BT-Drucksache 18/9667

Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft durchsetzen

Vom 20. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9667
18. Wahlperiode 20.09.2016
Antrag
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Cornelia Möhring, Sigrid Hupach, Caren
Lay, Herbert Behrens, Karin Binder, Dr. Rosemarie Hein, Kerstin Kassner,
Ralph Lenkert, Dr. Gesine Lötzsch, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold
(Havelland), Dr. Petra Sitte, Katrin Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion
DIE LINKE.

Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft durchsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Sowohl strukturelle als auch direkte Frauendiskriminierung ist an Hochschulen und
außerhochschulischen Forschungseinrichtungen nach wie vor Alltag: Das gilt teil-
weise für ganze Fachrichtungen und es gilt besonders für die Führungs- und Entschei-
dungsebenen. Obwohl über die Hälfte aller Studienabschlüsse von Frauen erbracht
werden und es im Bereich der Promotionen seit Jahrzehnten bereits fächerübergreifend
einen stabilen Frauenanteil von mindestens einem Drittel bis über 40 Prozent gibt, er-
leben wir keinen angemessen schnellen und flächendeckenden Anstieg des Frauenan-
teils unter den Habilitierenden oder innerhalb der ProfessorInnenschaft. Nach wie vor
sinkt der Anteil der Wissenschaftlerinnen, die an Hochschulen oder außerhochschuli-
schen Forschungseinrichtungen tätig sind mit steigendem Qualifikationsniveau.
Laut dem Datenreport 2015 der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) zu
Chancengleichheit in Wissenschaft und Forschung liegt der Anteil an Frauen im Be-
reich der wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiterinnen sowie Dozentinnen
und Assistentinnen an Hochschulen bei etwa 40 Prozent – doch ihre Arbeitsstellen sind
zu fast 90 Prozent befristet und 55 Prozent von ihnen arbeiten in Teilzeit. Im Jahr 2013
hatten Frauen nur 21 Prozent der unbefristeten Professuren inne.
Ähnliche Verhältnisse finden sich ebenso in der außerhochschulischen Forschung. In
den vier großen gemeinsam von Bund und Ländern finanzierten Wissenschaftsorgani-
sationen Max-Planck-Gesellschaft (MPG), Helmholtz-Gemeinschaft (HGF), Fraun-
hofer-Gesellschaft (FhG) und Leibniz-Gemeinschaft (WGL) werden Frauen im wis-
senschaftlichen Bereich ebenfalls zu rund zwei Dritteln befristet beschäftigt. Über
40 Prozent aller Wissenschaftlerinnen an außerhochschulischen Forschungseinrich-
tungen sind teilzeitbeschäftigt, bei ihren männlichen Kollegen sind es nicht einmal
20 Prozent.
Außerdem arbeiten Frauen übermäßig häufig in der Verwaltung von Wissenschafts-
einrichtungen auf niedrigeren Lohnstufen und mit weniger Karriereperspektiven als es
ihrer akademischen Ausbildung entspräche.

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All diese Faktoren tragen zu einem erkennbaren Gender Pay Gap für Frauen in der
Wissenschaft bei.
Innerhalb der ProfessorInnenschaft drückt sich dieser Gender Pay Gap durch abneh-
menden Frauenanteil bei steigender Besoldungsgruppe sowie in deutlichen Gehaltsun-
terschieden aus: Bei der großteils befristeten W1-Professur ergibt sich im Schnitt ein
Frauenanteil von etwa 40 Prozent, bei W2- und W3-Professuren etwa 22 bis 23 Pro-
zent, und nur 17 Prozent aller C4-Professuren der höchsten Besoldung haben Frauen
inne. Hinzu kommt, dass ähnlich wie bei Entlohnungen mit variablen Bestandteilen
(z. B. Boni) in der freien Wirtschaft, mit dem Übergang zur W-Besoldung eine starke
Spreizung bei den Einkommen von Professorinnen gegenüber ihren männlichen Kol-
legen zu beobachten ist. In Niedersachsen wurde bei der W3-Besoldung an Universi-
täten der durch unterschiedlich hohe Leistungsbezüge verursachte Gender Pay Gap auf
37 Prozent beziffert.
Frauen verlassen die akademische Qualifizierungslaufbahn überproportional häufig
nach der Promotion, was zu einer Unterrepräsentanz von Frauen in der Breite und an
der Spitze der Wissenschaft führt, obwohl eigentlich genug kompetente Frauen vor-
handen wären. Dieses Phänomen der „leaky pipeline“ drückt sich in Zahlen von 2012
folgendermaßen aus: Einem Frauenanteil von 45 Prozent bei den Promotionen steht
dem bei den Habilitationen ein Anteil von 27 Prozent gegenüber, obwohl es neun Jahre
zuvor, 2003, bereits einen Frauenanteil bei Promotionen von 38 Prozent gegeben hat.
Diese schleppende Entwicklung zieht sich bis an die Spitze durch: Zwischen 2003 und
2013 ist der Anteil von Professorinnen an der gesamten ProfessorInnenschaft im jähr-
lichen Mittel um weniger als einen Prozentpunkt angestiegen.
An außerhochschulischen Forschungseinrichtungen sehen die Zahlen noch dramati-
scher aus: Bei der Neubesetzung von Führungspositionen in universitätsprofessurad-
äquaten Beschäftigungsverhältnissen (W3) wurden im Zeitraum von 2012 bis 2015 bei
der FhG gerade einmal drei Prozent der Positionen mit Frauen besetzt (genau eine
Stelle). Bei HGF, MPG und WGL waren es mit 27 bis 31 Prozent zwar deutlich mehr,
allerdings auf einem niedrigeren Niveau als an den Hochschulen. Der Anteil der
Frauen an allen W3-Beschäftigungsverhältnissen im Jahr 2015 betrug bei der FhG
3,1 Prozent, bei der HGF 16,9 Prozent, bei der WGL 16,0 Prozent und bei der MPG
12,9 Prozent.
Bis heute ist in Deutschland eine „Vererbung“ von Bildungschancen Realität: Bei der
Aufnahme eines Studiums – Grundlage für eine wissenschaftliche Karriere – sind laut
20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks junge Menschen mit akademi-
schem Familienhintergrund immer noch überrepräsentiert. Die Gruppe der Promovie-
renden kommt zu 65 Prozent aus AkademikerInnenfamilien. Hierbei stellt sich der Zu-
gang zur Spitze der Wissenschaft für Frauen nicht nur schwieriger dar als für Männer;
ihr Erfolg ist zudem auch noch stärker von einer privilegierten Herkunft abhängig, was
eine Begleitstudie zur Exzellenzinitiative belegt.
Im EU-Vergleich ist zu sehen, dass es mit den Frauenanteilen aber auch anders geht:
In Luxemburg, Finnland und Schweden wurden im Jahr 2013 zwischen 38 und 50 Pro-
zent aller Forschungseinrichtungen von Frauen geleitet. Deutschland liegt mit unter
20 Prozent sogar unterhalb des EU-Durchschnitts.
Die Ursachen und Gründe für diese Dynamik, die sowohl zu einer Unterrepräsentanz
von Frauen auf den verschiedenen Ebenen als auch zu Entgeltungleichheit in der Wis-
senschaft führen, sind vielschichtig und genauso innerhalb wie außerhalb des wissen-
schaftlichen Systems zu suchen.
Die gesamtgesellschaftlichen und historischen Rahmenbedingungen hat der Wissen-
schaftsrat bereits 2008 zusammengefasst und schreibt in seinen Empfehlungen und
Stellungnahmen Band I: „Eine grundlegende Ursache für das ungleiche Geschlechter-
verhältnis liegt in den gesellschaftlichen Normen begründet, zuvorderst in der unter-
schiedlichen Sozialisation von Männern und Frauen. […] Sie entwickeln implizite und

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explizite Vorstellungen über vermeintlich geschlechtsangemessene Eigenschaften und
Verhaltensweisen, die sich beispielsweise in der Berufs- wie der Fächerwahl nieder-
schlagen. Diese Stereotypien (sic!)* werden durch tief sitzende Vorurteile in der Ge-
sellschaft verstärkt und immer wieder bestätigt. […] Geschlechtliche Rollenstereoty-
pien und Klischees besitzen eine große Beharrungskraft und können das Verhalten
nicht nur einzelner Personen und Gremien, sondern auch die Strukturen ganzer Insti-
tutionen maßgebend beeinflussen. In enger Verbindung damit steht die spezielle Aus-
prägung des Mutterbilds in der deutschen Gesellschaft. […] Dieses einengende Rol-
lenbild, das sich als besonders zäh und langlebig erweist, erfuhr nicht zuletzt durch
den Mutterkult des Nationalsozialismus eine gesellschaftliche Verankerung. Die Dif-
famierung der berufstätigen Frau in der Ideologie des Nationalsozialismus führte auch
zu ihrer Verdrängung aus der Wissenschaft mit der Folge, dass eine große Lücke bei
der Heranbildung des weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses entstand.“
Hinzu kommen heute neue Benachteiligungen für Frauen – vor allem verursacht durch
die ausufernde Befristungspraxis an deutschen Wissenschaftseinrichtungen – verbun-
den mit der real geringeren Wahrscheinlichkeit für Frauen, eine Professur zu erlangen.
Führungskräfte neigen dazu, ihresgleichen zu rekrutieren. Dieses in zahlreichen Stu-
dien nachgewiesene Phänomen der homosozialen Reproduktion verhindert, dass Men-
schen, die nicht weiß, männlich, heterosexuell und körperlich uneingeschränkt sind,
mit den gleichen Chancen höhere Posten erlangen und höhere Gehälter erzielen kön-
nen. Unter akademischen Führungskräften ist die Vorstellung der Existenz und Not-
wendigkeit einer „angeborenen Begabung“, die typischerweise mit Männern assoziiert
wird, zudem weiterhin verbreitet. Das führt – ähnlich wie in der Kreativwirtschaft –
zu einer Benachteiligung von Frauen, denen allgemein weniger „Begabung“ und „Ge-
nie“ zugeschrieben wird.
Verschärft durch die wettbewerblich ausgerichteten Fördermaßnahmen überwiegen
heute außerdem Indikatoren zur Bewertung des persönlichen wissenschaftlichen Er-
folgs wie die Anzahl an eingeworbenen Drittmitteln oder an Publikationen. Um diesem
Anspruch gerecht zu werden, wird eine Kultur der nahezu unbegrenzten Verfügbarkeit
gepflegt. Die überdurchschnittliche Leidenschaft und Identifikation, die Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler für ihre Tätigkeit aufbringen, verkehrt sich so in ein Aus-
schlusskriterium, denn hochkompetitive Karrieren sind weder für Männer noch für
Frauen familienfreundlich. Ein Familienleben ist unter den derzeit in der Wissenschaft
überwiegenden Bedingungen mit Kurzzeitbefristungen, Überstunden und wechseln-
den Arbeitsorten nur schwer vereinbar. Professor oder Professorin wird nur, wer sein
Leben allein nach der Wissenschaft ausrichtet. Wer eine planbare Karriere sucht und
Kinder bekommen will, für den kommt eine Wissenschaftskarriere aktuell praktisch
nicht infrage. Frauen, die Teilzeit arbeiten und Kinder haben, sind chancenlos. Eine
zusätzliche Benachteiligung erfahren Frauen, da ihnen gesellschaftlich immer noch
überwiegend die Zuständigkeit und Verantwortung für die Kinderbetreuung zuge-
schrieben wird. Durch all diese Faktoren wird einem Bild Vorschub geleistet, das
Frauen und eine wissenschaftliche Karriere als latent antagonistisch zeichnet.
Das gesamtgesellschaftliche Problem der Benachteiligung von Frauen ist nicht alleine
innerhalb der Wissenschaft zu lösen. Doch der Abbau von strukturellen Benachteili-
gungen in der Wissenschaft kann mithelfen, neue Realitäten zu schaffen. Nur darüber
können sich dann auch Denkweisen ändern, Widerstände verschwinden und neue Pra-
xen entwickeln. In diesem Zusammenhang ist es besonders bedenklich, wenn die
Gleichstellungsbeauftragten, die diesen Widerständen entgegenwirken sollen, zumeist
prekär beschäftigt sind und permanent Gefahr laufen, bei Unliebsamkeit ihre Stelle zu
verlieren. In diesem Zusammenhang muss es auch als Rückschritt betrachtet werden,
* Anmerkung der VerfasserInnen

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wenn die GWK mit der im April 2016 beschlossenen Änderung der Ausführungsver-
einbarung Gleichstellung eine Beschneidung der Rechte der Gleichstellungsbeauftrag-
ten an außerhochschulischen Forschungseinrichtungen beschließt.
Die Politik der Bundesregierungen in den letzten zehn Jahren hat sich mit Appellen an
die Hochschulen und Forschungseinrichtungen oder unverbindlichen Selbstverpflich-
tungen wie der „Offensive für Chancengleichheit“ der großen Forschungsorganisatio-
nen aus dem Jahre 2006 zufrieden gegeben. Doch wie auch in der Privatwirtschaft
führten diese freiwilligen Selbstverpflichtungen zu keiner relevanten Steigerung des
Frauenanteils.
Ebenso hat das einzige bisher ins Leben gerufene Förderprogramm des BMBF zur
Förderung von Frauen kaum eine Dynamik in der Gleichstellung in der Wissenschaft
entfachen können. Über die beiden Phasen des Professorinnenprogramms wurden seit
2008 inzwischen 400 Professorinnen berufen, das sind weniger als ein Prozent aller
Professuren an öffentlichen Hochschulen. Immerhin erzielte das Programm wichtige
Nebeneffekte aus den freigewordenen Mitteln, wie die Projektförderung zu Geschlech-
tergerechtigkeit an den Hochschulen.
Bei der Schaffung der Juniorprofessur gab der Wissenschaftsrat bereits 2007 zurecht
zu bedenken: „Es ist allerdings eine offene Frage, inwieweit befristete Juniorprofessu-
ren im bisherigen Umfang überhaupt eine relevante Steigerung der Professorinnenzahl
bewirken können und ob in der Folge auch der Frauenanteil an den W3/W2-Professu-
ren entsprechend steigen wird.“ Der Effekt ist sicherlich, dass der Frauenanteil unter
den Juniorprofessuren mit knapp 40 Prozent überdurchschnittlich hoch ist. Jedoch sind
nur etwa 13 Prozent aller Juniorprofessuren mit einem echten Tenure-Track ausgestat-
tet, der eine Berufung auf eine Lebenszeitprofessur bei positiver Evaluation ermög-
licht. Insbesondere Frauen werden so am Ende wieder nur mit befristeten Arbeitsver-
hältnissen abgespeist.
Die Forschungsorientierten Gleichstellungsstandards der DFG setzen seit 2008 eine
Wegmarke, da mit ihnen erstmals die sanktionierte Mittelvergabe eingeführt wurde.
Allerdings gelten sie seither ausschließlich für Universitäten und lassen die Fachhoch-
schulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen außen vor.
Die flächendeckende Einführung von Zielquoten nach dem Kaskadenmodell, die von
der GWK im November 2011 auch für die außerhochschulischen Forschungseinrich-
tungen beschlossen wurde, war ein erster Schritt in die richtige Richtung der Verein-
heitlichung der Standards. Der vielfach vorgebrachte Einwand, man könne einfach
keine qualifizierten Frauen finden, ist für Deutschland nicht haltbar, wie oben genannte
Zahlen zeigen. Für Studienfächer, in denen unter 25 Prozent der Absolventen weiblich
sind, kann über eine Kaskade + X eine Beschleunigung des Frauenanteils in den hö-
heren Karrierestufen erzielt werden.
In den Bundes- bzw. Bund-Länder-Programmen spielt das Thema Chancengerechtig-
keit oft formal in den Programmzielen eine Rolle. Sie sind in der Exzellenzinitiative,
im Pakt für Forschung und Innovation, im Hochschulpakt 2020 sowie im Qualitätspakt
Lehre allgemein und formal ausgewiesen. In der Regel fehlen jedoch feste Vorgaben,
wie Quoten oder Sanktionsmechanismen, weshalb die formalen Vorgaben bislang zu
kaum spürbaren Effekten geführt haben. Im Gegenteil unterminieren diese Pakte von
ihrer Konzeption her das selbst gesteckte Ziel der Chancengerechtigkeit. Die durch
Projektförderung zementierte kurzatmige Hochschul- und Wissenschaftsfinanzierung
hat gemeinsam mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) von 2007 den
Weg zu Dauerbefristung, Kurzzeitverträgen sowie mangelnden Karriereperspektiven
in der Wissenschaft geführt. Die schon seit Jahrzehnten nicht mehr auskömmliche
Hochschulfinanzierung ist durch einen hohen Anteil an variablen Budgetanteilen in
der Grundfinanzierung, Drittmittel und temporäre Paktmittel immer unsicherer gewor-
den.

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Der hiermit beförderte starke Wettbewerb um wenige Dauerstellen führt in Verbin-
dung mit der oben bereits dargestellten Benachteiligung von Frauen in Bewerbungs-
verfahren nachweislich zu einem noch stärkeren Ausschluss von Frauen aus dem Wis-
senschaftssystem. Um wirklich flächendeckend eine spürbare Änderung dieser Situa-
tion zu erzeugen, bräuchte es neben einer auskömmlichen und stabilen Grundfinanzie-
rung der Hochschulen ein länderübergreifendes Gesamtkonzept zur Gleichstellung in
der Wissenschaft anstelle des jetzt bestehenden Flickenteppichs verschiedener Pro-
gramme und oft zahnloser Selbstverpflichtungen. Eine strategische Gleichstellungs-
planung mit verbindlichen und sanktionierungsfähigen Zielquoten ist dringend not-
wendig. Zudem müssen sich die Arbeitsbedingungen für Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler generell verbessern und neue Personalkategorien neben der Professur
geschaffen werden. Außerdem muss bei der Besetzung von unbefristeten Stellen ver-
stärkt auf Geschlechtergerechtigkeit geachtet werden, damit in den nächsten fünf bis
zehn Jahren ein deutlicher Anstieg an Frauen in der Wissenschaft verzeichnet werden
kann.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bezogen auf die Finanzierung des Wissenschaftssystems
1. in Abstimmung mit den Ländern, die Politik der durch temporäre Pakte befriste-

ten Finanzierung des Wissenschaftssystems zu beenden, stattdessen die Grundfi-
nanzierung deutlich anzuheben, auf einem hohen Niveau zu verstetigen sowie re-
gelmäßig an die Preis- und Einkommensentwicklung anzupassen:
a) die erste Säule des Hochschulpakts 2020 zu verstetigen und auf dem Niveau

von 2017 dauerhaft fortzuführen,
b) die themenspezifischen Forschungsförderprogramme zugunsten der Grund-

finanzierung der von Bund und Ländern gemeinsam finanzierten außerhoch-
schulischen Forschungseinrichtungen sowie der öffentlichen Hochschulen
im Verwaltungsbereich der Länder abzuschmelzen,

c) anstelle des Pakts für Forschung und Innovation gemeinsam mit den Län-
dern eine dauerhafte Vereinbarung über die Finanzierung der von ihnen ge-
meinsam finanzierten außerhochschulischen Forschungseinrichtungen ab-
zuschließen, in der sie diesen einen jährlichen Ausgleich für die Lohn- und
Preissteigerungen sowie einen darüber hinausgehenden prozentualen An-
stieg zur Finanzierung ihrer Weiterentwicklung zusichern;

2. im Sinne einer Entfristungsoffensive mit einem Anreizprogramm zehn Jahre lang
die Einrichtung von 100.000 unbefristeten Stellen durch Entfristung oder Neu-
schaffung zu fördern, um auf diesem Wege knapp der Hälfte des angestellten
wissenschaftlichen Personals an den Hochschulen eine dauerhafte Perspektive zu
ermöglichen. Dabei ist ein Anteil von 50 Prozent Frauen anzustreben;

3. die Anzahl der hauptberuflichen wissenschaftlichen Beschäftigten um mindes-
tens 44.000 Vollzeitäquivalente zu erhöhen, um die Betreuungsrelation an den
Hochschulen von 13 Studierenden pro Vollzeitäquivalent an wissenschaftlichen
Beschäftigten zu erreichen. Hierbei sind mindestens 50 Prozent der Stellen mit
Frauen zu besetzen. Diese Quote ist sowohl in Bezug auf die einzelnen Personal-
gruppen als auch in Bezug auf befristete und unbefristete Stellen anzuwenden;

4. die jährliche Fördersumme des Professorinnenprogramms zu verdoppeln und es
derart anzupassen, dass der Anteil von W3-Professuren an allen geförderten Pro-
fessuren mindestens verdoppelt wird und das Programm so weiterzuentwickeln,
dass auch Fachhochschulen dies praktisch nutzen können. Die bei der Bewerbung

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der Hochschulen geforderten Frauenförderpläne sind nach Bewilligung gemein-
sam mit der GWK auf ihre Umsetzung hin zu überprüfen und deren Einhaltung
durchzusetzen;

5. finanzielle und personelle Ressourcen für die Gleichstellungsarbeit an Hochschu-
len und an den von Bund und Ländern gemeinsam finanzierten außerhochschuli-
schen Forschungseinrichtungen deutlich zu erhöhen;

bezogen auf die Stellenstrukturen und Karriereperspektiven in der Wissenschaft
6. gemeinsam mit den Ländern eine Reform der Karrierewege und Personalstruktu-

ren im Wissenschaftsbereich unter Berücksichtigung der Förderung der Chancen-
gerechtigkeit einzuleiten, um eine breitere Berufsperspektive für Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler neben der Professur zu ermöglichen;

7. im WissZeitVG Mindestvertragslaufzeiten zu definieren, so dass die Verträge die
Förderdauer der zu bearbeitenden Projekte bzw. die im betreffenden Fach übli-
cherweise aufgewandte Zeitdauer zur Erreichung des angestrebten Qualifikati-
onsziels nicht unterschreiten. Insgesamt soll eine Mindestlaufzeit von 24 Mona-
ten – sofern nicht zwischen den Tarifpartnern anders verhandelt – nicht unter-
schritten werden und bei Befristungen mit Qualifikationsziel (beispielsweise Pro-
motion) dürfen 36 Monate Mindestvertragslaufzeit nicht unterschritten werden,
auch wenn diese aus Mitteln Dritter finanziert werden. Zudem ist über das Wiss-
ZeitVG sicherzustellen, dass nach der Promotion bei demselben Arbeitgeber Ket-
tenbefristungen verhindert werden, indem die Anzahl zulässiger aufeinanderfol-
gender befristeter Verträge, die unter das WissZeitVG fallen, auf zwei begrenzt
wird;

8. im WissZeitVG zu verankern, dass nach abgeschlossener Promotion eine Befris-
tung mit Qualifizierungsziel nur dann zulässig ist, wenn mit den betroffenen Be-
schäftigten vertraglich vereinbart wurde, dass bei Erreichung des Qualifikations-
ziels die Befristungsabrede entfällt (Tenure-Track). Diese Feststellung erfolgt
mindestens zwei Jahre vor Erreichen der maximalen Befristungsdauer durch ein
unabhängiges Gutachten von internem und externem Fachpersonal sowie der Per-
sonalvertretung, in dem die fachliche, pädagogische und persönliche Eignung im
Hinblick auf das Qualifikationsziel bewertet wird;

9. im WissZeitVG den Rechtsanspruch festzuschreiben, dass Beschäftigten, die an
einer wissenschaftlichen Qualifikation oder in einem Projekt arbeiten, das über-
wiegend aus Mitteln Dritter finanziert wird, zur Betreuung eines oder mehrerer
eigener Kinder unter 18 Jahren eine automatische Verlängerung ihrer befristeten
Arbeitsverträge um die Dauer von zwei Jahren je Kind vertraglich zugesichert
werden muss, um eine Benachteiligung von Eltern mit minderjährigen Kindern,
in der Realität häufig Frauen, zu verhindern. Zur Finanzierung dieser automati-
schen Verlängerung sollten entsprechende Finanzmittel in zentrale Fonds zurück-
gestellt werden, um kleine Hochschulen und Institute nicht zu benachteiligen.
Hierfür sollte vom Träger der jeweiligen Fonds ein jährlich zu prüfender fester
Prozentsatz auf die Einzelkosten jedes Drittmittelprojekts erhoben werden;

10. die Auswirkung des WissZeitVG auf die Zusammensetzung der Beschäftigten
(z. B. Geschlecht, soziale Zusammensetzung) und ihrer Arbeitsverhältnisse in re-
gelmäßigen Abständen zu evaluieren;

11. transparente Stellenausschreibungen mit klaren Kriterien und Verfahren sicher-
zustellen, geschlechtersensible Berufungsverfahren mit einer Beteiligung von
wenigstens 40 Prozent Frauen in Berufungskommissionen anzustreben;

bezogen auf ein Gesamtsteuerungskonzept zur Gleichstellung in der Wissenschaft
12. die GWK zu beauftragen, Zielvorgaben und einen Kriterienkatalog für alle Hoch-

schulen sowie für die von Bund und Ländern gemeinsam finanzierten außerhoch-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/9667

schulischen Forschungseinrichtungen in Anlehnung an die Forschungsorientier-
ten Gleichstellungsstandards der DFG zu formulieren. Diese sind im Benehmen
und unter Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten zu erarbeiten;

13. angelehnt an den Vorschlag des Wissenschaftsrats aus dem Jahr 2007 die „An-
wendung institutionalisierter wie auch finanzwirksamer Durchsetzungs- und
Sanktionsmechanismen“ in den Programmen des Bundes bzw. den Bund-Länder-
Programmen voranzutreiben. Hierfür ist die Nichteinhaltung der festgelegten
Zielvorgaben und Kriterien finanziell zu sanktionieren. Die Erhöhung der Grund-
finanzierung ist für alle Hochschulen sowie für die von Bund und Ländern ge-
meinsam finanzierten außerhochschulischen Forschungseinrichtungen an die
Einhaltung der Gleichstellungsaspekte und konkreten Zielvorgaben zu koppeln,
wobei sich der prozentuale Anstieg auf diejenigen Institutionen verteilen soll, die
die Zielvorgaben und Kriterien erfüllen;

14. die Geschlechtergerechtigkeit als Querschnittsperspektive in sämtliche Bund-
Länder-Programme aufzunehmen, die direkt oder indirekt zusätzliche Beschäfti-
gungsverhältnisse zur Folge haben. Hierzu sind feste Quoten für die Besetzung
von Stellen mit Frauen vorzusehen:
a) für Programme, die wie der Hochschulpakt, nicht die direkte Förderung von

Stellen vorsehen, kann das Kaskadenmodell als Referenzwert für die geför-
derten Hochschulen und Fächer festgelegt werden;

b) für die direkte Förderung von Stellen, wie beim Pakt zur Förderung des wis-
senschaftlichen Nachwuchses, ist eine Quote von 50 Prozent aller Stellen
festzuschreiben;

15. den im November 2011 in der GWK gefassten Beschluss, Zielquoten nach dem
Kaskadenmodell in den Forschungsorganisationen einzuführen, weiterzuentwi-
ckeln und verbindlich auszugestalten; hierbei sollte für Studienfächer, in denen
unter 25 Prozent der Absolventen weiblich sind, eine Kaskade + X entwickelt
werden, deren prozentuale Zielquoten für die nächsthöheren Stufen sich jeweils
um die Hälfte erhöhen;

16. gemeinsam mit der GWK eine Verpflichtung zu erarbeiten, die alle Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler in Leitungspositionen zur Teilnahme an Fortbildun-
gen verpflichtet zur Reflektion der eigenen Verortung in der Gesellschaft und zur
Sensibilisierung gegenüber gesellschaftlichen Rollenbildern, um der homosozia-
len Reproduktion aktiv entgegenzuwirken;

17. mittelfristig anzustreben, dass der Frauenanteil auf Entscheidungsebenen und in
Evaluationsgremien von Forschungseinrichtungen und Hochschulen mindestens
40 Prozent erreicht;

18. die verbindliche Einhaltung von Gleichstellungsstandards und qualitätssichern-
den Kriterien innerhalb der projektbezogenen Forschungsförderung des Bundes
und innerhalb der Ressortforschung nach dem Vorbild der DFG zum Bestandteil
von Bewilligungszusagen zu machen. Diese Standards müssen sowohl struktu-
relle als auch personelle Qualitätskriterien umfassen. Als Voraussetzung für die
wirkungsvolle Implementierung von Gleichstellungsstandards sind auch die Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter der Ressorts und Projektträger, die die Forschungs-
förderung in Planung, Vergabe und Umsetzung begleiten, im Bereich der Gen-
derkompetenzen zu qualifizieren;

19. nach der nächsten Evaluierung der Forschungsorientierten Gleichstellungsstan-
dards der DFG im Jahr 2017 in Bezug auf deren Auswirkungen auf Geschlech-
tergerechtigkeit bei Nichteinhaltung der aktuellen Zielquoten gemeinsam mit der
DFG verbindliche Quoten für die Fortführung der Forschungsorientierten Gleich-
stellungsstandards einzuführen;

Drucksache 18/9667 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
20. als Geldgeberin und als Mitglied in Kuratorien oder Aufsichtsräten darauf hinzu-

wirken, dass wissenschaftliche Einrichtungen und Forschungsvorhaben qualita-
tive und quantitative Vorgaben zur Steigerung der Anteile von Frauen insgesamt
und in Führungspositionen konsequent umsetzen und systematisch kontrollieren;

21. zur Berücksichtigung von Frauen in hochrangigen wissenschaftlichen Beratungs-
gremien des Bundes im Bundesgremienbesetzungsgesetz bis Ende 2016 verbind-
liche Zielvorgaben für eine geschlechterparitätische Besetzung der Stellen, die
nicht qua Funktion festgelegt sind, vorzulegen und das Verfahren der Doppelbe-
nennung ersatzlos zu streichen. Der Deutsche Bundestag ist im oben genannten
jährlichen Bericht über die Umsetzung dieser Zielvorgaben zu unterrichten;

22. hinsichtlich der Einkommen an Hochschulen sowie für die von Bund und Län-
dern gemeinsam finanzierten außerhochschulischen Forschungseinrichtungen auf
die Offenlegung der Gehaltsstrukturen hinzuwirken. Daraus muss deutlich wer-
den, wie Gehälter aus Basisanteil und erfolgsabhängiger Bezahlung zusammen-
gesetzt sind, um mögliche Ungerechtigkeiten in den Gehaltsstrukturen aufzude-
cken und zu beheben.

Berlin, den 20. September 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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