BT-Drucksache 18/9900

Zugang zu Substitutionsprogrammen für Menschen in Haft

Vom 28. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9900
18. Wahlperiode 28.09.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche,
Elisabeth Scharfenberg, Tom Koenigs, Hans-Christian Ströbele,
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai Gehring, Tabea Rößner, Ulle Schauws,
Doris Wagner, Beate Walter-Rosenheimer, Luise Amtsberg, Britta Haßelmann,
Renate Künast, Irene Mihalic, Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zugang zu Substitutionsprogrammen für Menschen in Haft

Ein heroinabhängiger Patient hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Men-
schenrechte (EGMR) gegen die Bundesrepublik Deutschland geklagt, da ihm die
Versorgung mit dem Ersatzstoff Methadon in einem bayerischen Gefängnis ver-
wehrt wurde. Der Kläger wurde vor seiner Haft bereits über 17 Jahre mit Metha-
don behandelt. Danach wurde ihm in der Haft jahrelang eine Fortführung dieser
Behandlung verweigert. Dadurch wurden ihm psychische und physische Leiden
zugefügt (vgl. Süddeutsche.de vom 1. September 2016). Die Richter des EGMR
urteilten einstimmig, dass es sich in diesem Fall um einen Verstoß Deutschlands
gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) handele
(vgl. Pressemitteilung des EGMR vom 1. September 2016).
Eine offenbar unzureichende gesundheitliche Versorgung in bayerischen Haftan-
stalten trat ebenfalls im Juli 2016 ins öffentliche Bewusstsein, als mehrere Men-
schen in der Justizvollzugsanstalt Würzburg in den Hungerstreik traten und unter
anderem eine Versorgung suchterkrankter Menschen mit einem Methadon-Pro-
gramm forderten.
Anlässlich des Welt-Drogentages am 26. Juni 2016 forderte die Deutsche Haupt-
stelle für Suchtfragen (DHS) e. V. die bundesweite Etablierung von Substituti-
onsprogrammen für Menschen in Haft. Die DHS schildert weiter, dass „[d]iese
Behandlung […] den Inhaftierten oftmals nicht gewährt [wird] oder bereits sub-
stituierte Drogenkonsumenten […] die Behandlung nach ihrer Inhaftierung nicht
fortsetzen [können]. Drogenabhängige benötigen aber im Vollzug ganz besonders
ein auf sie zugeschnittenes Angebot psychosozialer und medizinischer Maßnah-
men. Auch Spritzentauschprogramme verringern die Ansteckungsgefahr mit In-
fektionskrankheiten (Hepatitis, HIV), werden in deutschen Haftanstalten aber
kaum umgesetzt“ (vgl. Pressemitteilung der DHS vom 23. Juni 2016).
Bei der Substitutionstherapie erhalten Menschen, die an einer Heroinabhängig-
keitserkrankung leiden, eine Versorgung mit Austauschprodukten (wie Metha-
don) oder eine Originalstoffversorgung (mit Diamorphin). Ziel ist es, betroffene
Personen dauerhaft von der Substanz zu entwöhnen bzw. durch eine medizinische
Dauersubstitution eine Schadensminderung zu erwirken. Die Substitutionsthera-
pie trägt zur Stabilisierung und Verbesserung sowohl des Gesundheitszustands
als auch der sozialen Situation der Patientinnen und Patienten bei und hat sich in

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der Behandlung von Menschen mit Heroinabhängigkeitserkrankung erfolgreich
etabliert.
Nach der Föderalismusreform 2006 fällt der Strafvollzug in die alleinige Kompe-
tenz der Länder. Menschen in Haft haben ein Recht auf eine hinreichende medi-
zinische Versorgung. Die Justizvollzugsanstalten haben die Fürsorgepflicht für
Menschen in Haft und für diese den Zugang zur Gesundheitsversorgung sicher-
zustellen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des

EGMR vom 1. September 2016, no. 62303/13, und welchen Handlungsbe-
darf leitet sie daraus ab?

2. a) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Menschen
in Haft, die illegale Drogen konsumieren (bundesweit)?

b) Welche illegalen Substanzen werden konsumiert, und wie verbreitet ist
der jeweilige Substanzkonsum unter den Menschen in Haft?

3. a) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil von Men-
schen in Haft, die illegale Drogen konsumieren und an einer Abhängig-
keitserkrankung leiden (bitte nach einzelnen Substanzen und Anzahl der
Menschen mit Abhängigkeitserkrankung aufschlüsseln)?

b) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil von Konsu-
mentinnen und Konsumenten illegaler Drogen in Haftanstalten aufge-
schlüsselt nach einzelnen Bundesländern?

4. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Dunkelziffer bei Men-
schen in Haft, die illegale Drogen konsumieren (bundesweit) (bitte für die
letzten zehn Jahre aufschlüsseln)?

5. Wie hoch ist die Zahl der Drogentoten in Haft in den letzten zehn Jahren?
Wie gestaltet sich die Verteilung der Drogentoten unter den Bundesländern?

6. a) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Justiz-
vollzugsanstalten, die ein Ersatzstoffprogramm für Menschen in Haft be-
reitstellen?

b) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Justiz-
vollzugsanstalten, die ein Originalstoffprogramm (Diamorphin-Pro-
gramm) für Menschen in Haft bereitstellen?

c) Wie gestaltet sich die Verteilung der Programme unter den Bundeslän-
dern?

7. Wie viele Menschen in Haft erhalten nach Kenntnis der Bundesregierung
eine Ersatzstoffbehandlung?
Wie gestaltet sich die Verteilung der Behandlung aufgeschlüsselt nach Bun-
desländern?

8. Wie viele Menschen in Haft erhalten nach Kenntnis der Bundesregierung
eine Originalstoffbehandlung (Diamorphin-Behandlung)?
Wie gestaltet sich die Verteilung aufgeschlüsselt nach Bundesländern?
a) Wenn Menschen in Haft keine Originalstoffbehandlung erhalten, warum

ist dies so, wenn sich diese Form der Behandlung doch bewährt hat?

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9. Wie viele Fälle sind der Bundesregierung in den letzten zehn Jahren bekannt
geworden, in denen Menschen in Haft mit einer Heroinabhängigkeitserkran-
kung keine Substitutionstherapie erhalten haben (bitte die einzelnen Fälle
nach Bundesländern aufschlüsseln)?
a) In wie vielen Fällen handelte es sich um eine Verwehrung der Veranlas-

sung einer Substitutionstherapie?
b) In wie vielen Fällen handelte es sich um eine Verwehrung der Fortführung

einer Substitutionstherapie?
10. Wie hoch ist der Anteil der Menschen in Haft, die nach Kenntnis der Bun-

desregierung nach Antritt ihrer Haftstrafe einen „Kalten Entzug“ erleiden?
Wie gestaltet sich die Verteilung dieser Fälle aufgeschlüsselt nach Bundes-
ländern?

11. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Medizine-
rinnen und Mediziner, die in Justizvollzugsanstalten tätig sind und über eine
suchtmedizinische Ausbildung verfügen?
Wie gestaltet sich die Verteilung der in Justizvollzugsanstalten tätigen sucht-
medizinischen Fachärztinnen und Fachärzte aufgeschlüsselt nach Bundes-
ländern?

12. In wie vielen Fällen ziehen nach Kenntnis der Bundesregierung Justizvoll-
zugsanstalten externe Expertinnen und Experten (konsiliarische Beratung)
zur Hilfe, um (mögliche) medizinische Maßnahmen der Substitutionsthera-
pie bei Menschen in Haft zu eruieren?
Wie gestaltet sich die Verteilung der Fälle aufgeschlüsselt nach Bundeslän-
dern?

13. a) Inwieweit stehen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Justizvollzugs-
anstalten Fort- und Weiterbildungen zum Umgang mit Menschen mit ei-
ner Abhängigkeitserkrankung in Haft zur Verfügung?
Wie ist die Verteilung dieser Bildungsmöglichkeiten aufgeschlüsselt nach
Bundesländern?

b) Wie hoch ist die Nachfrage nach solchen Fort- und Weiterbildungen bei
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Justizvollzugsanstalten?

14. Wie viele Menschen in Haft wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in
den letzten zehn Jahren in Justizvollzugsanstalten anderer Bundesländer ver-
legt, weil in der ursprünglichen Justizvollzugsanstalt keine suchtmedizini-
sche Versorgung gewährleistet wurde/werden konnte (bitte Anzahl der Fälle
nach Bundesländern aufschlüsseln)?

15. Wie viele Menschen in Haft mit einer Heroinabhängigkeitserkrankung sind
nach Kenntnis der Bundesregierung an einer
a) HIV-Infektion erkrankt,
b) Hepatitis-C-Infektion erkrankt,
c) HIV- und gleichzeitiger Hepatitis-C-Infektion erkrankt,
d) Erhalten aktuell alle Menschen in Haft mit den o. g. Infektionserkrankun-

gen nach Kenntnis der Bundesregierung eine dem medizinischen Stan-
dard entsprechende Therapie?

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16. In wie vielen Justizvollzugsanstalten werden nach Kenntnis der Bundesre-

gierung Spritzenaustauschprogramme für Menschen in Haft bereitgestellt?
Wie gestaltet sich die Verteilung der Programme unter den Bundesländern?
a) Wie wirkt sich die Bereitstellung von Spritzenaustauschprogrammen in

den Justizvollzugsanstalten nach Kenntnis der Bundesregierung auf den
Gesundheitszustand der Menschen in Haft aus?

b) Durch welche konkreten Maßnahmen unterstützt die Bundesregierung die
Einführung von Spritzenaustauschprogrammen in Justizvollzugsanstal-
ten?

17. a) Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, in denen die Dosierung
des Ersatz- oder Originalstoffes bei Menschen in Haft mit einer Abhän-
gigkeitserkrankung nicht der Menge entsprach, die sie benötigten, so dass
die reduzierte Medikamentengabe als Disziplinarmaßnahme angewandt
wurde (bitte nach Fällen pro Bundesland für die letzten zehn Jahre auf-
schlüsseln)?

b) Sind der Bundesregierung darüber hinaus Studien zu diesem Vorgehen
bekannt, und wenn ja, welche?

c) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus, und wel-
chen Handlungsbedarf leitet sie ab?

18. Welche Mengen illegaler Drogen werden nach Kenntnis der Bundesregie-
rung jährlich in Justizvollzugsanstalten geschmuggelt (bitte nach Menge ein-
zelner Substanzen aufschlüsseln)?

19. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung einen Mangel an psychothera-
peutischer Versorgung in Justizvollzugsanstalten?
a) Wenn nein, auf welche Erhebungen stützt die Bundesregierung ihre Ant-

wort?
b) Wenn ja, welche Schlussfolgerungen und welchen Handlungsbedarf leitet

die Bundesregierung daraus ab?
20. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Menschen

in Haft mit einer Abhängigkeitserkrankung, die nach Haftentlassung in das
Hilfesystem entlassen werden?

21. Wie viele Menschen, die an einer Heroinabhängigkeit erkrankt sind, sterben
nach Kenntnis der Bundesregierung nach Haftentlassung an einer Überdo-
sierung, weil sie nicht in das Hilfesystem entlassen wurden (bundesweit und
aufgeschlüsselt nach Bundesländern)?

22. Wenn der Bundesregierung keine Daten zur Situation von Menschen in Haft
mit Abhängigkeitserkrankungen vorliegen, insbesondere zur Epidemiologie,
Sicherstellung der suchtmedizinischen und psychotherapeutischen Versor-
gung (Substitutionsprogramme, Spritzenaustauschprogramme etc.), Über-
führung ins Hilfesystem nach Haftentlassung etc., plant die Bundesregierung
eine entsprechende bundesweite Erhebung bzw. Zusammenführung der Da-
ten aus den Bundesländern?
Und wenn nein, warum nicht?

23. Welche Möglichkeiten der bundesgesetzlichen Regelung im Rahmen des Be-
täubungsmittelgesetzes oder anderer Gesetze stehen der Bundesregierung
zur Verfügung, um die suchtmedizinische Versorgung von Menschen in Haft
zu verbessern bzw. bundeseinheitliche Standards vorzugeben?

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24. Wird die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern gesetzliche

Regelungen erarbeiten, die eine hinreichende suchtmedizinische Versorgung
von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen in Haft sicherstellen?
a) Wenn ja, wann?
b) Wenn nein, warum nicht?

25. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Re-
gelung zur Sicherstellung einer hinreichenden suchtmedizinischen Versor-
gung, insbesondere von Substitutionsprogrammen und Spritzenaustausch-
programmen, in Justizvollzugsanstalten, und plant die Bundesregierung ei-
nen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen?
Wenn ja, welche konkreten Regelungen sollen im Gesetzentwurf berücksich-
tigt werden?

Berlin, den 28. September 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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