Bundessozialgericht, Beschluss vom 16.12.2014, Az. B 9 SB 56/14 B

9. Senat | REWIS RS 2014, 338

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - rechtliches Gehör - kein wahrnehmbarer Aufruf der Sache vor dem Sitzungssaal - Umfang der Beweiskraft des Verhandlungsprotokolls - Vermutung der Kausalität der Gehörsverletzung - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 30. Juni 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit steht die Zuerkennung des Merkzeichens "[X.]" ([X.]indheit).

2

Bei der Klägerin waren zuletzt ein [X.]rad der Behinderung ([X.]dB) von 100 aufgrund der Funktionsbeeinträchtigung hochgradige Sehbehinderung (Einzel-[X.]dB 100), [X.] Anfallsleiden (Einzel-[X.]d[X.]0) und [X.]irntumor mit operativer Behandlung (Einzel-[X.]dB 30) festgestellt sowie die Merkzeichen "[X.]", "[X.]", "B" und "[X.]" (Bescheide vom 11.10.2007 und 1.2.2008).

3

Den Antrag der Klägerin, bei ihr ab Juni 2010 auch das Merkzeichen "[X.]" festzustellen, lehnte das beklagte Land nach Einholung mehrerer augenärztlicher [X.]utachten ab (Bescheid vom 28.2.2011 in [X.]estalt des Widerspruchsbescheids vom 9.9.2011).

4

Das S[X.] hat die Klage abgewiesen ([X.]erichtsbescheid vom 1.8.2012). Im Berufungsverfahren hat das LS[X.] Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie ein weiteres augenärztliches [X.]utachten eingeholt. Der Sachverständige hat in seinem [X.]utachten vom 6.11.2013 ausgeführt, es sei unbestritten, dass die Sehfähigkeit der Klägerin stark eingeschränkt sei und nur knapp über der [X.]renze zur [X.]indheit im Sinne des [X.]esetzes liege. Eine Nachuntersuchung solle innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre durchgeführt werden.

5

Mit Urteil auf in Abwesenheit der Klägerin durchgeführte mündliche Verhandlung vom [X.] hat das LS[X.] Niedersachsen-Bremen einen Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung des Merkzeichens "[X.]" ([X.]indheit) verneint.

6

[X.]egen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BS[X.] eingelegt. Das Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel, weil das LS[X.] ihren Anspruch auf rechtliches [X.]ehör verletzt habe. Sie habe sich am [X.] in Begleitung ihres Ehemanns rechtzeitig bei [X.]ericht eingefunden und im gekennzeichneten Wartebereich auf die mündliche Verhandlung gewartet, die laut der aufgehängten [X.] für 11:00 Uhr geplant gewesen sei. Während die Klägerin mit ihrem Ehemann gewartet habe, seien aus anderen [X.]erichtssälen mehrere Aufrufe zu anderen, dort abgehaltenen Verhandlungen erfolgt, die akustisch gut wahrnehmbar gewesen seien. Ihre Sache sei dagegen nicht aufgerufen worden. [X.]egen 11:10 Uhr habe die Protokollführerin den Wartebereich betreten, sich dort umgeblickt und sei wieder verschwunden. Nachdem ihr Ehemann gegen 11:20 Uhr festgestellt habe, dass die Sache der Klägerin auf der [X.] zwischenzeitlich gestrichen worden sei, hätten sie gemeinsam den vorgesehenen Verhandlungssaal betreten. Die dort mit den ehrenamtlichen Richtern und der Protokollführerin anwesende Vorsitzende habe ihr mitgeteilt, die mündliche Verhandlung sei bereits beendet und sie könnten nach [X.]ause fahren. Im Rahmen der weiteren Aufklärung der Angelegenheit sei festgestellt worden, dass das Mikrofon im Verhandlungssaal defekt gewesen sei und der [X.] über dieses Mikrofon offensichtlich nicht in den Wartebereich übertragen worden war. Das LS[X.] habe ihr dadurch ohne hinreichenden [X.]rund die Möglichkeit genommen, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und dadurch ihr rechtliches [X.]ehör verletzt.

7

II. Die zulässige Beschwerde der Klägerin ist begründet. Das LS[X.] hat das Recht der Klägerin auf rechtliches [X.]ehör verletzt, indes es ihr ohne hinreichenden [X.]rund die Möglichkeit genommen hat, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen (1.). Es ist nicht auszuschließen, dass das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht (2.). Der [X.] macht daher von seinem durch § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.] eingeräumten Ermessen [X.]ebrauch, indem er das LS[X.]-Urteil aufhebt und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverweist (3.).

8

1. Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches [X.]ehör zu gewähren (§ 62 S[X.][X.]). Die Anhörung kann zwar auch schriftlich geschehen (§ 62 [X.]albs 2 S[X.][X.]). Findet jedoch - wie hier vor dem LS[X.] - eine mündliche Verhandlung statt, begründet der Anspruch auf rechtliches [X.]ehör das Recht des Beteiligten zur Äußerung in dieser Verhandlung (BVerf[X.]E 42, 364, 370). Um den Beteiligten die Wahrnehmung dieses Rechts zu gewährleisten, wird vom Vorsitzenden des [X.] Ort und [X.] des Termins den Beteiligten vorher mitgeteilt (§ 110 Abs 1 S 1 S[X.][X.]) und zu Beginn der mündlichen Verhandlung die Sache aufgerufen (§ 112 Abs 1 [X.] S[X.][X.]). Durch den [X.] wird den Beteiligten bekanntgemacht, dass nunmehr in die mündliche Verhandlung eingetreten werde. Besteht eine [X.]ewohnheit, außerhalb des Sitzungsraums auf den Aufruf zu warten, so muss die Sache deutlich hörbar und verständlich auch außerhalb des Raums aufgerufen werden. Das [X.]ericht kommt damit seiner Pflicht nach, die anwesenden Beteiligten effektiv in die Lage zu versetzen, den Termin auch tatsächlich wahrzunehmen (s BVerf[X.]E 42, 364, 371).

9

Das rechtliche [X.]ehör eines Beteiligten ist dagegen verletzt, wenn die Sache nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist und er deshalb an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat (BS[X.] Urteil vom 27.8.1981 - 2 RU 35/81 - Juris). So liegen die Verhältnisse zur Überzeugung des [X.]s hier. Nach Angaben der Klägerin hatte sie sich mit ihrem Ehemann am [X.] rechtzeitig bei [X.]ericht eingefunden und im dafür vorgesehenen Bereich auf den Beginn der mündlichen Verhandlung gewartet, ohne dass ein Aufruf ihrer Sache erfolgt wäre. Aufrufe aus anderen Sälen seien akustisch gut wahrnehmbar gewesen. Als sie nach der vorgesehenen [X.] den Sitzungssaal betreten habe, habe die Vorsitzende ihr mitgeteilt, der Termin sei bereits beendet und sie könnten nach [X.]ause fahren. Ein von der Vorsitzenden und der Protokollführerin unterzeichneter Vermerk bestätigt diesen [X.]eschehensablauf im [X.]. Danach hat das [X.]ericht am [X.] die Sache zweimal über die Sprechanlage aufgerufen, bevor es in Abwesenheit der Klägerin verhandelt und - nach erneutem [X.] - das angefochtene Urteil gesprochen hat. Erst während der Verhandlung der nachfolgenden Sache habe die Klägerin mit ihrem Ehemann den Saal betreten und geltend gemacht, ein Aufruf sei nicht zu hören gewesen. Wie der Vermerk weiter ausführt, hat ein anschließender mehrfacher Test der Sprechanlage kein eindeutiges Ergebnis erbracht. Diese sei zuerst draußen nicht zu hören gewesen, habe dann aber funktioniert. Berechtigte Zweifel an der Darstellung der Klägerin, ein für sie hörbarer [X.] im Wartebereich außerhalb des [X.] sei nicht erfolgt, hat der [X.] angesichts dessen nicht. Solche Zweifel ergeben sich insbesondere nicht aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung des LS[X.] vom [X.], in dem formularmäßig der (einmalige) [X.] vermerkt ist. Insoweit kann dahinstehen, ob der [X.] zu den wesentlichen Förmlichkeiten gehört, die von der besonderen Beweiskraft der Niederschrift gemäß § 122 S[X.][X.] iVm § 165 ZPO umfasst werden (vgl Zeihe, S[X.][X.], Stand November 2012, Anhang 8, § 165 ZPO Rd[X.] mwN; vgl OL[X.] Köln NJW-RR 1992, 1022). Denn jedenfalls dann, wenn das [X.]ericht die Sache über eine Sprechanlage außerhalb des [X.] aufruft, die sich im Nachhinein als nicht voll funktionstüchtig erweist, sagt der formularmäßige Vermerk, der Aufruf zur Sache sei erfolgt, von vornherein nichts darüber aus, ob dieser Aufruf auch außerhalb des [X.] zu hören war (vgl BS[X.] Urteil vom 27.8.1981 - 2 RU 35/81 - Juris = [X.] 81204).

Die Klägerin braucht sich nicht entgegenhalten zu lassen, nicht alles getan zu haben, um sich das rechtliche [X.]ehör zu verschaffen. Da sich der geplante Ablauf einer mündlichen Verhandlung erfahrungsgemäß verzögern kann, kann von den Beteiligten nicht verlangt werden, sogleich mit Beginn der [X.] den Saal zu betreten und damit die möglicherweise noch in vollem [X.]ang befindliche vorangegangene Verhandlung zu stören. Als die Klägerin sich nach längerer Wartezeit schließlich in den Sitzungssaal begeben hat, war das Urteil bereits verkündet und damit wirksam, § 132 S[X.][X.]. Ein Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung nach § 121 [X.] S[X.][X.] kam nicht mehr infrage (vgl [X.] in: [X.]/[X.]/[X.], S[X.][X.], 11. Aufl 2014, § 121 Rd[X.]).

2. Entgegen der Ansicht des Beklagten lässt sich auch nicht ausschließen, dass das angefochtene Urteil auf der festgestellten Verletzung rechtlichen [X.]ehörs beruht, § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.]. Wird einem Beteiligten gegen seinen Willen sein prozessuales Recht auf mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 1 S[X.][X.]) ohne gesetzliche Ermächtigung genommen oder dessen Verwirklichung unmöglich gemacht, ist davon auszugehen, dass ein gleichwohl gefälltes Urteil auf diesem Rechtsfehler beruhen kann. Nähere Darlegungen zur Kausalität einer [X.]ehörsverletzung sind dann regelmäßig entbehrlich (vgl BS[X.]E 53, 83 = [X.] 1500 § 124 [X.]). Denn die mündliche Verhandlung ist grundsätzlich das Kernstück der Rechtsfindung; sie ist in ihrem inneren Ablauf, wenn sie nach den Vorschriften des [X.]esetzes durchgeführt wird, nicht vorhersehbar und kann nachträglich nicht fiktiv rekonstruiert werden. Im Fall der Klägerin hätte das LS[X.] aufgrund der mündlichen Verhandlung möglicherweise doch zu dem Ergebnis gelangen können, es müsse - ua wegen der persönlich vorgebrachten Einwände der Klägerin gegen das vom LS[X.] zuletzt eingeholte Sachverständigengutachten über ihre Sehfähigkeit und der inzwischen verstrichenen [X.] - zumindest noch ergänzend Beweis erheben etwa durch ergänzende Befragung des Sachverständigen (vgl BS[X.] Beschluss vom 31.3.2004 - [X.] RA 126/03 B - [X.] 4-1500 § 112 [X.] = [X.] 4-1500 § 62 [X.]).

3. Der [X.] macht von seinem durch § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] S[X.][X.] eingeräumten Ermessen zur Verfahrensbeschleunigung (vgl Zeihe, S[X.][X.], Stand November 2012, § 160a Rd[X.]8 mwN) [X.]ebrauch und verweist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LS[X.] zurück. Im Revisionsverfahren könnte eine möglicherweise noch ergänzend durchzuführende Beweisaufnahme nicht nachgeholt werden.

Das LS[X.] wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beim BS[X.] zu entscheiden haben.

Meta

B 9 SB 56/14 B

16.12.2014

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Lüneburg, 1. August 2012, Az: S 6 SB 273/11, Gerichtsbescheid

§ 62 SGG, § 112 Abs 1 S 2 SGG, § 122 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 165 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 16.12.2014, Az. B 9 SB 56/14 B (REWIS RS 2014, 338)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 338

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