BT-Drucksache 18/9709

Zulassungspflicht für Finanzprodukte schaffen - Finanz-TÜV einführen

Vom 21. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9709
18. Wahlperiode 21.09.2016
Antrag
der Abgeordneten Susanna Karawanskij, Dr. Axel Troost, Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Jutta Krellmann, Thomas Lutze, Thomas Nord,
Richard Pitterle, Michael Schlecht, Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE.

Zulassungspflicht für Finanzprodukte schaffen ‒ Finanz-TÜV einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In den vergangenen Jahrzehnten überschwemmte eine stetig wachsende Menge unter-
schiedlichster Kapitalanlagen die Finanzmärkte. Dadurch wurden die Finanzmärkte
immer komplexer, intransparenter und instabiler. Dies kulminierte 2007 in einer sys-
temischen Krise des Weltfinanzsystems. Sie war nach der Asienkrise 1997, der Pleite
des Hedgefonds LTCM 1998, der Argentinienkrise 2001/2002 und der Börsenkrise
2001 bereits die fünfte Finanzmarktkrise innerhalb von nur zehn Jahren.
Auslöser waren insbesondere komplexe Finanzinstrumente (u. a. Collateralized Debt
Obligations, CDOs), mit denen Kreditrisiken aus dem US-Immobilienmarkt in unüber-
sichtliche Teile zerlegt wurden. CDOs stehen seitdem exemplarisch für den Exzess auf
den Finanzmärkten, bei dem mit hohem Aufwand Finanzinstrumente konstruiert wer-
den, die sich unter turbulenten Marktbedingungen als weitgehend unverständlich,
komplett unberechenbar und unbeherrschbar herausstellen. Ähnlich unrühmlich haben
sich z. B. Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, CDS) oder Zertifikate
präsentiert. Viele Zertifikate – auch die der zusammengebrochenen Bank Lehman
Brothers – sind durch fragwürdige Beratungen von Banken und Anlageberatern in die
Hände von Kleinanlegerinnen und Kleinanlegern gelangt und haben große Verluste
beschert. Ähnlich ist es vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern mit den Genuss-
scheinen des Windparkbetreibers Prokon gegangen.
Ein Aussortieren von besonders riskanten, intransparenten oder für den jeweiligen An-
leger grundsätzlich ungeeigneten Finanzinstrumenten (u. a. als „Schrottpapiere“ und
„toxische Papiere“ bezeichnet) und damit ein Ausdünnen der Finanzmärkte ist nicht
nur aus Gründen des Anlegerschutzes notwendig, sondern auch, um die Finanzmarkt-
stabilität zu erhöhen und die Bereicherung von Spekulanten und Finanzalchemisten
zulasten von Gesellschaft und Realwirtschaft zurückzudrängen.
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2008 hatten die führenden Industrie- und
Schwellenländer, die G20, versprochen, dass kein Finanzplatz, kein Finanzprodukt
und kein Finanzakteur unreguliert bleiben soll. Doch umgesetzt wurde dies nicht. Im-
mer noch ist es in Deutschland gängige Praxis, dass grundsätzlich jedes Finanzinstru-
ment erlaubt ist und auf dem Markt gehandelt werden darf, das nicht ausdrücklich ver-
boten wurde und die formalen Kriterien der Prospektpflicht erfüllt. Jede Regulierung

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droht deswegen durch kreative Gestaltungen der Finanzbranche wieder unterlaufen zu
werden. Dieses Hase-und-Igel-Spiel mit der Finanzbranche ist mit den bisher einge-
setzten Mitteln nicht zu gewinnen.
Es ist deshalb eine Verfahrensumkehr erforderlich: Wer eine neuartige, noch nicht zu-
gelassene Kapitalanlage bzw. ein Finanzinstrument in Umlauf bringen will, muss sich
zukünftig einer obligatorischen Zulassungsprüfung („Finanz-TÜV“) unterwerfen.
Durch die Einführung eines Finanz-TÜV als präventive Regulierung sind die Finanz-
dienstleister zukünftig verpflichtet, die gesamtgesellschaftliche und volkswirtschaftli-
che Unbedenklichkeit ihrer Finanzinstrumente sowie den Grad der Verbraucher-
freundlichkeit der Kapitalanlage beim Antrag auf Zulassung nachzuweisen. Die Be-
weislast, dass die Kapitalanlage die für die Zulassung notwendigen Kriterien erfüllt,
liegt bei den Antragstellern. Dies ist bislang im Finanzsektor noch nicht gegeben, im
Gegensatz zu Zulassungsprüfungen bei Arzneimitteln oder technischen Anlagen. Un-
geachtet einer Zulassung durch den Finanz-TÜV bleibt der Antragsteller bzw. Emit-
tent weiterhin im Sinne einer Gefährdungshaftung für sein Produkt verantwortlich
(z. B. ähnlich der Haftung eines Architekten für die Statik eines von ihm entworfenen
Hauses, auch wenn er sich dazu eines externen Statikers bedient hat) und ist gegebe-
nenfalls schadensersatzpflichtig.
Da in der EU ein offener Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen besteht und die Zu-
ständigkeit für die Finanzmarktregulierung ebenfalls auf EU-Ebene liegt, kann ein
wirksamer Finanz-TÜV nur EU-weit eingeführt werden. Längerfristig ist natürlich ein
weltweiter Finanz-TÜV anzustreben.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich umgehend für eine EU-weite obligatorische Zulassungsprüfung für Kapitalanla-
gen und Finanzinstrumente aller Art („Finanz-TÜV“) einzusetzen. Dabei ist insbeson-
dere zu berücksichtigen:
– Der Finanz-TÜV soll alleinig über die Zulassung und Nichtzulassung einer Ka-

pitalanlage entscheiden und dabei die Zulassung entlang gesamtgesellschaftli-
cher/volkswirtschaftlicher sowie verbraucherschutzrelevanter Kriterien prüfen.
Der Finanz-TÜV dient dem öffentlichen Interesse (Stabilität und Integrität des
Finanzsystems, Anlegerschutz) und wird auf Artikel 114 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union gestützt.

– Ein geeigneter Ort für die Ansiedlung des Finanz-TÜV ist ein eigenständiger
Funktionsbereich bei der Europäischen Behörde für Wertpapieraufsicht (ESMA),
ergänzt durch eine enge Kooperation mit der Europäischen Bankenaufsichtsbe-
hörde (EBA) und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswe-
sen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA).

– Das erfolgreiche Durchlaufen des Zulassungsverfahrens durch den Finanz-TÜV
ist generelle Voraussetzung für den Handel mit Kapitalanlagen und Finanzinstru-
menten aller Art in der EU.

– Der Emittent einer Kapitalanlage haftet für sein Produkt im Sinne einer Gefähr-
dungshaftung.

– Die Zulassung durch den Finanz-TÜV begründet keinen Gewährleistungsan-
spruch von Anlegern gegenüber einer öffentlichen Institution. Eine Nichtzulas-
sung muss mit öffentlichem Interesse, zum Beispiel der Stabilität des Finanz-
markts, gerechtfertigt und verhältnismäßig sein.

– Die Zulassung von Kapitalanlagen enthält eine Prüfung, für welche Zielgruppen
(private Anleger/Kleinanleger oder professionelle/institutionelle Anleger) mit
welcher Anlagestrategie die Kapitalanlage zugelassen wird.

– Nicht zulassungsfähige, aber schon im Umlauf befindliche Kapitalanlagen laufen

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aus bis zur Fälligkeit. Nicht zulassungsfähige, aber schon im Umlauf befindliche
Kapitalanlagen, die keine Fälligkeit haben, laufen bis maximal zehn Jahre nach
Beginn des Finanz-TÜV aus.

– Der Finanz-TÜV wird über Gebühren für die Bearbeitung von Zulassungsanträ-
gen finanziert, und zwar in Abhängigkeit von der Komplexität der beantragten
Kapitalanlage und entsprechend dem Aufwand der Zulassungsprüfung.

Berlin, den 21. September 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Begründung

Seit den 1970er-Jahren wurden die Finanzmärkte in fast allen Ländern weitgehend liberalisiert. Die internationale
Finanzkrise seit 2007 hat eindrucksvoll bewiesen, dass dadurch ein Finanzsystem entstanden ist, dessen Instabi-
lität und finanzielle Risiken für die Allgemeinheit und die Staatshaushalte inakzeptabel sind.
Die bisherigen – leider zu zaghaften – Ansätze, aus der Finanzkrise Konsequenzen zu ziehen und die Finanz-
märkte wieder stärker zu regulieren, sind nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch unzureichend.
Denn die Geschichte der Finanzmärkte hat gezeigt, dass die meisten Finanzregulierungen durch die Energie und
Phantasie einer riesigen Finanzindustrie stets umgangen und hintertrieben werden, indem neue und meist immer
komplexer werdende Finanzinstrumente entwickelt und vertrieben werden. Mit den Mitteln demokratischer Ge-
setzgebung kann man diesen Ausweich- und Umgehungsstrategien der Finanzindustrie nur hilflos hinterherlau-
fen, denn Demokratie braucht Zeit.
Aus sehr ähnlichen Erwägungen hat der Gesetzgeber daher z. B. für die Entwicklung und den Vertrieb in den
Bereichen Arzneimittel, für komplexe technische Anlagen und für Chemikalien das Marktzugangsprinzip verän-
dert. Bevor neu entwickelte Arzneimittel und Chemikalien in Umlauf gebracht oder komplexe technische Anla-
gen in Betrieb genommen werden, sind sie Zulassungs- und Registrierungspflichten unterworfen. Ein Arzneimit-
telhersteller muss die Wirkungsfähigkeit eines neuen Medikaments ebenso nachweisen wie die Beherrschbarkeit
und Verhältnismäßigkeit der unerwünschten Nebenwirkungen.
Der Finanz-TÜV soll diese Umkehr des Marktzuganges, wie wir sie von Medikamenten kennen, auf den Bereich
der Finanzinstrumente übertragen. Statt – wie bisher – alles als erlaubt zu akzeptieren, was nicht ausdrücklich
verboten ist, sollen in Zukunft nur noch solche Finanzinstrumente in Umlauf gebracht werden dürfen, die aus-
drücklich durch den Finanz-TÜV zugelassen wurden.
Der Finanz-TÜV hingegen prüft daher alle Kapitalanlagen, bevor sie für den Handel zugelassen werden, bereits
gehandelte Produkte werden sukzessiv überprüft und werden entweder vom Markt genommen oder erhalten eine
Zulassung. Das führt dazu, dass extrem riskante und kaum noch durchschaubare Produkte nicht mehr gehandelt
werden können, was zu mehr Finanzmarktstabilität und Verbraucherschutz führt. Das Konzept eines Finanz-
TÜV sowie diesbezügliche Fragen u. a. zu Mindeststandards der Zulassungsprüfung oder Haftungsfragen wurden
in einem Diskussionspapier der Fraktion DIE LINKE. ausführlich ausgearbeitet (www.linksfraktion.de/positi-
onspapiere/eckpunkte-ausgestaltung-finanz-tuev/).
Mehr Finanzstabilität und besserer finanzieller Verbraucherschutz sind heute wichtiger denn je, denn das anhal-
tende Niedrigzinsumfeld sorgt dafür, dass sich private (und institutionelle) Anlegerinnen und Anleger vermehrt
für Kapitalanlagen mit höheren Risiko interessieren (vgl. WirtschaftsWoche, „Zinsfalle mit heiklen Folgen“,
10.06.2016, S. 86), weil konservative Kapitalanlagen inzwischen kaum noch Renditen abwerfen. Es besteht daher
erneut die Gefahr, dass zu hohe Risiken eingegangen werden und Anlegerinnen und Anleger zum Beispiel auf
den Grauen Kapitalmarkt, dessen strikte Regulierung der Bundesregierung auch nicht mit dem Kleinanleger-
schutzgesetz gelang, ausweichen. Ein Finanz-TÜV würde dafür sorgen, dass für Verbraucherinnen und Verbrau-
cher schädliche und hochriskante Kapitalanlagen nur schwerlich in deren Hände gerieten.

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Insgesamt wird durch einen Finanz-TÜV das Finanzmarktvolumen deutlich abnehmen. Neben einer Komplexi-
tätsreduktion auf den Finanzmärkten sorgt ein Finanz-TÜV für eine weitgehende Beendigung von Regulierungs-
umgehung (Steuervermeidung etc.) sowie für die Eindämmung hochspekulativer und unseriöser Kapitalanlagen.
In der Folge ist eine erhöhte Finanzmarktstabilität zu erwarten. Übersichtlichere Finanzmärkte mit ökonomisch
sinnvollen und transparenten Finanzinstrumenten sind zudem wichtige Grundlage eines effektiven finanziellen
Verbraucherschutzes.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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