Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.09.2016, Az. III R 16/13

3. Senat | REWIS RS 2016, 5765

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Gegenstand

(Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten - Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 28.04.2016 III R 68/13)


Leitsatz

NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 13. März 2013 15 K 2911/11 Kg aufgehoben.    

Die Klage wird abgewiesen.    

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.    

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.] [X.]taatsangehöriger, hat seinen Wohnsitz in der [X.] ([X.]) und ist hier als Finanzbeamter [X.] tätig. Er ist der Vater des im August 2002 geborenen [X.], der bei seiner arbeitslosen Mutter in [X.] lebt. Die Kindsmutter hat Anspruch auf Familienleistungen in [X.].

2

Dem Antrag des [X.] auf Kindergeld für [X.] für die [X.] ab Dezember 2007 gab die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 26. Mai 2011 für die [X.] bis April 2010 statt. Mit weiterem Bescheid vom 26. Mai 2011 lehnte sie den Antrag für die [X.] ab Mai 2010 hingegen ab, da die Kindsmutter wegen der Haushaltsaufnahme des [X.] vorrangig anspruchsberechtigt sei.

3

Der gegen den Ablehnungsbescheid gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 25. Juli 2011).

4

Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger Kindergeld für [X.] für die [X.] ab Mai 2010. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit Urteil vom 13. März 2013  15 K 2911/11 Kg statt und verpflichtete die Familienkasse, dem Kläger für [X.] Kindergeld ab Mai 2010 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

5

Mit der Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (E[X.]tG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.

6

Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des [X.] vom 13. März 2013  15 K 2911/11 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Mit Beschluss vom 12. Januar 2015 hat der [X.] das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 angeordnet. Der [X.] hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, Deutsches [X.]teuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

9

II. Die Revision ist begründet. [X.]ie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 [X.]atz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld für [X.] (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 E[X.]tG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 [X.]atz 1 Nr. 1, [X.]atz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 E[X.]tG. Dies wurde --für den [X.]enat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt. Unerheblich ist, dass [X.] seinen Wohnsitz in [X.] hat (§ 63 Abs. 1 [X.]atz 3 E[X.]tG).

2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des [X.]-- nach § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG vorrangig anspruchsberechtigt. Denn gemäß Art. 67 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der [X.]ysteme der sozialen [X.]icherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, [X.]. 1) in der für den [X.]treitzeitraum maßgeblichen Fassung [X.] ([X.]. Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. [X.]eptember 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der [X.]ysteme der sozialen [X.]icherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, [X.]. 1) in der für den [X.]treitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] ([X.] ist zu unterstellen, dass sie mit [X.] in [X.] wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 E[X.]tG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG).

b) Im [X.]treitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 E[X.]tG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der [X.] Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.

3. Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im [X.]treitfall eröffnet und [X.] ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

a) Der Kläger ist [X.] [X.]taatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz eine Familienleistung i.[X.]. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im [X.]treitzeitraum als Beamter i.[X.]. des Art. 1 Buchst. d der VO Nr. 883/2004 in [X.] beschäftigt war, unterlag er den [X.] Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. b der VO Nr. 883/2004).

4. Aus Art. 67 [X.]atz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierzu auf die Entscheidungsgründe in dem [X.]enatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13 ([X.], 20, B[X.]tBl II 2016, 776, Rz 20 ff.) Bezug genommen.

5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte [X.] i.[X.]. des § 62 Abs. 2 E[X.]tG ist, hat das [X.] nicht festgestellt.

b) Ein vorrangiger Anspruch des [X.] ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 [X.]atz 2 E[X.]tG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des [X.] unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 [X.]atz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Demnach ist im [X.]treitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 [X.]atz 1 E[X.]tG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme des [X.] vorliegt.

6. [X.]chließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat; auch insoweit wird zur weiteren Begründung auf die Entscheidungsgründe in dem [X.]enatsurteil in [X.], 20, B[X.]tBl II 2016, 776, Rz 28 Bezug genommen.

7. [X.] beruht auf § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

III R 16/13

08.09.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 13. März 2013, Az: 15 K 2911/11 Kg, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 1 Buchst d EGV 883/2004, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst b EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.09.2016, Az. III R 16/13 (REWIS RS 2016, 5765)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5765

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