Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 29.08.2014, Az. 4 B 1/14

4. Senat | REWIS RS 2014, 3216

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Gegenstand

Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts bei bloßem Rechtsanwendungsfehler


Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs [X.] vom 29. Oktober 2013 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 125 700 € festgesetzt.

Gründe

1

Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte [X.]eschwerde bleibt ohne Erfolg.

2

1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche [X.]edeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr die [X.]eschwerde beimisst.

3

a) Als rechtsgrundsätzlich bedeutsam wirft die [X.]eschwerde die auf § 48 Abs. 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für [X.] ([X.]) bezogenen Frage auf,

ob die bisherige, sich auf den [X.]eschluss des [X.] vom 19. Dezember 1984 - [X.]VerwG [X.]. Sen. 1 und 2.84 - ([X.]VerwGE 70, 356) stützende Rechtsprechung aufrecht erhalten bleiben kann, wenn der rechtswidrigen [X.] und der Aufhebungsentscheidung identische Sachverhalte zugrunde liegen, eine Tatsachenermittlung sich also erübrigt, sich damit am Rechts- und Tatsachen-„[X.]estand" nichts geändert hat.

4

Die Frage führt nicht zur Zulassung der Revision. Die Vorschrift des § 48 Abs. 4 [X.] gehört zwar zum revisiblen Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO), weil sie ihrem Wortlaut nach mit § 48 Abs. 4 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des [X.] wörtlich übereinstimmt und beide Vorschriften (im Folgenden nur nach dem [X.]-Verwaltungsverfahrensgesetz zitiert) einheitlich auszulegen sind. Die aufgeworfene Frage ist jedoch nicht klärungsbedürftig. Sie ist, wie die [X.]eschwerde selbst hervorhebt, in der Rechtsprechung des [X.]verwaltungsgerichts bereits geklärt. Nach Auffassung des [X.] des [X.]verwaltungsgerichts (a.a.[X.]) erfasst § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht nur die Fälle, in denen die Rücknehmbarkeit eines begünstigenden Verwaltungsakts darauf beruht, dass der [X.]ehörde bei Erlass des Verwaltungsakts nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt waren; sie regelt vielmehr auch die Fälle, in denen die [X.]ehörde bei voller Kenntnis des entscheidungserheblichen Sachverhalts unrichtig entschieden hat, und findet somit auch Anwendung, wenn die [X.]ehörde - wie hier - nachträglich erkennt, dass sie den beim Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts vollständig bekannten Sachverhalt unzureichend berücksichtigt oder unrichtig gewürdigt hat.

5

Die [X.]eschwerde möchte dem [X.]verwaltungsgericht jedoch Gelegenheit geben, seine bisherige Rechtsprechung zu überprüfen. Sie trägt vor, die Einbeziehung von [X.]n in die Fristbestimmung nach § 48 Abs. 4 VwVfG sei in der Literatur auf nachhaltige, bis heute anhaltende Kritik gestoßen, weil damit die Anwendung der Vorschrift regelmäßig ins Leere gehe. Der Entscheidung des [X.] möge zu folgen sein in Fallkonstellationen, in denen die tatsächlichen und rechtlichen [X.]undlagen der Rechtswidrigkeit des [X.] so verschränkt seien, dass eine Trennung zwischen Sachverhalt und Rechtsanwendung wenig sinnvoll erscheine. Das rechtfertige aber nicht, Fälle ohne erforderliche Tatsachenermittlung und gleichbleibender Rechtswidrigkeit/gleichbleibendem [X.] ebenso zu behandeln wie Fälle, in denen der aufzuhebenden [X.] ein erst später als unrichtig erkannter Sachverhalt zugrunde gelegen habe. Es sei - auch wegen des knapp 30-jährigen [X.] zur Entscheidung des [X.] und den seither geänderten Anforderungen an staatliches Handeln - zu überdenken, ob bei zwischen Ursprungs- und Aufhebungsbescheid unveränderter Rechts- und [X.] die Jahresfrist ab Erlass des Verwaltungsakts laufe. Dieser Vortrag rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision.

6

Um die grundsätzliche [X.]edeutung einer in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits geklärten Rechtsfrage darzulegen, muss die [X.]eschwerde vertiefend erörtern, inwieweit in dem erstrebten Revisionsverfahren über die bisherige Rechtsprechung hinaus zusätzliche Erkenntnisse gewonnen werden könnten ([X.]eschlüsse vom 4. März 1998 - [X.]VerwG 7 [X.] 388.97 - juris und vom 25. November 1992 - [X.]VerwG 6 [X.] 27.92 - [X.]uchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 306). Die [X.]eschwerde muss sich dazu mit den [X.]ünden der bisherigen Rechtsprechung auseinander setzen; sie muss aufzeigen, aus welchen [X.]ünden eine erneute [X.]efassung des [X.]verwaltungsgerichts mit der aufgeworfenen Frage erforderlich sein könnte, namentlich, dass sich neue Gesichtspunkte ergeben hätten, die geeignet sein könnten, die bisherige Rechtsprechung in Frage zu stellen ([X.]eschluss vom 27. August 1997 - [X.]VerwG 1 [X.] 145.97 - [X.]uchholz 310 § 58 VwGO Nr. 67). Daran fehlt es hier. Der [X.]oße Senat (a.a.[X.]) hat seine Auffassung unter Heranziehung von Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie dem historischen Gesetzgeberwillen ausführlich begründet. Mit dieser [X.]egründung setzt sich die [X.]eschwerde nicht einmal im Ansatz auseinander. Sie beschränkt sich vielmehr auf die pauschale [X.]ehauptung, dass die Anwendung der Vorschrift unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des [X.]verwaltungsgerichts regelmäßig ins Leere gehe, wie der vorliegende Fall anschaulich zeige. Die [X.]eschwerde zeigt auch nicht auf, dass sich seit der Entscheidung des [X.] neue Gesichtspunkte ergeben hätten, die geeignet sein könnten, die bisherige Rechtsprechung in Frage zu stellen. Die behauptete nachhaltige, bis heute anhaltende Kritik in der Literatur genügt hierfür ebenso wenig wie der Hinweis auf den Zeitabstand zur Entscheidung des [X.] und die seither angeblich geänderten Anforderungen an staatliches Handeln. Dass die aufgeworfene Rechtsfrage wieder grundsätzliche [X.]edeutung gewonnen haben könnte, ist damit nicht dargetan.

7

b) [X.] Klärungsbedarf reklamiert die [X.]eschwerde ferner hinsichtlich der Frage,

ob der in § 48 Abs. 4 Satz 1 [X.] verwendete [X.]egriff der „Kenntnis" stets „positive Kenntnis" voraussetze und - zusätzlich -, wie dieser [X.]egriff von einer Verweigerung der Kenntnisnahme oder einer (grob) fahrlässigen Nichtkenntnisnahme abzugrenzen sei.

8

Die [X.]eschwerde stellt auch insoweit nicht in Abrede, dass die von ihr aufgeworfene Frage in der Rechtsprechung des [X.]verwaltungsgerichts geklärt ist. Sie legt selbst zutreffend dar, dass die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nach der Entscheidung des [X.] (a.a.[X.]) - auch in Fällen wie dem vorliegenden, in dem sich die tatsächlichen und rechtlichen [X.]undlagen zwischen Ursprungs- und Aufhebungsbescheid nicht geändert hätten - nur durch die positive Kenntnis von den Tatsachen, die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigen, in Lauf gesetzt wird. Eine Frist für die Ermittlung der maßgeblichen Umstände hat der Gesetzgeber den [X.]ehörden in § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht gesetzt; für eine ausdehnende Auslegung der Vorschrift in diese Richtung fehlt jede [X.]undlage ([X.]eschluss vom 12. September 1997 - [X.]VerwG 3 [X.] 66.97 - [X.]uchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 87). Die [X.]eschwerde geht deshalb zu Recht davon aus, dass jede Form der Nichtkenntnisnahme den Fristlauf hindert, weil es im Rahmen des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG auf ein „(qualifiziertes) Kennenmüssen" der die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigenden [X.]ünde nicht ankommt.

9

Soweit die [X.]eschwerde meint, dem könne aus [X.]ünden einer rechtsstaatlichen Handlungspflicht der zuständigen [X.]ehörden und des Vertrauensschutzes ebenso wenig gefolgt werden wie unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Amtspflichtverletzung, stellt sie der Rechtsauffassung des [X.] lediglich ihre eigene Meinung gegenüber. [X.]undsätzlichen Klärungsbedarf zeigt sie damit nicht auf. Die angemeldeten [X.]edenken sind im Übrigen auch in der Sache unbegründet. Dass die [X.]ehörden bei der Ermittlung der Rücknahmevoraussetzungen rechtsstaatlichen [X.]indungen unterliegen, steht außer Frage. Den rechtsstaatlichen [X.]indungen kann aber durch den auch im öffentlichen Recht geltenden [X.]undsatz von [X.] und Glauben hinreichend Rechnung getragen werden (vgl. zuletzt Urteil vom 20. März 2014 - [X.]VerwG 4 [X.] 11.13 - juris Rn. 28 ff.). So kann ein Rücknahmebescheid wegen einer Verwirkung der Rücknahmebefugnis rechtswidrig sein (Urteil vom 20. Dezember 1999 - [X.]VerwG 7 [X.] 42.98 - [X.]VerwGE 110, 226 <234 ff.> und [X.]eschluss vom 12. September 1997 a.a.[X.] 6 m.w.N.), wenn die [X.]ehörde - wie von der [X.]eschwerde vorliegend behauptet - den Lauf der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG durch „konzentriertes Nichtstun" verhindert. Unter dem Aspekt der Verwirkung hat der Verwaltungsgerichtshof ([X.] f.) den angegriffenen Rücknahmebescheid geprüft, hierfür aber - auch angesichts des von der [X.]eschwerde angeführten Umstandes der wiederholten Verlängerung der erteilten [X.]augenehmigung - keine Anhaltspunkte gesehen.

c) Schließlich ist auch die Frage,

welche konkrete Sachverhaltsermittlung für die „positive Kenntnis" laut Rechtsprechung des [X.] zugrunde zu legen ist und wie diese Erkenntnisse im Gerichtsverfahren zu ermitteln sind,

nicht grundsätzlich klärungsbedürftig.

Soweit die [X.]eschwerde damit klären lassen möchte, auf welche Tatsachen sich die Kenntnis der [X.]ehörde beziehen muss, ist dies in der Entscheidung des [X.] des [X.]verwaltungsgerichts (a.a.[X.] 362 f.) geklärt: Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG beginnt erst zu laufen, wenn der [X.]ehörde sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Erforderlich ist also zunächst die Kenntnis derjenigen Tatsachen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ergibt. Das sind die Tatsachen, die den im Einzelfall unterlaufenen [X.] und die Kausalität dieses Fehlers für den Inhalt des Verwaltungsakts ausmachen. Schon der Wortlaut der Vorschrift stellt allerdings klar, dass die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit für sich allein den Fristenlauf nicht auszulösen vermag, sondern hierzu die vollständige Kenntnis des für die Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsakts erheblichen Sachverhalts nötig ist. Hierzu gehören alle Tatsachen, die im Falle des § 48 Abs. 2 VwVfG ein Vertrauen des [X.]egünstigten in den [X.]estand des Verwaltungsakts entweder nicht rechtfertigen oder ein bestehendes Vertrauen als nicht schutzwürdig erscheinen lassen, sowie die für die Ermessensausübung wesentlichen Umstände.

Durch welche konkreten Maßnahmen im gerichtlichen Verfahren nach Maßgabe des § 86 Abs. 1 VwGO zu ermitteln ist, zu welchem Zeitpunkt die für die Rücknahme zuständige [X.]ehörde Kenntnis von diesen Tatsachen hatte, ist eine Frage des Einzelfalls und entzieht sich einer rechtsgrundsätzlichen Klärung. Das gilt auch für die Frage, ob - wie die [X.]eschwerde meint - hierzu die Ausschöpfung der gesamten, bekannten Erkenntnisquellen und damit auch die Vernehmung des (in erster Instanz vernommenen) [X.]ediensteten gehört. Ein allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, dass eine erneute Zeugeneinvernahme im [X.]erufungsverfahren stets erforderlich wäre, wenn das [X.]erufungsgericht von der erstinstanzlichen Tatsachenwürdigung abweichen will, lässt sich nicht aufstellen.

2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, soweit die [X.]eschwerde „unter [X.]ezugnahme" auf diesen Vortrag geltend macht, dass die nicht erfolgte Vernehmung des [X.]ediensteten der [X.]eklagten im [X.]erufungsverfahren „aus den oben genannten [X.]ünden" einen Verfahrensfehler darstelle. Sie macht geltend, die Entscheidung könne auf der fehlenden Zeugenvernehmung beruhen, weil sich aus dem Akteninhalt und kumulativ der Vernehmung in einer zusammenfassenden und vollständigen [X.]eweiswürdigung ergeben könne, dass eine frühere positive Kenntnis anzunehmen sei. Ein die Zulassung der Revision rechtfertigender Verfahrensmangel ist damit nicht in einer den Substantiierungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dargetan. Das gilt auch unter [X.]erücksichtigung des in [X.]ezug genommenen Vortrags, die erneute Vernehmung des [X.]ediensteten sei im vorliegenden Fall erforderlich gewesen, um dessen Aussage gemeinsam mit der gegenüber dem Verwaltungsgericht geänderten Wertung des Akteninhalts zu gewichten. Konkrete Umstände, die dies im vorliegenden Fall gebieten könnten, führt die [X.]eschwerde nicht an. Erst recht fehlt jegliche Erläuterung dazu, ob und gegebenenfalls in welcher Weise die Klägerin durch [X.]eweisanträge auf die von ihr für erforderlich gehaltene Sachverhaltsfeststellung hingewirkt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Meta

4 B 1/14

29.08.2014

Bundesverwaltungsgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 29. Oktober 2013, Az: 3 S 2643/11, Urteil

§ 48 Abs 4 S 1 VwVfG, § 132 Abs 2 Nr 1 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 29.08.2014, Az. 4 B 1/14 (REWIS RS 2014, 3216)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 3216

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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