Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20.09.2022, Az. VI B 1/22

6. Senat | REWIS RS 2022, 5380

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Gegenstand

(Zur Rüge eines Verstoßes des FG gegen den Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO)


Leitsatz

1. NV: Die Sachaufklärungsrüge kann keine Beweisanträge oder Fragen ersetzen, welche fachkundig vertretene Beteiligte selbst in zumutbarer Weise hätten stellen können, jedoch zu stellen unterlassen haben. Ebenso wenig kann die Sachaufklärungsrüge dazu dienen, (nachträglich) Ermittlungen vom FG zu (entscheidungserheblichen) Tatsachen zu verlangen, deren Darlegung und Nachweis sich jedenfalls einem beratenen Beteiligten aufdrängen mussten.

2. NV: Das FG verletzt seine Sachaufklärungspflicht nicht, wenn es Tatsachen außer Acht lässt, die keiner der Beteiligten vorgetragen hat und die sich auch sonst nicht aus den Akten oder dem Lauf des Verfahrens ergeben haben.

Tenor

Die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des [X.] vom 02.12.2021 - 1 K 269/21 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.

Gründe

1

Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist unbegründet und zurückzuweisen.

2

1. Die Revision ist nicht wegen der von den Klägern gerügten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--) zuzulassen. Der [X.] kann dahinstehen lassen, ob die Kläger die Verfahrensmängel den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O entsprechend dargelegt haben. Denn die gerügten Verfahrensmängel liegen jedenfalls nicht vor.

3

a) Das Finanzgericht ([X.]) hat nicht gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O) verstoßen.

4

aa) Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Danach ist es grundsätzlich Aufgabe des Gerichts, die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung zu ermitteln (z.B. Beschluss des [X.] --BFH-- vom 07.07.2014 - X B 134/13, Rz 11). Diese Verpflichtung des [X.] zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen bedeutet nicht, dass jeder fernliegenden Erwägung nachzugehen ist. Wohl aber muss das [X.] die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne ausdrücklichen Hinweis der Beteiligten anstellen und entsprechende Beweise erheben. Die Sachaufklärungspflicht des [X.] kann allerdings nicht losgelöst von den Mitwirkungspflichten der Beteiligten (§ 76 Abs. 1 Satz 2 [X.]O) gesehen werden (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, z.B. [X.] vom 20.11.2013 - X B 164/13, Rz 12, und vom 16.07.2019 - X B 14/19, Rz 27). Vielmehr begrenzt die Mitwirkungspflicht der Beteiligten die Amtsermittlungspflicht des Gerichts nach § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O (BFH-Entscheidungen vom 30.07.2003 - X R 28/99, [X.], 201; vom 05.12.2006 - VIII B 4/06, [X.], 490, und vom 21.07.2017 - X B 167/16, Rz 4).

5

Die Sachaufklärungsrüge kann insbesondere nicht Beweisanträge oder Fragen ersetzen, welche fachkundig vertretene Beteiligte selbst in zumutbarer Weise hätten stellen können, jedoch zu stellen unterlassen haben. Ebenso wenig kann die Sachaufklärungsrüge dazu dienen, (nachträglich) Ermittlungen vom [X.] zu (entscheidungserheblichen) Tatsachen zu verlangen, deren Darlegung und Nachweis sich jedenfalls einem beratenen Beteiligten aufdrängen mussten (BFH-Urteil vom 14.03.2017 - VIII R 32/14, Rz 41 und Rz 42, m.w.N.). Das [X.] verletzt seine Sachaufklärungspflicht deshalb nicht, wenn es Tatsachen außer [X.] lässt, die keiner der Beteiligten vorgetragen hat und die sich auch sonst nicht aus den Akten oder dem Lauf des Verfahrens ergeben haben ([X.] in Tipke/[X.], § 76 [X.]O Rz 40).

6

bb) Die vor dem [X.] fachkundig vertretenen Kläger begehrten mit ihrer Klage (u.a.) die Berücksichtigung des [X.] gemäß § 33b Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Die Kläger haben erstinstanzlich jedoch nicht dargelegt, dass die Voraussetzungen des [X.] in den Streitjahren (2014 bis 2017) vorlagen, wie das [X.] zutreffend ausgeführt hat.

7

Die Darlegung der Voraussetzungen des § 33b Abs. 6 EStG hätte sich den Klägern allerdings aufdrängen müssen, da es sich um steuermindernde Tatsachen handelte, die sich zudem in ihrer eigenen Sphäre abgespielt haben.

8

Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) hatte bereits in der Einspruchsentscheidung vom 17.03.2020 (dort [X.]. 9 und 10) ausgeführt, dass der Bescheid des Versorgungsamtes über den Grad der Behinderung zwar Voraussetzung des [X.] sei, seine Berücksichtigung jedoch auch von weiteren [X.] und Angaben des Steuerpflichtigen abhängig sei. Voraussetzung für die Berücksichtigung des [X.] sei z.B., dass der Steuerpflichtige keine Einnahmen für die Pflege einer Person erhalten habe und die Pflege im Haushalt des Steuerpflichtigen oder der pflegebedürftigen Person durchgeführt worden sei. Weiter sei zu prüfen, ob der Pflegebedürftige von mehreren Personen gepflegt worden sei.

9

Dessen ungeachtet haben die Kläger in ihrer Klagebegründung vom 19.06.2020 zum [X.] lediglich vorgetragen, Voraussetzung für die Berücksichtigung des [X.] sei die Pflege einer Person, die nicht nur vorübergehend hilflos sei. Dies sei vorliegend --wie dargelegt-- der Fall. Die weiteren Voraussetzungen des § 33b Abs. 6 EStG haben die Kläger mit der Klagebegründung und auch im weiteren Verlauf des Verfahrens hingegen nicht vorgetragen, obwohl ihnen ausweislich ihres Vortrags auf [X.]. 16 der Klagebegründung durchaus bewusst war, dass das [X.] schon in der Einspruchsentscheidung auf die weiteren Voraussetzungen des [X.] hingewiesen hatte, die es nicht als gegeben ansah.

Entgegen dem Vortrag der Kläger in der Beschwerdebegründung war das Vorliegen der Voraussetzungen des § 33b Abs. 6 EStG zwischen den Beteiligten damit nicht "unstreitig". Das (unstreitige) Vorhandensein eines inländischen Wohnsitzes der Kläger und die (nachgewiesene) Behinderung reichten nicht aus, um die Voraussetzungen für die Anerkennung des [X.] zu erfüllen. Nichts anderes gilt für das Schreiben der Kläger an das [X.] vom 16.10.2019 (Anlage K 21 zur Klagebegründung), auf das die Kläger in ihrer Beschwerdebegründung hingewiesen haben (dort einmal wohl irrtümlich als Schreiben vom [X.] bezeichnet). In jenem Schreiben wurde von den Klägern ohne weitere Konkretisierung lediglich vorgetragen, dass die Kläger die Berücksichtigung des [X.] begehrten, was "aufgrund der Pflege durch meine Ehefrau ermöglicht" werde. Die Kläger hätten, jedenfalls nachdem das [X.] in der Einspruchsentscheidung das Vorliegen der Voraussetzungen des § 33b Abs. 6 EStG in Zweifel gezogen hatte, insbesondere auch ihr Vorbringen zu den (angeblich) von der Klägerin erbrachten Pflegeleistungen im Klageverfahren substantiieren müssen (zum Begriff der "Pflege" i.S. von § 33a Abs. 6 EStG s. [X.]surteil vom 04.09.2019 - VI R 52/17, [X.], 196, BSt[X.] II 2020, 97, Rz 15), um die tatsächlichen Voraussetzungen des [X.] zumindest hinreichend darzulegen.

Bei dieser Sachlage hat das [X.] nicht gegen den Amtsermittlungsgrundsatz aus § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O verstoßen, weil es das Vorliegen der Voraussetzungen, die für die Berücksichtigung des [X.] gegeben sein müssen, nicht von Amts wegen weiter aufgeklärt hat.

b) Die Vorinstanz hat auch § 76 Abs. 2 [X.]O und das Recht der Kläger auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--, § 96 Abs. 2 [X.]O) nicht verletzt.

aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst vor allem das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den rechtserheblichen Tatsachen und Ergebnissen zu äußern. Sie haben einen Anspruch darauf, dem Gericht in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht alles vortragen zu können, was sie für wesentlich halten. Diesen Ansprüchen entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (ständige Rechtsprechung, z.B. [X.] vom 19.11.2013 - XI B 9/13, Rz 11, und vom 27.10.2020 - XI B 33/20, Rz 17).

Bei den richterlichen Hinweispflichten nach § 76 Abs. 2 [X.]O geht es weniger um die Sachaufklärung durch das Gericht als darum, Schutz und Hilfestellung für die Beteiligten zu geben, deren Eigenverantwortlichkeit dadurch aber nicht eingeschränkt oder beseitigt wird. Liegt die rechtliche Bedeutung bestimmter Tatsachen und die daraus folgende Erforderlichkeit, diese Tatsachen bei Gericht vorzubringen und zu substantiieren, auf der Hand, so stellt ein unterlassener Hinweis jedenfalls dann keine gegen § 76 Abs. 2 [X.]O verstoßende Pflichtverletzung dar, wenn die Kläger steuerlich beraten und im Prozess entsprechend vertreten waren ([X.] vom 04.08.1999 - VIII B 51/98, [X.], 204, und [X.]sbeschluss vom 07.10.2015 - VI B 49/15, Rz 16).

bb) Nach diesen Maßstäben hat das [X.] weder gegen seine Hinweispflichten verstoßen noch das Recht der Kläger auf Gehör verletzt. Den fachkundig vertretenen Klägern musste im Streitfall angesichts der oben bereits dargelegten Gesichtspunkte auch ohne einen diesbezüglichen Hinweis des [X.] klar sein, dass sie sämtliche Voraussetzungen des § 33b Abs. 6 EStG darlegen (und nachweisen) mussten, um die Berücksichtigung des [X.] zu erreichen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Berichterstatter des [X.]-[X.]s in dem Erörterungstermin am 09.12.2020 zur einvernehmlichen Beilegung des Rechtsstreits eine "tatsächliche Verständigung" der Gestalt vorgeschlagen hatte, dass sich das [X.] verpflichtete, für die Streitjahre noch einen [X.] nach § 33b Abs. 6 EStG in Höhe von jeweils 924 € zu berücksichtigen, und die Kläger ihr Klagebegehren im Übrigen nicht aufrechterhalten sollten. Nachdem die Kläger die vom Berichterstatter vorgeschlagene "tatsächliche Verständigung" abgelehnt hatten, konnten sie auch ohne einen diesbezüglichen Hinweis des Gerichts nicht ohne weiteres damit rechnen, dass der [X.] des [X.] ihnen im Urteil den [X.] zusprechen werde.

Das [X.] war im Streitfall auch nicht verpflichtet, in den Entscheidungsgründen näher auszuführen, aus welchen Gründen es den Vortrag der Kläger zum Vorliegen der (weiteren) Voraussetzungen des § 33b Abs. 6 EStG als ungenügend ansah und es der Auffassung war, dass sich auch im Übrigen keine Anhaltspunkte aus den Akten für die Berücksichtigung des [X.] ergeben hätten. Das [X.] muss zur Wahrung rechtlichen Gehörs nicht zu allen Ausführungen der Beteiligten im Einzelnen Stellung nehmen und insbesondere nicht begründen, warum es einem Argument nicht folgt. Es genügt vielmehr, wenn die tragenden rechtlichen Erwägungen in der Entscheidung dargestellt werden (ständige Rechtsprechung, z.B. [X.]sbeschluss vom 28.11.2006 - VI B 32/06, [X.], 439). Im Übrigen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene [X.] auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat (Beschlüsse des [X.] vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91, [X.] 86, 133, und vom 05.12.1995 - 1 BvR 1463/89, [X.] 1996, 153; [X.] vom 17.02.2005 - X B 178/03, [X.] 2005, 1121, und vom [X.] - I B 162/08, [X.] 2009, 1458).

2. Von der Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O).

3. [X.] beruht auf § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VI B 1/22

20.09.2022

Bundesfinanzhof 6. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 2. Dezember 2021, Az: 1 K 269/21, Urteil

§ 33b Abs 6 EStG 2009, § 76 Abs 1 S 1 FGO, § 76 Abs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, Art 103 Abs 1 GG, EStG VZ 2014, EStG VZ 2015, EStG VZ 2016, EStG VZ 2017

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20.09.2022, Az. VI B 1/22 (REWIS RS 2022, 5380)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5380

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