Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 02.03.2022, Az. 2 AZN 629/21

2. Senat | REWIS RS 2022, 927

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Gegenstand

Öffentlichkeitsgrundsatz - Einschränkung zur Pandemiebekämpfung - Verzichtsmöglichkeit


Leitsatz

Auf die Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden.

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Beklagten zu 1. und der Beklagten zu 2. wird das Urteil des [X.] vom 31. Mai 2021 - 4 [X.]/20 - aufgehoben.

2. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

3. Der Wert des [X.] wird auf 323.266,44 Euro festgesetzt.

Gründe

1

Die zulässige [X.]eschwerde ist begründet. Die [X.] haben die Voraussetzungen des [X.] aus § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 547 Nr. 5 ZPO dargelegt. Das Urteil des [X.] ist aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind.

2

I. Es liegt der absolute Revisionsgrund des § 547 Nr. 5 ZPO vor.

3

1. Gemäß § 52 Satz 1 iVm. § 64 Abs. 7 ArbGG ist die Verhandlung vor dem [X.] öffentlich.

4

2. Der Grundsatz der Öffentlichkeit, der zu den Prinzipien [X.] Rechtspflege gehört und auch in § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG niedergelegt ist, verlangt, dass jedermann nach Maßgabe des tatsächlich verfügbaren Raums Zutritt zur Verhandlung ermöglicht wird (vgl. [X.] 22. September 2016 - 6 [X.] - Rn. 5; 19. Februar 2008 - 9 [X.]/07 - Rn. 8; [X.] 12. Juni 2009 - II [X.] 26/09 - Rn. 16; [X.] 23. März 2006 - 1 [X.] - Rn. 11; [X.]/[X.] ZPO 34. Aufl. § 169 GVG Rn. 2). Die [X.]eachtung des Grundsatzes findet ihre Grenze in der tatsächlichen Unmöglichkeit, ihr zu entsprechen (vgl. [X.] 10. Juni 1966 - 4 [X.] - [X.]St 21, 72; RG 5. Februar 1918 - [X.]/18 - [X.], 137). Er ist nicht verletzt, wenn aus zwingenden Gründen [X.]eschränkungen bestehen oder angeordnet werden müssen. Hierzu gehören insbesondere gegebene Raumbeschränkungen. Es besteht kein Anspruch der Öffentlichkeit auf so viele Plätze, wie Interessenten kommen ([X.]/[X.] ZPO 34. Aufl. § 169 GVG Rn. 6). Zulässig ist auch eine Reduzierung der Zuhörerzahl in einem Saal, um [X.] im Zuge einer Pandemiebekämpfung einhalten zu können (vgl. [X.] [X.], 509, 511). Die Verhandlung ist aber nur dann öffentlich, wenn beliebige Zuhörer, sei es auch nur in sehr begrenzter Zahl, die Möglichkeit des Zutritts haben ([X.] 10. November 1953 - 5 [X.] - zu III 2 b der Gründe, [X.]St 5, 75). Erforderlich ist, dass Zuhörer in einer Anzahl Einlass finden, in der sie noch als Repräsentanten einer keiner besonderen Auswahl unterliegenden Öffentlichkeit angesehen werden können. Ein einziger Platz für Zuhörer wäre zu wenig, weil dies zu einem faktischen Ausschluss der Öffentlichkeit führte (vgl. [X.]ayObLG 30. November 1981 - 1 Ob [X.] - zu 2 der Gründe; [X.] 8. September 1983 - 3 [X.] (185) -; Anders/[X.]/[X.] ZPO 80. Aufl. § 169 GVG Rn. 6; [X.]/Schütze/Schreiber 4. Aufl. § 169 GVG Rn. 15).

5

3. Nach diesem Maßstab ist das [X.]erufungsurteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt wurden. Es hatten keine beliebigen Zuhörer - auch nicht in sehr begrenzter Zahl - Zutritt zu der Verhandlung. Im [X.] war nicht einmal für einen Zuhörer Platz.

6

a) Ausweislich des [X.]eschlusses des [X.] vom 30. November 2021, mit dem der [X.] der [X.] zu 1. und der [X.] zu 2. beschieden wurde, war im Sitzungssaal im Hinblick auf die [X.] aufgrund der zur Verfügung stehenden Fläche nach den Vorgaben der Gerichtsverwaltung, die mit der Gesundheitsbehörde abgesprochen worden waren, die Anzahl der anwesenden Personen auf drei [X.] und sieben weitere Personen begrenzt.

7

b) Diese zur Verfügung stehenden Plätze sind vollständig von den Verfahrensbeteiligten genutzt worden und standen für weitere Zuhörer nicht mehr zur Verfügung. Nach dem Protokoll der Sitzung vom 31. Mai 2021, auf die das [X.]erufungsurteil ergangen ist, waren der Vorsitzende [X.], zwei ehrenamtliche [X.], die Klägerin mit ihrem Rechtsanwalt, die beiden Rechtsanwälte der beiden [X.], der Geschäftsführer der [X.] zu 2. sowie der dem Rechtsstreit auf Seiten der Klägerin beigetretene Streitverkündete mit seinem Rechtsanwalt anwesend.

8

c) Der Feststellung des gerügten absoluten [X.] steht das Protokoll des [X.] vom 31. Mai 2021, das mit „Öffentliche Sitzung“ überschrieben ist, nicht entgegen. Auf den [X.] der [X.]eschwerdeführerinnen ist der [X.]eschluss des [X.] vom 30. November 2021 ergangen. In diesem sind die Tatsachen festgestellt, aus denen sich nunmehr ungeachtet der Überschrift des Protokolls die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ergibt (vgl. [X.] 22. September 2016 - 6 [X.] - Rn. 1 6 ).

9

II. Der [X.]eschwerdeführerinnen haben nicht auf die Rüge des absoluten [X.] des § 547 Nr. 5 ZPO verzichtet, weil sie die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht bereits in der mündlichen Verhandlung vom 31. Mai 2021 gerügt, sondern sich auf die mündliche Verhandlung eingelassen und [X.] gestellt haben.

1. Ausgehend vom Zweck des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann auf dessen Einhaltung im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden, § 295 Abs. 2 ZPO ([X.] 22. September 2016 - 6 [X.] - Rn. 18; vgl. für das zivilgerichtliche Verfahren: [X.] 24. November 1993 - [X.] - zu II 3 der Gründe, [X.]Z 124, 204; [X.]/[X.] GVG 10. Aufl. § 169 Rn. 58; MüKoZPO/[X.] 6. Aufl. § 169 GVG Rn. 21 ff.; [X.]/[X.] ZPO 34. Aufl. § 169 GVG Rn. 15; Anders/[X.]/[X.] ZPO 80. Aufl. § 295 Rn. 38; MüKoZPO/[X.]. § 295 Rn. 16; [X.] ZPO 23. Aufl. § 169 GVG Rn. 12; [X.]/Schütze/[X.] 4. Aufl. § 295 ZPO Rn. 25; für eine zu Unrecht erfolgte Zulassung der Öffentlichkeit in einem Verfahren nach dem FamFG vgl. [X.] 23. März 2021 - [X.] Z[X.] 29/19 - Rn. 11; offengelassen von [X.] 24. November 2020 - [X.] 355/19 - Rn. 14; [X.]/[X.]/[X.] ZPO 18. Aufl. § 295 Rn. 4; [X.]/[X.] ZPO § 295 Rn. 5). Der Grundsatz der öffentlichen mündlichen Verhandlung und [X.]eweisaufnahme soll eine der öffentlichen Kontrolle entzogene Geheimjustiz verhindern. Vor allem dient die Gerichtsöffentlichkeit jedoch der Kontrolle der Justiz durch die Möglichkeit der Allgemeinheit, die Verhandlung zu beobachten. Sachfremde, „das Licht der Öffentlichkeit scheuende“ Umstände sollen keinen Einfluss auf das Gericht und dessen Urteil gewinnen können. Die sachfremde [X.]eeinflussung des Gerichts soll verhindert werden. Letztlich dient das Gebot der Öffentlichkeit durch seine Kontrollfunktion damit auch der [X.] ([X.] 15. Januar 2015 - 2 [X.]vR 878/14 - Rn. 22 ff.; 19. März 2013 - 2 [X.] ua. - Rn. 88 f., [X.]E 133, 168; [X.] 22. September 2016 - 6 [X.] - Rn. 10) und steht nicht im [X.]elieben der Parteien.

2. Soweit der [X.] für das finanzgerichtliche Verfahren (seit [X.] 24. August 1990 - [X.] - [X.]E 161, 427; zuletzt 25. November 2019 - IX [X.] 71/19 - Rn. 4), das [X.] für das sozialgerichtliche Verfahren (vgl. [X.]SG 17. Oktober 2018 - [X.] 9 V 20/18 [X.] - Rn. 14; 28. März 2000 - [X.] 8 KN 7/99 R - zu (1) der Gründe) und das [X.]undesverwaltungsgericht für das verwaltungsgerichtliche Verfahren (vgl. [X.]VerwG 30. November 2004 - 10 [X.] 64/04 -; 4. November 1977 - IV C 71.77 -) eine abweichende Auffassung vertreten, bezieht sich dies auf die dortigen Verfahrensordnungen, insbesondere auf ein dort abgeschwächtes Prinzip der Öffentlichkeit (vgl. [X.] 22. September 2016 - 6 [X.] - Rn. 18).

3. Aus der Möglichkeit, auf die Parteiöffentlichkeit bei der Inaugenscheinnahme ([X.] 22. März 2012 - I [X.] - Rn. 10) sowie gemäß § 128 Abs. 2 ZPO auf die mündliche Verhandlung zu verzichten, folgt nichts anderes. Die Durchführung des schriftlichen Verfahrens führt zwar als Rechtsreflex dazu, dass die Öffentlichkeit nicht teilnimmt ([X.] ZPO 23. Aufl. § 169 GVG Rn. 12; allgemein zum Verhältnis der Möglichkeit des Verzichts auf die mündliche Verhandlung zur Garantie der Öffentlichkeit [X.]/Kern ZPO § 128 Rn. 6 ff.). Das gilt aber nur dann, wenn ein schriftliches Verfahren tatsächlich angeordnet ist. Wird dagegen wie vorliegend mündlich verhandelt, hat die Öffentlichkeit Anspruch auf Zugang zu diesem Verfahren. In dieser Situation ist der Grundsatz der Öffentlichkeit der Parteidisposition entzogen.

III. Dem Erfolg der [X.]eschwerde steht nicht entgegen, dass sie die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht aufgezeigt hat und die Tatsachenwürdigung des [X.] in einem zugelassenen Revisionsverfahren nur beschränkt überprüfbar wäre. Das Gesetz stellt mit der Einordnung einer Verletzung der Vorschrift über die Öffentlichkeit als absoluten Revisionsgrund eine unwiderlegbare Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung auf (vgl. [X.] 22. September 2016 - 6 [X.] - Rn. 20; MüKoZPO/[X.] 6. Aufl. § 169 GVG Rn. 81; [X.]/[X.] ZPO 34. Aufl. § 547 Rn. 1).

IV. Angesichts des Vorliegens eines absoluten [X.] bedurfte es keiner [X.]efassung mit den von den [X.] außerdem geltend gemachten Verstößen gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör durch das [X.].

V. Zur [X.]eschleunigung des Verfahrens hat der Senat den Rechtsstreit analog § 72a Abs. 7 ArbGG (vgl. [X.] 5. Juni 2014 - 6 [X.] 267/14 - Rn. 35 ff., [X.]E 148, 206) an das [X.]erufungsgericht zurückverwiesen. Einer Zurückverweisung an eine andere Kammer des [X.] wegen einer von den [X.] behaupteten Voreingenommenheit der [X.] bedurfte es nicht. Die [X.]ewertung auf Seite 57 des [X.]erufungsurteils, dass „der Sachvortrag der [X.] in hohem Maße widersprüchlich“ sei, veranlasst nicht die Annahme der Voreingenommenheit. Soweit die [X.] meinen, das [X.] werfe ihnen auf Seite 40 des Tatbestands des [X.]erufungsurteils Polemik vor, verkennen sie, dass es sich hierbei um eine Wiedergabe des Vortrags der Klägerin handelt.

        

    Koch    

        

    Rachor    

        

    Schlünder    

        

        

        

    Grimberg    

        

    Wolf    

                 

Meta

2 AZN 629/21

02.03.2022

Bundesarbeitsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AZN

vorgehend ArbG Hamburg, 5. August 2020, Az: 13 Ca 163/19, Urteil

§ 547 Nr 5 ZPO, § 295 Abs 2 ZPO, § 52 S 1 ArbGG, § 64 Abs 7 ArbGG, § 169 Abs 1 S 1 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 02.03.2022, Az. 2 AZN 629/21 (REWIS RS 2022, 927)

Papier­fundstellen: MDR 2022, 648-649 REWIS RS 2022, 927 NJW 2022, 2949 REWIS RS 2022, 927

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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9 B 14/23

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