Bundesgerichtshof, Urteil vom 08.03.2022, Az. VI ZR 1308/20

6. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 831

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Gegenstand

Haftungsverteilung bei Kfz-Unfall: Gefährdung "anderer Verkehrsteilnehmer" bei Fahrstreifenwechsel


Leitsatz

Im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ist "anderer Verkehrsteilnehmer" nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 22. Zivilkammer des [X.] vom 2. November 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

2

Die Klägerin ist Halterin eines Transporters [X.], der am 25. September 2018 in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite der in Fahrtrichtung zweispurigen [X.] in [X.] abgestellt war. Die Beklagte zu 1 hatte mit ihrem bei der [X.] zu 2 haftpflichtversicherten Pkw einen Wechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen zu mehr als der Hälfte vollzogen, als sie mit dem ausparkenden Fahrzeug der Klägerin zusammenstieß. Das Klägerfahrzeug ragte zum Zeitpunkt der Kollision mit der linken Front in den rechten Fahrstreifen der [X.] hinein und bewegte sich nach vorne.

3

Das Amtsgericht hat der auf Zahlung der gesamten Reparaturkosten für das Klägerfahrzeug, von Gutachterkosten und einer Kostenpauschale gerichteten Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % teilweise stattgegeben. Auf die Berufung der [X.] hat das [X.] die Haftungsquote bestätigt, lediglich die zu erstattenden Reparaturkosten in geringem Umfang der Höhe nach ermäßigt und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die [X.] ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe

I.

4

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

5

Die Klägerin habe gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Schadensersatzanspruch gemäß § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.]. Es sei von einer hälftigen Schadensteilung auszugehen, da auf Seiten der Klägerin ein Verstoß gegen § 10 Satz 1 [X.] und auf Seiten der Beklagten ein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 [X.] bei gleichwertiger Betriebsgefahr vorliege.

6

Zwar spreche der Anschein dafür, dass der vom Straßenrand [X.] die besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 10 Satz 1 [X.] missachtet habe, wenn es in unmittelbarem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit dem Anfahren zu einer Kollision mit dem rückwärtigen fließenden Verkehr komme. Dieser Anscheinsbeweis gelte nach der bisher herrschenden Meinung auch gegenüber einem Fahrstreifenwechsler im fließenden Verkehr, da § 7 Abs. 5 [X.] nach dieser Ansicht allein den fließenden Verkehr schütze. [X.] es dem [X.]n nicht, diesen Anscheinsbeweis zu erschüttern, hafte er nach bislang herrschender Meinung allein für den Unfall. Die Betriebsgefahr des Unfallgegners aus dem fließenden Verkehr trete vollständig zurück, es sei denn, dieser sei erwiesenermaßen mit erhöhter Geschwindigkeit gefahren oder sonst unaufmerksam gewesen. An dieser Meinung sei nach der Entscheidung des [X.] (Senatsurteil vom 15. Mai 2018 - [X.], [X.], 957 Rn. 12), nach der der "andere Verkehrsteilnehmer" im Sinne von § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] nicht nur ein Teilnehmer aus dem fließenden Verkehr, sondern jede Person sei, die sich selbst verkehrserheblich verhalte, also körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirke, nicht mehr festzuhalten. Diese Rechtsprechung sei auf den Begriff des "anderen Verkehrsteilnehmers" in § 7 Abs. 5 [X.] übertragbar. Der Führer des [X.] habe sich verkehrserheblich verhalten, indem er beabsichtigt habe, sein Fahrzeug vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einzureihen. Die Beklagte zu 1 habe § 7 Abs. 5 [X.] verletzt, da sie den Fahrstreifenwechsel nicht so vollzogen habe, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, auch des klägerischen Fahrzeugs, ausgeschlossen gewesen sei.

II.

7

Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat. Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen rechtfertigen seine Annahme, die Beklagte zu 1 habe den Unfall schuldhaft mitverursacht, nicht.

8

1. Grundsätzlich ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG - wie im Rahmen des § 254 BGB - Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurteile vom 15. Mai 2018 - [X.], [X.], 957 Rn. 10; vom 11. Oktober 2016 - [X.], [X.], 1175 Rn. 7; jeweils mwN). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurteile vom 15. Mai 2018 - [X.], [X.], 957 Rn. 10; vom 11. Oktober 2016 - [X.], [X.], 1175 Rn. 7; jeweils mwN). Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung nicht stand.

9

a) Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage der getroffenen und von der Revisionserwiderung nicht angegriffenen Feststellungen allerdings im Ergebnis zu Recht von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs gegen § 10 Satz 1 [X.] ausgegangen. Nach § 10 Satz 1 [X.] hat derjenige, der von einem anderen Straßenteil - hier aus einer Parkbucht - auf die Fahrbahn einfährt, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge haben gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand an- und in die Straße einfahrenden Verkehr Vorrang (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. Januar 2009 - 4 StR 396/08, juris; vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 8). Auf diesen Vorrang gegenüber dem einfahrenden Verkehr dürfen die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge vertrauen (vgl. Senatsurteil vom 20. September 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 157 Rn. 9; [X.], Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 8; [X.] in [X.]/[X.]/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 10 [X.] Rn. 10). Der Vorrang gilt grundsätzlich für die gesamte Fahrbahn. Der [X.] hat sich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber vorrangig Berechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht. Auch das Befahren des linken Fahrstreifens durch den am fließenden Verkehr teilnehmenden Fahrzeugführer beseitigt nicht die Verpflichtung des [X.], dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern (vgl. Senatsurteile vom 20. September 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 157 Rn. 8 mwN; vom 13. November 1990 - [X.], NJW-RR 1991, 536, juris Rn. 12 f.). Der [X.] kann nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibt. Vielmehr muss er stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen (KG, [X.], 632, 633, juris Rn. 12).

Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Führer des klägerischen Fahrzeugs im Begriff war, aus der Parkbucht am rechten Straßenrand auszufahren und sich das Fahrzeug in einer Vorwärtsbewegung befand, als es mit dem Beklagtenfahrzeug zusammenstieß. Der Führer des [X.] hätte, als sich das Beklagtenfahrzeug für ihn sichtbar näherte, aufgrund des Vorrangs des Beklagtenfahrzeugs nicht weiter in den rechten Fahrstreifen einfahren dürfen (vgl. Senatsurteil vom 25. Januar 1994 - [X.], NJW-RR 1994, 1303, juris Rn. 15 f.). Da bereits aufgrund der vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs gegen § 10 Satz 1 [X.] auszugehen ist (vgl. Senatsurteil vom 20. September 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 157 Rn. 9), kann dahinstehen, ob - wovon das Berufungsgericht ausgegangen ist - ein solcher auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises zu bejahen wäre.

b) Die Annahme des Berufungsgerichts, es liege eine schuldhafte Verletzung des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] durch die Beklagte zu 1 vor, ist jedoch rechtsfehlerhaft, da § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] nur dem Schutz des fließenden Verkehrs dient.

Nach § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Anderer Verkehrsteilnehmer" ist an sich grundsätzlich jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt (vgl. Senatsurteil vom 15. Mai 2018 - [X.], [X.], 957 Rn. 12 zu § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.]; [X.], Beschluss vom 25. November 1959 - 4 [X.], [X.]St 14, 24, 27 zu § 1 [X.]; [X.] in [X.]/[X.]/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 1 [X.] Rn. 17 mwN). Im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] ist "anderer Verkehrsteilnehmer" aber nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr [X.] (vgl. KG, [X.], 632, 633, juris Rn. 13; KG, [X.], 369, 370, juris Rn. 25; KG, [X.], 413, 414, juris Rn. 8; KG, NJW-RR 2011, 26, 27, juris Rn. 14; [X.], NJW-RR 1994, 1442, 1443, juris Rn. 5; [X.], Urteil vom 17. Dezember 2010 - 10 U 2926/10, juris Rn. 5; [X.], NJW-RR 2013, 737, juris Rn. 20; [X.], SVR 2021, 182, 183, juris Rn. 21 ff.; [X.], [X.], 139, 145; ders., [X.], 666, 667; [X.] in [X.]/[X.]/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 7 [X.] Rn. 17; [X.] in [X.] Straßenverkehrsrecht, [X.]. 15.01.2022, § 7 [X.] Rn. 51 f.; [X.] in Burmann/[X.]/[X.]/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl., § 7 [X.] Rn. 22; [X.] in [X.]/[X.], Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 [X.] Rn. 7b; Feskorn in [X.]/[X.], jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 [X.] Rn. 35; [X.] in [X.]/[X.]/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 7 [X.] Rn. 8; a.A. [X.], [X.], 666, juris Rn. 27). Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.], aber aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck.

Bereits die Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] spricht für eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] auf den fließenden Verkehr vor einer Gefährdung durch den Fahrstreifenwechsler (so auch [X.], [X.], 139, 145; ders., [X.], 666, 667). In der Begründung zu § 7 [X.] in der Fassung vom 16. November 1970 ([X.] 1970, 735, 805) heißt es, die Vorschrift betreffe lediglich den Fahrverkehr, wie sich aus ihrer Überschrift ergebe. Diese lautete "[X.]". In Satz 2 der Norm war das Gebot enthalten, dass ein Fahrstreifen nur gewechselt werden darf, wenn eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist. Wie das diesen Satz einleitende Wort "dann" zeigt, bezog sich das Gebot auf die in Satz 1 beschriebene Situation, wonach unter bestimmten Voraussetzungen rechts schneller als links gefahren werden darf. Daran knüpft die mit § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] im Wortlaut identische Regelung an, die mit der Verordnung über Maßnahmen im Straßenverkehr vom 27. November 1975 in § 7 Abs. 4 Satz 1 [X.] eingefügt wurde ([X.] 1975, 667). In der Begründung zu dieser Vorschrift heißt es, dass durch die Regelung klargestellt werden soll, dass denjenigen, der den Fahrstreifen wechseln wolle, ein Höchstmaß an Sorgfaltspflicht treffe und dies für alle Arten des [X.]s gelte ([X.] 1975, 667, 673). Vom Schutz des An- oder [X.] ist in der Begründung nicht die Rede.

Eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] auf Verkehrsteilnehmer des fließenden Verkehrs ergibt sich auch aus der systematischen Stellung des § 7 Abs. 5 [X.] nach den Absätzen 1 bis 4 des § 7 [X.] (so auch [X.], [X.], 404, 405, juris Rn. 12; Feskorn in [X.]/[X.], jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 [X.] Rn. 33) und dem Sinn und Zweck des § 7 [X.] als Ausnahmevorschrift zum Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 [X.]. § 7 Abs. 1 bis 4 [X.] enthalten Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung und damit Vorschriften für den gleichgerichteten fließenden Verkehr, so dass sich die Wörter "in allen Fällen" in § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] auf die in § 7 Abs. 1 bis 4 geregelten Situationen eines Fahrstreifenwechsels beziehen (so [X.], [X.], 139, 145; Feskorn in [X.]/[X.], jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 [X.] Rn. 32). Damit steht zwar zunächst nur fest, wer Adressat der Verhaltenspflicht des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] ist. Wie die Revision zu Recht anführt, ergibt sich aber aus dem Zusammenhang des § 7 [X.] mit dem Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 [X.] eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] auf den fließenden Verkehr (zu diesem Gedanken [X.], [X.], 667). § 7 [X.] enthält Ausnahmen vom Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 [X.], um den Mehrreihenverkehr von Fahrzeugen zu ermöglichen (so die Begründung zu § 7 [X.] in der Fassung vom 16. November 1970, [X.] 1970, 735, 805; vgl. zu § 7 Abs. 3 [X.] Senatsurteil vom 12. Dezember 2006 - [X.], NJW-RR 2007, 380 Rn. 6; [X.] in [X.]/[X.]/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 7 [X.] Rn. 1). Wenn das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 [X.] nur dem Schutz des fließenden Verkehrs dient, aber nach ständiger Rechtsprechung nicht der Verhinderung von Zusammenstößen mit einbiegendem Seitenverkehr oder mit Grundstücksausfahrern (vgl. hierzu Senatsurteile vom 20. September 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 157 Rn. 11 mwN; vom 11. Januar 1977 - [X.], [X.], 524, 526, juris Rn. 18; vom 15. November 1966 - [X.], [X.], 157, juris Rn. 11), muss dieser beschränkte Schutzzweck auch für die Ausnahmevorschrift des § 7 [X.] und damit auch für § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] gelten.

Müsste der Fahrstreifenwechsler gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, auch gegenüber [X.], dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen wie der [X.] wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber. Dies wäre schwerlich mit dem sich aus § 10 [X.] ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs (vgl. hierzu Senatsurteil vom 20. September 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 157 Rn. 8 f.; [X.], Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9 f.) vereinbar. Denn der Vorrang des fließenden Verkehrs wird gerade mit den besonders hohen Sorgfaltsanforderungen des [X.] begründet (vgl. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung vom 21. Juli 1980 - Begründung zu Nr. 1e, [X.] 1980, 511, 515; Neunte Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung vom 22. März 1988 - Begründung zu § 10, [X.] 1988, 210, 221; [X.], [X.], 667). Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu der dem Senatsurteil vom 15. Mai 2018 ([X.], [X.], 957) zugrundeliegenden Konstellation aus dem Anwendungsbereich der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.]. [X.] sich das Gebot der höchsten Sorgfalt dort an Verkehrsteilnehmer, die sich selbst nicht notwendig auf den Vorrang des fließenden Verkehrs berufen können, ist in der hier streitgegenständlichen Konstellation des § 7 Abs. 5 [X.] der Fahrstreifenwechsler stets selbst Teil des fließenden Verkehrs und insoweit gegenüber den sonstigen Verkehrsteilnehmern bevorrechtigt.

c) Nicht geprüft hat das Berufungsgericht - aus seiner Sicht konsequent -, ob die Beklagte zu 1 schuldhaft § 1 Abs. 2 [X.] verletzt hat. Trotz des grundsätzlichen Vorrangs des fließenden Verkehrs hat auch dieser auf den Ein- oder [X.]n im Rahmen des § 1 [X.] Rücksicht zu nehmen und eine mäßige Behinderung hinzunehmen (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9). Der sich im fließenden Verkehr bewegende Vorfahrtsberechtigte darf, sofern nicht Anzeichen für eine bestehende Verletzung seines Vorrangs sprechen, darauf vertrauen, dass der [X.] sein Vorrecht beachten wird (vgl. Senatsurteile vom 20. September 2011 - [X.], NJW-RR 2012, 157 Rn. 9; vom 25. März 2003 - [X.], [X.], 784, 785, juris Rn. 16 ff.; [X.] in [X.]/[X.]/Rebler, Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 10 [X.] Rn. 10). Diesen Vorrang gegenüber dem [X.] hat auch der den Fahrstreifen [X.]. Der fließende Verkehr darf seine ungehinderte Weiterfahrt aber nicht erzwingen (§ 11 Abs. 3 [X.]) und muss das Ein- oder Anfahren gegebenenfalls durch Verringern seiner Geschwindigkeit erleichtern, da ansonsten im Stadtverkehr jedes Ein- oder Anfahren zum Erliegen käme (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Dezember 1978 - 4 StR 130/78, NJW 1979, 1894, juris Rn. 9 mwN; [X.] in [X.]/[X.]/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 10 [X.] Rn. 8 f.).

Da die Feststellungen des Berufungsgerichts schon dessen Annahme, die Beklagte zu 1 habe schuldhaft die Sorgfaltspflicht des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] verletzt - unterstellt, § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] wäre anwendbar - nicht tragen, reichen sie auch nicht aus, um eine schuldhafte Verletzung des § 1 Abs. 2 [X.] zu bejahen. Das Berufungsgericht hat nur festgestellt, dass die Beklagte zu 1 einen Fahrstreifenwechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen der [X.] bereits zu mehr als der Hälfte abgeschlossen hatte, als es zum Zusammenstoß mit dem Klägerfahrzeug kam, das sich bei der Kollision vorwärts bewegte. Aus einem solchen Zusammenstoß kann jedoch nicht ohne Weiteres auf eine schuldhafte Verletzung einer Sorgfaltspflicht der Beklagten zu 1 geschlossen werden. Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Beklagte zu 1 den Ausparkvorgang des [X.] hätte erkennen und vom Fahrstreifenwechsel absehen oder diesen abbrechen können, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

2. Die angefochtene Entscheidung beruht auf den dargestellten [X.], soweit zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist. Das Berufungsurteil war daher insoweit aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit dieses ergänzende Feststellungen zum Unfallhergang treffen kann.

[X.]     

      

von [X.]     

      

[X.]

      

Klein     

      

Linder     

      

Meta

VI ZR 1308/20

08.03.2022

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Düsseldorf, 2. November 2020, Az: 22 S 136/20

§ 7 Abs 5 S 1 StVO, § 10 S 1 StVO, § 7 Abs 1 StVG, § 17 StVG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 08.03.2022, Az. VI ZR 1308/20 (REWIS RS 2022, 831)

Papier­fundstellen: MDR 2022, 631-633 REWIS RS 2022, 831 NJW 2022, 1810 REWIS RS 2022, 831

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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