflichten, ihm Kindergeld für seine beiden Töchter für die Monate Juli bis November 2007 zu gewähren.

4

Das Finanzgericht ([X.]) wies die Klage ab. Der Kläger habe aufgrund der Regelungen der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der [X.]n Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern ([X.] Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung (Amtsblatt der Europäischen [X.] 1997, Nr. L 28, S. 1), diese wiederum geändert durch die Verordnung ([X.]) Nr. 647/2005 des [X.] und des Rates vom 13. April 2005 ([X.] 2005, Nr. L 117, S. 1), keinen Anspruch auf Kindergeld nach [X.] Recht. Der Kläger sei als Selbständiger in [X.] sozialversichert gewesen. Er unterliege nach Art. 14a Nr. 1 [X.]uchst. a der [X.] Nr. 1408/71 den Rechtsvorschiften [X.]s über [X.] Sicherheit. Die Regelungen dieser Verordnung seien abschließend, so dass [X.] Kindergeldrecht auch nicht subsidiär anwendbar sei. Den §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nicht zu entnehmen, dass [X.] Kindergeldrecht auch dann anwendbar sei, wenn nach dem Wortlaut der [X.] Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung fänden. Ein [X.] zugunsten des nationalen Rechts wäre aber zu erwarten, weil die [X.] Nr. 1408/71 als überstaatliches Recht den nationalen Rechtsvorschriften vorgehe und deren Anwendungsbereich begrenze.

5

Zur [X.]egründung der Revision trägt der Kläger vor, entgegen der Rechtsansicht des [X.] seien im Streitfall die Vorschriften des [X.]eschäftigungslandes einschlägig, somit die [X.]. Auch die Annahme des [X.], die Zuständigkeit des ausländischen Staats führe zu einer Sperrwirkung hinsichtlich der Anwendung der [X.] Rechtsvorschriften, sei unzutreffend.

6

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 14. April 2008 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 26. Mai 2008 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für seine beiden Töchter für die Monate Juli bis November 2007 zu gewähren.

7

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

8

Zur [X.]egründung führt sie aus, aufgrund der in [X.] bestehenden Sozialversicherung unterliege der Kläger den [X.] Vorschriften.

9

Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der [X.]eteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O-- [X.]. § 121 [X.]O).

Entscheidungsgründe

II. Die Familienkasse … der [X.] ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.] … --Familienkasse-- eingetreten (s. dazu Beschluss des [X.] --BFH-- vom 3. März 2011 V B 17/10, [X.], 1105).

III.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O).

1. Das [X.] war zu Unrecht der Ansicht, die Anwendung der §§ 62 ff. EStG sei ausgeschlossen, wenn aufgrund der Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 die Rechtsvorschriften [X.] anwendbar sind.

Aus dem nach der Entscheidung der Vorinstanz ergangenen Urteil des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.]/10 in der Rechtssache [X.] und [X.] ([X.]Entscheidungsdienst --DStRE-- 2012, 999) ergibt sich, dass die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 auch in Fällen, in denen ein ausländischer Wanderarbeitnehmer im Inland eine Beschäftigung aufgenommen hat, keine Sperrwirkung entfalten und deshalb den Staat, der nach den Bestimmungen der genannten Verordnung an sich nicht zur Erbringung von Familienleistungen zuständig ist, rechtlich nicht daran hindern, solche Leistungen nach seinen nationalen Vorschriften zu gewähren. In einem solchen Fall bedarf es auch keines zusätzlichen Anwendungsbefehls, um die §§ 62 ff. EStG anwenden zu können (Senatsurteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, [X.], 1040).

2. Das angefochtene Urteil, das diesen Rechtsgrundsätzen nicht entspricht, ist aufzuheben.

a) Im zweiten Rechtsgang wird das [X.] zunächst die Anspruchsberechtigung des Klägers zu prüfen haben. Wegen der Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG weist der Senat auf die Urteile vom 24. Mai 2012 III R 14/10 ([X.], 239, [X.], 897) sowie vom 18. Juli 2013 III R 59/11 ([X.], 228 [X.], 1992) hin. Die Tatsache, dass der Kläger bei dem für ihn zuständigen Finanzamt ([X.]) beantragt hat, nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt zu werden, besagt demnach nicht, dass das [X.] ihn tatsächlich gemäß § 1 Abs. 3 EStG veranlagt hat. So können auch außerhalb des [X.] liegende Umstände zu berücksichtigen sein. Auch wird das [X.] zu prüfen haben, in welchen Monaten der Kläger die Einkünfte aus seiner inländischen Beschäftigung erzielt hat (s. Senatsurteil in [X.], 511 [X.], 1040, sowie BFH-Urteil vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, [X.], 327, [X.], 491).

b) Das [X.] wird auch zu beachten haben, dass die sich aus der [X.] 1408/71 ergebende Zuständigkeit [X.] zur Erbringung von Familienleistungen nicht zum Ausschluss von (Differenz-) Kindergeld nach [X.] Vorschriften führt.

aa) Nach den Feststellungen des [X.] unterlag der Kläger in [X.] als Selbständiger der Sozialversicherungspflicht, so dass der Anwendungsbereich der [X.] 1408/71 eröffnet ist (Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 55/08, [X.], 316, [X.], 619). Die Zuständigkeit [X.] zur Erbringung von Familienleistungen ergibt sich, wie das [X.] zutreffend entschieden hat, aus Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71. Die Konkurrenz zwischen dem Anspruch auf Kindergeld nach [X.] Recht und dem Anspruch auf [X.] Familienleistungen ist nach nationalem Recht zu lösen, da der zuständige Mitgliedstaat mit dem [X.] identisch ist (Senatsurteil in [X.], 511, [X.], 1040).

bb) Die Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG steht der Gewährung von [X.] nicht entgegen. Die nationalen Vorschriften sehen in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Aus der Entscheidung des [X.] in der Rechtssache [X.] und [X.] in [X.], 999 ergibt sich jedoch, dass in einem derartigen Fall der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG nur in Höhe der ausländischen Familienleistungen gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden darf, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des [X.] beeinträchtigt wäre (s. Senatsurteil in [X.], 511, [X.], 1040).

Meta

III R 12/11

14.11.2013

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 1. Februar 2011, Az: 10 K 2301/08 Kg, Urteil

§ 1 Abs 3 EStG 2002, § 62 Abs 1 Nr 2 Buchst b EStG 2002, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, Art 14a Abs 1 Buchst a EWGV 1408/71

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.11.2013, Az. III R 12/11 (REWIS RS 2013, 1109)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 1109

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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