Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.12.2015, Az. 1 StR 503/15

1. Strafsenat | REWIS RS 2015, 524

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Gegenstand

Strafverfahren wegen Vergewaltigung: Beweiswürdigung bei einer Lüge des Angeklagten


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 18. Mai 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

2

Die Beweiswürdigung des [X.]s hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

3

1. Wenn Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Das gilt besonders, wenn sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils des Belastungszeugen herausstellt (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Februar 2014 – 1 StR 700/13). Erforderlich ist hierbei zudem in besonderem Maße eine Gesamtwürdigung aller Indizien (vgl. [X.], Beschluss vom 18. Juni 1997 – 2 [X.], [X.], 16).

4

2. Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung der [X.] nicht.

5

a) Vorliegend handelt es sich um einen Fall, in dem zu der entscheidenden Frage, ob der Geschlechtsverkehr mit der Zeugin S.          einvernehmlich erfolgte (wie der Angeklagte behauptet) oder mit Gewalt vom Angeklagten erzwungen wurde (wie die Zeugin behauptet), letztlich Aussage gegen Aussage steht (vgl. auch [X.], Beschluss vom 6. Februar 2014 – 1 StR 700/13). Die Zeugin hat gegenüber der Polizei mehrfach nachweislich die Unwahrheit gesagt und den Angeklagten dort etwa zu Unrecht beschuldigt, er habe sie durch Vorhalt eines Messers genötigt, mit ihm mehrere Kilometer weit in seine Unterkunft zu gehen (tatsächlich wurden beide einvernehmlich von einer Autofahrerin mitgenommen und tauschten später im Beisein eines Zeugen Zärtlichkeiten aus). Als Grund für diese Falschbelastung hat die geistig leicht behinderte Zeugin angegeben, sie habe dies gesagt, weil ihr wegen ihrer Behinderung sonst keiner glaube. Die aussagepsychologische Sachverständige hat eine Erlebnisfundiertheit der Angaben der Zeugin nicht bestätigen können, weil deren Aussage die Mindestanforderungen an eine aussageübergreifende [X.] nicht erfüllten.

6

b) Es fehlt die bei dieser Lage notwendige besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte. Die [X.] hat jeweils isoliert einzelne Umstände erörtert, die aus ihrer Sicht für die Beweiswürdigung eine Rolle spielen. Für jede widerlegte oder widersprüchliche Angabe der Zeugin (etwa: „Entführung“ durch Vorhalt eines Messers, angebliche Nötigung zur Alkoholaufnahme, einzelne Umstände des [X.] wie Anzahl und Positionen beim Geschlechtsverkehr, Ablage des Zimmerschlüssels in einem Nachtkästchen) hat das Gericht isoliert eine Erklärung gesucht, ohne die verschiedenen Mängel der Aussage in eine umfassende Gesamtwürdigung mit den weiteren be- und entlastenden Beweisanzeichen einzustellen.

7

Dass die Beweisergebnisse nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden, wird auch bei der Darstellung der Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchung der Zeugin kurz nach dem Vorfall deutlich. [X.] bleibt dabei etwa, ob die am ehesten durch Entlangschürfen eines festen Gegenstandes (Reißverschluss oder Knopf) erklärbaren Kratzer an den Beinen der Zeugin nicht nur mit einem Entkleiden ([X.]), sondern auch (oder sogar eher) mit dem von der Zeugin berichteten hastigen Ankleiden einer auf links gedrehten Hose erklärbar sind. Das Gericht legt auch nicht dar, wie es vor dem Hintergrund der übrigen Beweisergebnisse den Umstand würdigt, dass sich die Zeugin kurze [X.] nach der Untersuchung durch die rechtsmedizinische Sachverständige wahrscheinlich selbst eine erhebliche Verletzung des Hymens zugefügt hat, die nach sachverständiger Einschätzung nur schwerlich mit einem intensiven Waschversuch erklärbar ist (UA S. 45).

8

c) Soweit das [X.] unter diejenigen Erwägungen, die nach seiner Ansicht die Aussage der Zeugin bestätigen, auch fasst, dass die Angaben des Angeklagten in den maßgeblichen Punkten widerlegt worden sind (vgl. [X.]), gilt, dass die bloße Widerlegung von Angaben des Angeklagten grundsätzlich kein Schuldindiz ist, weil auch ein Unschuldiger Zuflucht zur Lüge nehmen kann (vgl. [X.], Urteil vom 21. Januar 1998 – 5 [X.], [X.], 303 mwN). [X.] der Tatrichter eine erlogene Entlastungsbehauptung als zusätzliches Belastungsanzeichen werten, so muss er sich bewusst sein, dass eine wissentlich falsche Einlassung hierzu ihren Grund nicht darin haben muss, dass der Angeklagte die Tat begangen hat (vgl. [X.], Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 [X.], [X.], 392, 394 f.).

9

3. Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler. Der [X.] kann trotz der von der [X.] zutreffend als die Aussage der Zeugin stützend gewerteten Beweisergebnisse (anhaltende Nein-Rufe, Hautdefekte und -verfärbungen, [X.] ff.; [X.]) nicht ausschließen, dass das [X.] bei Vornahme der gebotenen Gesamtwürdigung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Die Sache bedarf deshalb neuer tatrichterlicher Prüfung.

Raum                              Jäger                          Radtke

                Mosbacher                         Bär

Meta

1 StR 503/15

16.12.2015

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München II, 18. Mai 2015, Az: 1 KLs 51 Js 38711/14

§ 261 StPO, § 267 StPO, § 177 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.12.2015, Az. 1 StR 503/15 (REWIS RS 2015, 524)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 524

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Referenzen
Wird zitiert von

4 StR 318/22

2 StR 308/15

2 StR 308/15

1 StR 503/15

1 StR 401/21

5 StR 511/21

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