Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.05.2011, Az. B 12 KR 81/10 B

12. Senat | REWIS RS 2011, 6250

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - rechtliches Gehör - Erfordernis erneuter Anhörungsmitteilung


Tenor

Auf die Beschwerde der Beigeladenen zu 1. wird der Beschluss des [X.] vom 23. August 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die beklagte Krankenkasse stellte im Jahr 2006 auf Antrag der 1958 geborenen [X.]en zu 1. durch Bescheid fest, dass Letztere seit 1.7.1983 in ihrer Erwerbstätigkeit in der - gemeinsam mit ihrem Ehemann ([X.]er zu 2.) betriebenen - Fleischerei nicht sozialversicherungspflichtig sei. Die klagende Rentenversicherungsträgerin ist dagegen beim [X.] insoweit erfolgreich vorgegangen, als der Bescheid in Bezug auf die verneinte Rentenversicherungspflicht aufgehoben wurde, weil die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung überwögen und keine familienhafte Mithilfe vorliege: Die [X.]e zu 1. erhalte als Gegenwert für ihre Arbeit ein garantiertes monatliches Entgelt, das als Betriebsausgabe verbucht und als lohnsteuerpflichtig behandelt werde. Die in den Betrieb des [X.]en zu 2. eingegliederte [X.]e zu 1. trage trotz Leistung von Sicherheiten für Verbindlichkeiten des [X.]en zu 2. kein Unternehmerrisiko; eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts bestehe nicht. Die Arbeit sei nicht selbstbestimmt; das Weisungsrecht unter Ehegatten werde nahezu stets nur mit Einschränkungen ausgeübt (Urteil vom 11.3.2008).

2

Die [X.]e zu 1. hat zur Begründung ihrer dagegen eingelegten Berufung vorgetragen, das Entgelt (2180 Euro bei mindestens 70 Wochenstunden Arbeitszeit) bleibe deutlich hinter demjenigen einer Fleischereifachverkäuferin zurück. Privatentnahmen aus dem Betrieb würden nicht getätigt. Bei Bedarf habe sie Ersparnisse in den Betrieb fließen lassen. Zwischen ihr und dem [X.]en zu 2. bestehe eine getrennte eigenverantwortliche Aufgabenverteilung; sie habe bezüglich des [X.] alleinige Personalgewalt. Frühere Angaben seien wegen fehlender anwaltlicher Vertretung in verschiedener Hinsicht fehlerhaft bzw [X.] worden; so sei die Fleischerei von ihren (der [X.]en zu 1.) Eltern, nicht denjenigen ihres Ehemannes übernommen worden.

3

Nach von der [X.]en zu 1. verweigerter Zustimmung zur Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter hat das L[X.] die Beteiligten mit Verfügung vom [X.] auf die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 [X.]G hingewiesen, ua weil die angefochtene Entscheidung dem "geltenden Recht entsprechen dürfte" und nicht ersichtlich sei, was eine mündliche Verhandlung an neuen Gesichtspunkten ergeben könne. Hierzu hat die [X.]e zu 1. mit Schriftsätzen vom [X.] (14 Seiten zzgl 16 Seiten Anlagen) und 21.6.2010 Stellung genommen und der Entscheidung durch Beschluss ua deshalb widersprochen, weil sich das L[X.] durch - im Einzelnen aufgezeigte - nötige Beweiserhebungen und Anhörung der [X.]en in der mündlichen Verhandlung ein eigenes Bild von den konkreten Verhältnissen machen müsse.

4

Das L[X.] hat die Berufung anschließend ohne weitere Ermittlungen und Hinweise an die Beteiligten nach § 153 Abs 4 [X.]G mit Beschluss vom [X.] zurückgewiesen: Bei Anwendung der Grundsätze aus der Rechtsprechung des B[X.] zur Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit seien eine Beweisaufnahme und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich. Auf die zutreffenden Darlegungen des [X.] werde Bezug genommen, insbesondere zum gelebten Arbeitsverhältnis, zum fehlenden Unternehmensrisiko sowie zur Anmietung des Betriebsgrundstücks. Trotz der auch für eine abhängige Beschäftigung sprechenden Umstände sei ausschlaggebend, dass die [X.]e zu 1. in den Betrieb des [X.]en zu 2. eingegliedert sei und diesem diene; der [X.]e zu 2. besitze die Rechtsmacht, ihr jederzeit Weisungen zu erteilen. Es könne ohne Beweisaufnahme als wahr unterstellt werden, dass tatsächlich Weisungen nicht erteilt worden seien, weil sich dadurch am Ergebnis nichts ändere. Die [X.]e zu 1. habe einen sonst anzustellenden Arbeitnehmer ersetzt; jahrelang sei auch gegenüber Arbeitsamt und Steuerbehörden von sozialversicherungs- bzw lohnsteuerpflichtiger Beschäftigung ausgegangen worden.

5

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich die [X.]e zu 1. gegen die Nichtzulassung der Revision im L[X.]-Beschluss und rügt ua die Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G. Das L[X.] habe wegen des verweigerten Einverständnisses mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter und somit aus sachfremden Erwägungen sowie in grober Fehleinschätzung durch Beschluss entschieden. Im Schriftsatz vom [X.] sei unter Hinweis auf fehlende Sachverhaltsaufklärung und Entscheidungsreife ausdrücklich die Durchführung der mündlichen Verhandlung beantragt worden. Damit habe sich das L[X.] nicht auseinandergesetzt und eine erforderliche erneute Anhörung unterlassen. Durch sein Vorgehen sei das L[X.] unvorschriftsmäßig besetzt gewesen. Gleichzeitig seien ihr rechtliches Gehör, die Amtsermittlungspflicht und der Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens verletzt worden.

6

II. Die zulässige Beschwerde der [X.]en zu 1. gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des L[X.] ist begründet. Der Beschluss ist verfahrensfehlerhaft, aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G).

7

Die [X.]e zu 1. rügt formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G) und im Ergebnis zutreffend als Verfahrensfehler die Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G). Die [X.]e zu 1. beanstandet jedenfalls mit Recht, dass das L[X.] sie vor der Beschlussfassung über die Berufung nicht in der gesetzlich gebotenen Weise angehört hat.

8

Gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 [X.]G kann das L[X.] die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die [X.] nach § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im [X.] nicht verkürzt werden darf (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 153 [X.] Rd[X.]; B[X.] [X.] 3-1500 § 153 [X.] f mwN). Zwar hat das L[X.] die Beteiligten mit Verfügung vom [X.] zur Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 [X.]G angehört und hat sich die [X.]e zu 1. dazu geäußert. Gleichwohl hat das L[X.] hier die Berufung nach § 153 Abs 4 [X.]G mit seinem Beschluss vom [X.] verfahrensfehlerhaft zurückgewiesen. Nach ständiger Rechtsprechung des B[X.] ist nämlich eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (vgl zB: B[X.] Beschluss vom 20.10.2010 - [X.] R 63/10 B - mwN, zur Veröffentlichung in [X.] vorgesehen; B[X.] [X.] 3-1500 § 153 [X.]; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 9. Aufl 2008, § 153 Rd[X.] 20, 20a mwN). Eine neue Anhörung ist daher zB dann erforderlich, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substanziiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, bzw wenn er einen Beweisantrag stellt oder die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind. Das L[X.] muss den Beteiligten dann vor der Beschlussfassung erneut Gelegenheit zur Stellungnahme geben und sie darauf hinweisen, dass das Gericht dem neuen Vorbringen, insbesondere Beweisanträgen, nicht zu folgen beabsichtigt, sondern am Verfahren nach § 153 Abs 4 Satz 1 [X.]G festhält (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 153 [X.] 1 Leitsatz 2 und Rd[X.] 6 f; [X.], aaO, § 153 Rd[X.] 20a).

9

Vorliegend hat die [X.]e zu 1. auf die Anhörungsmitteilung des L[X.] ausführlich dargelegt, dass und weshalb ihre Erwerbstätigkeit aus Rechtsgründen und nach dem ggf weiter aufzuklärenden Sachverhalt nicht dem Typus einer abhängigen Beschäftigung entspreche. Sie hat die hierzu in der Rechtsprechung des B[X.] entwickelten Anhaltspunkte konkret in vielerlei Hinsicht zu widerlegen gesucht: Sie sei keinen Weisungen des [X.] zu 2. unterworfen, habe die Betriebsräume gemeinsam mit ihm angemietet und arbeite somit nicht in einer "fremden" Betriebsstätte; sie werde bei ihrer Arbeit nicht eingeteilt, angeleitet oder überwacht, sondern überwache als Chefin selbst die Angestellten im Laden und treffe diesbezügliche Entscheidungen selbstständig; im [X.] und beim Partyservice handele sie unternehmerisch; ein schriftlicher Arbeitsvertrag sei nicht geschlossen worden; gemessen an den für den Arbeitsbereich einschlägigen Tarifverträgen seien ihr Entgelt und ihre Arbeitszeit gänzlich atypisch und nur durch Selbstständigkeit zu erklären; das Entgelt sei - so ua in den Monaten April und Mai 2010 - nicht immer ausgezahlt worden; sie (die Klägerin) nehme weder Erholungsurlaub noch Weihnachtsgeld in Anspruch; sie habe wiederholt eigene finanzielle Mittel - insgesamt mehrere 10 000 Euro - in den Betrieb eingebracht, der entgegen den vom L[X.] fehlerhaft weiter herangezogenen Feststellungen des [X.] von ihren Eltern übernommen worden sei; ihr Einsatz könne bereits aus finanziellen Gründen nicht durch [X.] kompensiert werden. Zum Nachweis dieser Behauptungen und zur Ermittlung der genauen Verhältnisse im Betrieb sowie der Absprachen zwischen ihr und dem [X.]en zu 2. hat die [X.]e zu 1. dessen und ihre Anhörung in einer mündlichen Verhandlung angeregt. Ferner hat sie verschiedene Urkunden in Kopie vorgelegt und zu einzelnen Behauptungen Beweis angeboten durch Vorlage von Urkunden sowie Vernehmung des [X.], ihrer Kinder sowie des Steuerberaters.

Ob das L[X.] bei dieser Sachlage von weiteren Beweiserhebungen absehen durfte, muss hier nicht entschieden werden; es hat durch Ablehnung einer Beweiserhebung zum praktischen Fehlen von Weisungen an die [X.]e zu 1. immerhin erkennen lassen, dass es deren Vortrag wenigstens punktuell zur Kenntnis genommen hat. Das L[X.] durfte jedoch jedenfalls aufgrund des Vorbringens der [X.]en zu 1. auf die Anhörungsmitteilung hin nicht ohne erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G durch Beschluss entscheiden; denn die Stellungnahme der [X.]en zu 1. zur ersten Anhörung konkretisierte nicht lediglich bereits in rechtlich unbedeutender Weise vorangegangenen Vortrag, sondern war in wesentlichen Teilen neu, insoweit substanziiert und auch entscheidungserheblich. So sind sowohl ein wiederholter Entgeltverzicht aufgrund der wirtschaftlichen Lage des Betriebs als auch private [X.] in fünfstelliger Höhe Gesichtspunkte, die im Falle ihrer Erweislichkeit vom L[X.] im Rahmen der zur Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit gebotenen Gesamtabwägung (stRspr vgl nur B[X.] [X.] 4-2400 § 7 [X.] 7 Rd[X.] 15 ff mwN) mit zu würdigen gewesen wären. Obwohl diese Würdigung nicht notwendig zu einem anderen Ergebnis des Rechtsstreits führen musste, hätte das L[X.] vor einer Entscheidung durch Beschluss jedenfalls zumindest auf die Stellungnahme der [X.]en zu 1. reagieren und sie darüber informieren müssen, dass und weshalb es ihren neuen Vortrag ggf für unerheblich hielt.

Bei einer - hier mithin vorliegenden - Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G bedarf es keines näheren [X.] auf die Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers iS von § 160 Abs 2 [X.] [X.]G. Wenn das L[X.] nur nach erneuter Anhörungsmitteilung im gewählten vereinfachten Beschlussverfahren entscheiden durfte, bedarf es keiner Prüfung, was die [X.]e zu 1. auf den gebotenen schriftlichen Hinweis zum Festhalten an einer Entscheidung durch Beschluss oder in einer mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte. Es handelt sich insoweit vielmehr um einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 202 [X.]G iVm § 547 [X.] 1 ZPO; denn die Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G führt zur nicht vorschriftsmäßigen Besetzung der Richterbank ohne [X.] (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 153 [X.] Rd[X.] 10; B[X.] [X.] 3-1500 § 153 [X.] 13 S 40; vgl auch B[X.] [X.] 4-1500 § 158 [X.] 2 Rd[X.] 10).

Der Senat macht zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 [X.]G Gebrauch und verweist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurück. Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit zu entscheiden haben.

Meta

B 12 KR 81/10 B

25.05.2011

Bundessozialgericht 12. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Berlin, 11. März 2008, Az: S 81 KR 2672/06

§ 62 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 25.05.2011, Az. B 12 KR 81/10 B (REWIS RS 2011, 6250)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6250

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 13 R 203/15 B (Bundessozialgericht)

(Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 S 2 SGG - entscheidungserhebliche …


B 12 KR 14/15 B (Bundessozialgericht)

(Sozialgerichtliches Verfahren - Verletzung rechtlichen Gehörs wegen nicht erfolgter Anhörung nach § 153 Abs 4 …


B 12 R 23/20 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Gehörsverletzung - Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung


B 12 KR 2/21 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung


B 11 AL 16/18 R (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler im Berufungsverfahren - Zurückweisung durch Beschluss - vorherige Anhörung der Beteiligten …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.