Bundesfinanzhof, Beschluss vom 17.09.2014, Az. VI B 75/14

6. Senat | REWIS RS 2014, 2891

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Gegenstand

Keine Bindung des BFH an die Auslegung des FG von Prozesserklärungen - Bezeichnung des Streitgegenstands in der Klageschrift - Auslegung eines Klageantrags


Leitsatz

1. NV: Der BFH ist als Revisionsgericht bei der Beurteilung von Prozesserklärungen nicht an die Auffassung der Tatsacheninstanz gebunden .

2. NV: Allein der Umstand, dass der Kläger in der Klageschrift (lediglich) beantragt "die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom ... wird aufgehoben", beschränkt die Anfechtungsklage nicht auf die Einspruchsentscheidung .

3. NV: Vielmehr wird in einem solchen Fall durch die Angabe des Betreffs (z.B. wegen Kindergeld) und der Vorlage der Einspruchsentscheidung mit der Klageschrift zugleich der der Einspruchsentscheidung zugrunde liegende Verwaltungsakt (z.B. Aufhebung der Kindergeldfestsetzung) als Gegenstand der Anfechtungsklage eindeutig bestimmt .

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet. Das Finanzgericht ([X.]) hat zu Unrecht ein Prozessurteil erlassen. Der darin liegende Verfahrensmangel führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

2

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] ([X.]) stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O dar, wenn über eine zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird. In einem solchen Fall wird zugleich der Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör verletzt (vgl. u.a. [X.]-Beschlüsse vom 8. April 2004 VII B 181/03, [X.]/NV 2004, 1284; vom 8. Juni 2004 XI B 46/02, [X.]/NV 2004, 1417, m.w.N.; vom 16. April 2007 VII B 98/04, [X.]/NV 2007, 1345; vom 23. April 2009 X B 43/08, [X.]/NV 2009, 1443).

3

2. Eine solche Rechtsverletzung liegt im Streitfall vor, indem das [X.] den Klageantrag der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) unzutreffend ausgelegt und in der Folge über ihr Anfechtungsbegehren nicht entschieden hat.

4

a) In der Auslegung prozessualer Willenserklärungen, die im erstinstanzlichen Klageverfahren abgegeben worden sind, ist das Revisionsgericht frei; es ist insoweit nicht gemäß § 118 Abs. 2 [X.]O an die Auslegung durch die Vorinstanz gebunden ([X.]-Beschluss vom 8. Oktober 2012 I B 76, 77/12, [X.]/NV 2013, 219, m.w.N.).

5

b) [X.] sind wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung (vgl. z.B. [X.]-Beschluss vom 7. November 2007 I B 104/07, [X.]/NV 2008, 799). Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden (vgl. [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2007, 1345). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) Rechnung (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 17. Januar 2002 VI B 114/01, [X.]E 198, 1, [X.], 306, und in [X.]/NV 2004, 1417).

6

3. Nach diesen Maßstäben kann das Klagebegehren entgegen der Ansicht des [X.] nicht als Begehren auf isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 2. Mai 2013 ausgelegt werden.

7

§ 65 [X.]O bestimmt, dass bei [X.] die Angabe des angefochtenen Verwaltungsakts oder der angefochtenen Entscheidung zum notwendigen Inhalt der Klageschrift gehört. Diesem Erfordernis ist die Klägerin im Streitfall in ihrer Klageschrift nachgekommen mit dem Hinweis, die Klage werde "wegen Kindergeldzahlung" erhoben. Ferner hat sie die Einspruchsentscheidung bezeichnet und der Klageschrift beigefügt, womit zugleich der dieser zugrundeliegende ursprüngliche Verwaltungsakt als Gegenstand der Anfechtungsklage eindeutig benannt wurde ([X.]-Urteile vom 8. Oktober 1971 III R 79/67, [X.]E 103, 400, [X.] 1972, 59; vom 1. April 1981 II R 38/79, [X.]E 133, 151, [X.] 1981, 532; vom 19. Mai 1992 VIII R 87/90, [X.]/NV 1993, 31, und vom 21. April 1993 XI R 54/92, [X.]/NV 1994, 45). Entgegen der Auffassung des [X.] ist daher der später mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2013 präzisierte Antrag der Klägerin nicht als objektive Klageänderung i.S. des § 67 [X.]O zu werten. Vielmehr ist auch vor dem Hintergrund des im Laufe des Klageverfahrens gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung und der später vorgelegten Klagebegründung der Klageantrag der Klägerin nach dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung objektiv nicht als Begehren auf isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 2. Mai 2013, sondern dahin zu verstehen, dass sie auch den der Einspruchsentscheidung zugrundeliegenden Bescheid vom 25. Oktober 2010, mit dem die Kindergeldfestsetzung für das Kind A ab Dezember 2009 aufgehoben und zugleich das für den Zeitraum von Dezember 2009 bis September 2010 gezahlte Kindergeld zurückgefordert wurde, angefochten wissen wollte.

8

4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 [X.]O Satz 2  2. Halbsatz [X.]O abgesehen.

9

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VI B 75/14

17.09.2014

Bundesfinanzhof 6. Senat

Beschluss

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 21. Mai 2014, Az: 2 K 1110/13, Urteil

Art 19 Abs 4 GG, § 133 BGB, § 65 Abs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 118 Abs 2 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 17.09.2014, Az. VI B 75/14 (REWIS RS 2014, 2891)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 2891

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