Bundesfinanzhof, EuGH-Vorlage vom 21.10.2010, Az. III R 35/10

3. Senat | REWIS RS 2010, 2150

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

EuGH-Vorlage zur Kindergeldberechtigung von polnischen Staatsangehörigen, die als Saisonarbeitnehmer vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sind


Leitsatz

Dem EuGH wird folgende Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er dem danach nicht zuständigen Mitgliedstaat jedenfalls dann die Befugnis nimmt, nach seinem nationalen Recht dem nur vorübergehend in seinem Gebiet beschäftigten Arbeitnehmer Familienleistungen zu gewähren, wenn weder der Arbeitnehmer selbst noch seine Kinder in dem nicht zuständigen Staat wohnen oder sich dort gewöhnlich aufhalten ?

Tatbestand

1

I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) für seine beiden 1993 bzw. 2006 geborenen Kinder in der [X.] von August bis Dezember 2007 (Streitzeitraum) einen Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) hat.

2

Der Kläger, ein [X.] Staatsangehöriger, ist in [X.] als selbständiger Landwirt tätig und sozialversichert. Vom 20. August 2007 bis zum 7. Dezember 2007 arbeitete er als [X.] bei einem Gartenbauunternehmen in der [X.] ([X.]). Für das [X.] wurde der Kläger auf seinen Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG in der [X.] als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.

3

Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag des [X.] ab, ihm für den Streitzeitraum für seine beiden Kinder Kindergeld in Höhe von monatlich jeweils 154 € nach den §§ 62 ff. EStG zu gewähren. Einspruch und Klage des [X.] hatten keinen Erfolg (Urteil des Finanzgerichts --[X.]-- vom 22. April 2010  16 K 3244/08 Kg, juris).

4

Mit seiner gegen das Urteil des [X.] gerichteten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist insbesondere der Ansicht, aus dem Urteil des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) vom 20. Mai 2008 [X.]/06, [X.] (Slg. 2008, [X.]) ergebe sich, dass der nach den Art. 13 ff. der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (Amtsblatt der Europäischen [X.]en --ABl[X.]-- 1997, Nr. L 28, [X.]) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung ([X.]) Nr. 647/2005 des [X.] und des Rates vom 13. April 2005 (Amtsblatt der [X.] --ABlEU-- 2005, Nr. L 117, [X.]) --VO Nr. 1408/71-- nicht zuständige Mitgliedstaat gleichwohl Familienleistungen zu gewähren habe, wenn die entsprechenden Voraussetzungen des nationalen Rechts gegeben seien.

Entscheidungsgründe

5

II. Der Senat setzt das Revisionsverfahren gemäß § 121 Satz 1, § 74 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) aus und legt dem [X.] gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] ([X.]) die im Leitsatz bezeichnete Frage zur Vorabentscheidung vor.

6

1. Nach Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 unterliegt der Kläger auch während des [X.] den [X.] Rechtsvorschriften. Nach dieser Vorschrift unterliegt eine Person, die eine selbständige Tätigkeit gewöhnlich in einem Mitgliedstaat ausübt und die eine Arbeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausführt, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet.

7

Diese Voraussetzungen liegen nach den den Senat bindenden Feststellungen des [X.] (§ 118 [X.]O) hier vor. Der Kläger übt seine selbständige Tätigkeit als Landwirt gewöhnlich in [X.] aus und war nur für einen vorübergehenden [X.]raum von deutlich weniger als zwölf Monaten in der [X.] als Erntehelfer beschäftigt. Damit unterlag er auch während dieser Tätigkeit in der [X.] weiterhin den [X.] Rechtsvorschriften.

8

2. Wie sich aus dem Vorlagebeschluss des Senats vom 21. Oktober 2010 [X.]/09 ergibt, ist der vorlegende Senat der Ansicht, dass auch nach dem [X.]-Urteil [X.] in [X.]. 2008, [X.] der nach den Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 nicht zuständige Mitgliedstaat keine Befugnis hat, nach seinem nationalen Recht einer Person Familienleistungen zu gewähren, es sei denn, dass diese Person andernfalls infolge der Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit einen Rechtsnachteil erleiden würde.

9

Der Kläger des vorliegenden Verfahrens hat durch die vorübergehende Beschäftigung in der [X.] keinen Rechtsnachteil erlitten. Denn nach Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 blieben auch während dieser [X.] weiterhin die [X.] Rechtsvorschriften auf ihn anwendbar; es kam zu keinem Wechsel des [X.], der einen Rechtsnachteil hätte mit sich bringen können. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall nicht von dem, der dem Vorlagebeschluss des Senats in dem Verfahren [X.]/09 zugrunde liegt, in dem es um einen i.S. des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 in die [X.] entsandten [X.] Arbeitnehmer ging. Nach Ansicht des vorlegenden Senats ist es insoweit unerheblich, dass der Kläger im Verfahren [X.]/09 als [X.] Arbeitnehmer i.S. des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 in einem ausländischen ([X.]) Beschäftigungsverhältnis stand, der Kläger des vorliegenden Verfahrens hingegen in einem inländischen ([X.]) Beschäftigungsverhältnis. Denn der maßgebliche Grund dafür, dass diese Personen nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a bzw. nach Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der [X.] 1408/71 auch während ihrer tatsächlichen Tätigkeit in der [X.] weiterhin den [X.] Rechtsvorschriften unterlagen, besteht darin, dass beide Kläger für ihre nur vorübergehenden Tätigkeiten in der [X.] ihr ([X.]) [X.] nicht sollten wechseln müssen.

3. Sollte dem nach den Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 nicht zuständigen Mitgliedstaat allerdings unabhängig davon, ob die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zu einem Rechtsnachteil führt, die Befugnis zustehen, Familienleistungen nach seinem Recht zu gewähren, stellt sich für den vorlegenden Senat die Frage, ob eine solche Befugnis auch dann bestehen soll, wenn, wie im vorliegenden Fall, weder der betroffene Arbeitnehmer selbst noch seine Kinder im Gebiet des nicht [X.]es wohnen oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und sich ein Anspruch auf Familienleistungen nach dem nationalen Recht nur deshalb ergeben kann, weil dieses --wie § 62 Abs. 1 [X.]-- einen solchen Anspruch auch für eine Person vorsieht, die --wie der Kläger im [X.] nach § 1 Abs. 3 [X.] auf ihren Antrag hin als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.

a) In seinem Urteil [X.] in [X.]. 2008, [X.] kam der [X.] zu dem Ergebnis, dass dem (nicht zuständigen) [X.] nicht die Befugnis abgesprochen werden könne, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren; nach dem (auf Frau [X.] anzuwendenden) Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der [X.] 1408/71 unterliege eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt sei, zwar den Rechtsvorschriften dieses Staates, auch wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohne, doch solle der [X.] mit dieser Verordnung nicht daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren ([X.]-Urteil [X.] in [X.]. 2008, [X.] Rz 31).

b) Nach der [X.] 1408/71 und der Verordnung ([X.]) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl[X.] 1997, Nr. L 28, [X.]) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung ([X.]) Nr. 647/2005 des [X.] und des Rates vom 13. April 2005 ([X.] 2005, Nr. L 117, [X.]) --[X.] 574/72-- wird neben dem Anspruch auf Familienleistungen in dem nach den Art. 13 ff. der [X.] 1408/71 [X.] nur der Anspruch auf Familienleistungen im [X.] der Familienangehörigen (hier: der Kinder) berücksichtigt; nur für eine Kumulierung derartiger Ansprüche sind in Art. 76 der [X.] 1408/71 und in Art. 10 der [X.] 574/72 [X.] vorgesehen.

c) Im Fall [X.] befand sich nicht nur der Wohnsitz von Frau [X.], sondern auch der ihrer Kinder in der [X.]. Der Anspruch im [X.] der Kinder, dessen Berücksichtigung Art. 76 der [X.] 1408/71 bzw. Art. 10 der [X.] 574/72 grundsätzlich neben dem Anspruch im [X.] zulassen, scheiterte im Fall von Frau [X.] am Fehlen einer Anspruchskumulierung, da im (abweichenden) Beschäftigungsmitgliedstaat ([X.]) gerade kein Anspruch bestand. Der in der [X.] bestehende Anspruch war jedoch ein nach der [X.] 1408/71 und der [X.] 574/72 grundsätzlich zu berücksichtigender Anspruch.

Anders stellt sich die Situation im Fall des [X.] dar. Weder er noch seine Kinder hatten im Streitzeitraum in der [X.] einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Da die Kinder in [X.] lebten, konnte sich ein etwa für sie aufgrund ihres Wohnsitzes zu berücksichtigender Anspruch nur aus [X.] Recht ergeben. Die im Rahmen der [X.] 1408/71 bzw. der [X.] 574/72 grundsätzlich zu berücksichtigenden konkurrierenden Ansprüche nach dem Recht des [X.]es einerseits und nach dem Recht des [X.]s der Kinder andererseits richten sich im Fall des [X.] --anders als in dem Fall von Frau [X.]-- also ausschließlich nach [X.] Recht.

Ob der nicht zuständige Staat auch in einem solchen Fall die Befugnis haben soll, Familienleistungen nach seinem nationalen Recht zu gewähren, hält der vorlegende Senat für zweifelhaft. Es käme zu einer Anspruchskumulierung, die nach der [X.] 1408/71 gerade vermieden werden soll und für die auch keine Antikumulierungsvorschriften vorgesehen sind. Für diese Kumulierung besteht auch gemeinschafts- bzw. unionsrechtlich keine Notwendigkeit, denn der Arbeitnehmer, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, erleidet dadurch in einem Fall wie dem des [X.] keinen Nachteil, der ihn von der Ausübung seines Rechts abhalten könnte. Denn er unterfällt weiterhin den schon bisher auf ihn anwendbaren Rechtsvorschriften.

4. Sind [X.] Vorschriften auf eine Person in der Situation des [X.] nicht anwendbar, ist die Revision des [X.] unbegründet. Steht der [X.] hingegen die Befugnis zu, auch einer Person in der Situation des [X.] Kindergeld nach den §§ 62 ff. [X.] zu gewähren, muss das Urteil des [X.] aufgehoben und die Sache an das [X.] zurückverwiesen werden, weil das [X.] noch nicht alle erforderlichen Feststellungen getroffen hat, um entscheiden zu können, ob dem Kläger für seine Kinder im Streitzeitraum ein Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62 ff. [X.] zusteht.

Meta

III R 35/10

21.10.2010

Bundesfinanzhof 3. Senat

EuGH-Vorlage

vorgehend FG Düsseldorf, 22. April 2010, Az: 16 K 3244/08 Kg, Urteil

§§ 62ff EStG 2002, § 62 EStG 2002, Art 14a Abs 1 Buchst a EWGV 1408/71, Art 76 EWGV 1408/71, Art 10 EWGV 574/72

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, EuGH-Vorlage vom 21.10.2010, Az. III R 35/10 (REWIS RS 2010, 2150)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 2150

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 5/09 (Bundesfinanzhof)

EuGH-Vorlage zur Kindergeldberechtigung von polnischen Staatsangehörigen, die als entsandte Arbeitnehmer vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland …


III R 32/05 (Bundesfinanzhof)

EuGH-Vorlage zum Anspruch auf Differenzkindergeld für Grenzgänger


III R 17/11 (Bundesfinanzhof)

Kindergeldanspruch einer polnischen Erntehelferin


III R 8/11 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld für einen polnischen Saisonarbeitnehmer


III R 61/11 (Bundesfinanzhof)

Kindergeldanspruch einer in Deutschland wohnenden und in Polen beschäftigten Arbeitnehmerin für in Polen lebende Kinder


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.