Bundesfinanzhof, Urteil vom 04.02.2016, Az. III R 16/14

3. Senat | REWIS RS 2016, 16660

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Gegenstand

Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnenden Selbständigen für in Polen lebende Kinder


Leitsatz

NV: Auch wenn Deutschland aufgrund der Zuständigkeitsregelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 eigentlich nicht zur Erbringung von Familienleistungen zuständig ist, kann es trotzdem verpflichtet sein, die Differenz zwischen den Familienleistungen nach ausländischem Recht und dem Kindergeld nach deutschem Recht zu gewähren (Anschluss an EuGH-Urteil vom 12.6.2012 C-611/10, C-612/10, Hudzinski/Wawrzyniak, EU:C:2012:339, DStRE 2012, 999) .

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 3. Juni 2013  2 K 1727/10 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Der aus [X.] stammende Kläger und Revisionskläger (Kläger) war in der [X.] ([X.]) selbständig tätig. Er war in [X.] in der Kasse der Sozialversicherung für Landwirte sozialversichert, ebenso wie seine Ehefrau. Die im Januar 1988 geborene [X.] und die im August 1994 geborene Tochter [X.] lebten in [X.] im Haushalt der Ehefrau.

2

Der Kläger beantragte in [X.] Kindergeld für die beiden Töchter. Er gab an, die Kinder befänden sich in Ausbildung. Die [X.]eklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag durch [X.]escheid vom 5. August 2008 ab, da nach ihrer Ansicht [X.] für die Gewährung von Familienleistungen zuständig sei. Dagegen wandte sich der Kläger mit Einspruch. Durch [X.]escheide vom 5. Mai 2010 half die Familienkasse dem [X.]egehren des [X.] zum Teil ab und setzte Kindergeld für einzelne [X.]räume in gesetzlicher Höhe fest. Durch Einspruchsentscheidung vom selben Tage wies es den Rechtsbehelf, der sich nunmehr gegen die Versagung von Kindergeld für die übrigen [X.]räume richtete, zurück.

3

Mit der anschließend erhobenen Klage begehrte der Kläger Kindergeld für beide Töchter für den [X.]raum März 2006 bis August 2006, darüber hinaus für [X.] von September 2007 bis Mai 2010 und für A von September 2007 bis Dezember 2008. Für einzelne Monate begehrte er Kindergeld nicht in gesetzlicher Höhe, sondern Teilkindergeld.

4

Das Finanzgericht ([X.]) wies die Klage ab. Es war der Ansicht, ein Anspruch auf Kindergeld sei aufgrund des Vorrangs der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern ([X.] 1408/71) ausgeschlossen. Hinsichtlich der in [X.] ausgeübten gewerblichen Tätigkeit gelte der Kläger nicht als Selbständiger, da er nicht in [X.] im Hinblick auf seine gewerbliche Tätigkeit versichert sei und auch nicht versicherungspflichtig gewesen sei. Er unterliege daher den [X.] Rechtsvorschriften. Auch hinsichtlich der Monate, für welche der Kläger das Kindergeld in voller Höhe beanspruche, sei die Klage unbegründet, weil [X.] der nicht zuständige Mitgliedstaat sei und der Kläger dadurch, dass er nach [X.] gezogen und von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, keinen Nachteil erlitten habe. Er habe wegen des Überschreitens der Einkommensgrenze keinen Anspruch auf Familienleistungen nach [X.] Recht. Auch habe der Kläger nicht nachgewiesen, dass seine Ehefrau in [X.] lebe; eine Gewerbeanmeldung vom Februar 2009 sei als Nachweis nicht ausreichend.

5

Zur [X.]egründung der Revision trägt der Kläger vor, das [X.] sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die [X.] 1408/71 eine Anwendung der §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) ausschließe.

6

Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 5. August 2008 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 5. Mai 2010 sowie der Einspruchsentscheidung vom 5. Mai 2010 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, für das Kind [X.] Kindergeld für die [X.]räume März 2006 bis August 2006 sowie September 2007 bis August 2008 in Höhe der Differenz zu den [X.] Familienleistungen und für die [X.] von September 2008 bis April 2010 in gesetzlicher Höhe festzusetzen, für das Kind A Kindergeld für die [X.] von März 2006 bis August 2006 in Höhe der Differenz zu den [X.] Familienleistungen sowie für die [X.] von September 2007 bis Dezember 2008 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.

7

Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen.

8

Sie trägt vor, entgegen der Rechtsauffassung des [X.] scheide ein Anspruch auf [X.] Kindergeld nicht bereits deshalb aus, weil der Kläger aufgrund der [X.] 1408/71 den [X.] Rechtsvorschriften unterliege. Insoweit teile sie die Auffassung des [X.]. Die Streitsache sei jedoch nicht spruchreif, weil das [X.] aufgrund seiner Rechtsansicht keine tatsächlichen Feststellungen getroffen habe.

9

Die [X.]eteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O-- [X.]. § 121 [X.]O).

Entscheidungsgründe

II. A. Bereits während des Klageverfahrens vor dem [X.] hat mit Wirkung zum 1. Mai 2013 aufgrund eines Organisationsaktes ein gesetzlicher Parteiwechsel stattgefunden. In die Beteiligtenstellung der Familienkasse bei der [X.] ist die [X.] eingetreten (vgl. Beschluss des [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2).

B. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O). Das [X.] war zu Unrecht der Ansicht, ein Anspruch auf Kindergeld nach [X.] Recht sei ausgeschlossen, weil [X.] vorrangig zur Gewährung von Familienleistungen zuständig sei.

1. Da es sich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt mit Bezug zum [X.] handelt, richtet sich die Gewährung von Kindergeld für die in [X.] lebenden Kinder des [X.] in den streitigen Zeiträumen nicht nur nach §§ 62 ff. EStG, sondern auch nach der [X.] 1408/71. Der persönliche Anwendungsbereich dieser Verordnung ist eröffnet, denn der Kläger war nach den Feststellungen des [X.] in der [X.] Sozialversicherung für Landwirte versichert (Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 55/08, [X.], 316, [X.], 619). Sollte [X.] für einzelne Zeiträume der für die Erbringung von Familienleistungen zuständige Staat sein, so folgt daraus nicht, dass [X.] aus diesem Grund gehindert wäre, die Differenz zu etwaigen [X.] Familienleistungen zu zahlen. Denn die Zuständigkeitsregelungen der Art. 13 ff. [X.] 1408/71 entfalten keine Sperrwirkung gegenüber der Anwendung des nationalen Rechts (s. im Einzelnen z.B. Senatsurteile vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, [X.], 1040; vom 14. November 2013 III R 12/11, [X.], 506, und vom 13. November 2014 III R 18/14, [X.], 331). Auch verstößt § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der regelt, dass ein Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG ausgeschlossen ist, sofern im Ausland ein Anspruch auf vergleichbare Leistungen besteht, gegen die [X.] nach Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.], soweit die Vorschrift die Gewährung von [X.] verbietet (Urteil des Gerichtshofs der [X.] Hudzinski/ [X.] vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.]/10, [X.]:[X.], [X.] 2012, 999). Dies gilt entsprechend für Selbständige (Senatsurteil vom 16. Juli 2015 III R 39/13, [X.], 154).

2. Das angefochtene Urteil, das diesen Rechtsgrundsätzen widerspricht, ist aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das [X.] hat --von seinem rechtlichen Standpunkt aus [X.] keine Feststellungen getroffen, die eine abschließende Entscheidung darüber erlauben, ob und in welcher Höhe dem Kläger Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG für seine Töchter in den einzelnen Zeiträumen zusteht. Es wird dies nachzuholen haben.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 16/14

04.02.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 3. Juni 2013, Az: 2 K 1727/10, Urteil

EWGV 1408/71, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, EStG VZ 2006, EStG VZ 2007, EStG VZ 2008

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 04.02.2016, Az. III R 16/14 (REWIS RS 2016, 16660)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 16660

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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