Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.12.2018, Az. B 8 SO 38/18 B

8. Senat | REWIS RS 2018, 784

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Gegenstand

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen § 123 SGG - unzulässige Beschränkung des Streitgegenstandes - Verpflichtung des Vorsitzenden zur Hinwirkung auf die Stellung sachdienlicher Anträge)


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des [X.] vom 7. Mai 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung und Verhandlung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit sind Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) sowie Hilfen zur Überwindung besonderer [X.] Schwierigkeiten nach dem [X.] - ([X.]B XII).

2

Die Klägerin sprach erstmals am 22.7.2014 beim Beklagten vor und beantragte Grundsicherungsleistungen, was dieser mit der Begründung ablehnte, das vorhandene Renteneinkommen übersteige den Bedarf (Bescheid vom 22.7.2014); ebenso wurde ein Folgeantrag abgelehnt (Bescheid vom [X.], Widerspruchsbescheid vom [X.]). Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <[X.]> Reutlingen vom 18.5.2017; Beschluss des Landessozialgerichts <[X.]> Baden-Württemberg vom 7.5.2018). Das [X.] hat zur Begründung ua ausgeführt, Grundsicherungsleistungen könne die Klägerin nicht beanspruchen, da sie wegen des zu berücksichtigenden laufenden Einkommens nicht hilfebedürftig sei. Ein Anspruch auf Hilfe zur Überwindung besonderer [X.] Schwierigkeiten (§§ 67 f [X.]B XII) komme zwar in Betracht, sei aber nicht Streitgegenstand, da der Beklagte hierüber nicht entschieden habe. Es bleibe der Klägerin unbenommen, einen gesonderten Antrag auf Hilfe zur Überwindung besonderer [X.] Schwierigkeiten zu stellen.

3

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss macht die Klägerin als Verfahrensfehler ua eine Verkennung des Streitgegenstandes geltend. Sie habe von Anfang an auf Härtefallgesichtspunkte hingewiesen, weshalb der Beklagte auch Ansprüche nach §§ 67 f [X.]B XII prüfen und das [X.] auf eine sachdienliche Antragstellung hätte hinwirken müssen.

4

Mit Bescheid vom [X.] hat es der Beklagte abgelehnt, Leistungen nach §§ 67 f [X.]B XII zu erbringen.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ([X.]) iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]. Die Entscheidung des [X.] beruht auf einem Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 [X.] [X.], weil das [X.] den Streitgegenstand verkannt und damit gegen § 123 [X.] verstoßen hat. Der [X.] macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 [X.]).

6

Nach § 123 [X.] entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem bei nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 [X.]; vgl zuletzt B[X.] Beschluss vom 1.3.2018 - [X.] [X.] 52/17 [X.]). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage bzw der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen (vgl etwa [X.], 93, 94 = [X.] 2200 § 205 [X.]; B[X.] Urteil vom 8.12.2010 - B 6 [X.]/09 R). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl nur B[X.] Urteil vom [X.] - B 11 AL 23/02 R - juris Rd[X.]1; B[X.] Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - [X.] 4-1500 § 158 [X.]). Im Zweifel ist davon auszugehen, dass nach Maßgabe des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl etwa B[X.] [X.] 4-3250 § 69 [X.] Rd[X.]6). Der Grundsatz, dass im Zweifel von einem umfassenden [X.] ausgegangen werden muss, ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die Auslegung von Anträgen richtet sich danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen; im Zweifel ist davon auszugehen, dass ein Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (stRspr, vgl zuletzt [X.] [X.] [X.] 52/17 B unter Hinweis auf [X.], 77, 79 = [X.] 3-4100 § 104 [X.]; B[X.] [X.] 4-2600 § 43 [X.] Rd[X.]0; B[X.] [X.] 4-1500 § 92 [X.] Rd[X.]).

7

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben konnte schon das [X.] bei verständiger Würdigung das Begehren der nicht anwaltlich vertretenen Klägerin nicht so verstehen, dass diese den Leistungsanspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des [X.]B XII beschränken wollte. Die Klägerin hat bereits im Widerspruchsverfahren 2016 mehrfach auf das Vorliegen eines Härtefalls hingewiesen. Damit hatte der Beklagte die erforderliche Kenntnis iS des § 18 Abs 1 [X.]B XII, ohne dass es - wie das [X.] meint - auf einen ausdrücklichen Antrag angekommen wäre. Zur Annahme von Kenntnis ist bereits ausreichend (aber auch erforderlich), dass die Notwendigkeit der Hilfe erkennbar ist, nicht aber in welchem Umfang die Hilfe geleistet werden muss (vgl B[X.] Urteil vom 2.2.2012 - [X.] [X.] 5/10 R = [X.] 4-3500 § 62 [X.] Rd[X.]8). Der Beklagte hat sich auch im Widerspruchsbescheid mit dem erweiterten Vorbringen der Klägerin auseinandergesetzt und Ansprüche abgelehnt. Die Klägerin hat sodann im erstinstanzlichen Verfahren erneut auf außergewöhnliche Belastungen hingewiesen und damit hinreichend deutlich gemacht, Leistungen nach dem [X.]B XII nach allen denkbaren Anspruchsgrundlagen erhalten zu wollen. Der Verfahrensfehler hat sich vor dem [X.] fortgesetzt. Das [X.] hätte, ausgehend gerade von seinem in den Entscheidungsgründen geäußerten Rechtsstandpunkt, Ansprüche nach §§ 67 f [X.]B XII könnten in Betracht kommen, zur Korrektur des Verfahrensfehlers (vgl dazu etwa B[X.] Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 134/14 B - juris Rd[X.]1) das wahre Klagebegehren der Klägerin ermitteln und ihr die Möglichkeit einräumen müssen, ihren Antrag nunmehr richtigzustellen.

8

Eine Zurückweisung der Beschwerde war auch nicht deshalb geboten, weil bereits feststünde, dass die angegriffene Entscheidung unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt Bestand haben wird (vgl dazu nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 12. Aufl 2017, § 160a Rd[X.]8 mwN). Angesichts der fehlenden Feststellungen zu dem nach Ansicht des [X.] in Frage kommenden streitgegenständlichen Anspruch nach §§ 67 f [X.]B XII ist ein Erfolg der Berufung nicht ausgeschlossen.

9

Der neue Bescheid des Beklagten vom [X.] wird nach §§ 96, 153 [X.] Gegenstand des wieder rechtshängigen Berufungsverfahrens (B[X.] Urteil vom [X.] - 11/9 RV 1234/56 - B[X.]E 9, 78). Das [X.] wird dabei als Tatsacheninstanz den Sachverhalt auch insoweit aufzuklären haben, als dies für die Beurteilung des neuen Verwaltungsakts erforderlich ist (B[X.] Beschluss vom [X.] - B 11a/11 AL 187/04 B - juris Rd[X.]2).

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 38/18 B

06.12.2018

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Reutlingen, 18. Mai 2017, Az: S 5 SO 2537/16, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 123 SGG, § 106 Abs 1 SGG, § 112 Abs 2 S 2 SGG, § 133 BGB, § 41 SGB 12, §§ 41ff SGB 12, § 67 SGB 12, §§ 67f SGB 12, Art 19 Abs 4 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.12.2018, Az. B 8 SO 38/18 B (REWIS RS 2018, 784)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 784

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