BT-Drucksache 18/9666

Jedes Kind ist gleich viel wert - Aktionsplan gegen Kinderarmut

Vom 20. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9666
18. Wahlperiode 20.09.2016
Antrag
der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Norbert Müller (Potsdam),
Katja Kipping, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke,
Dr. Rosemarie Hein, Cornelia Möhring, Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra
Sitte, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Katrin Werner, Birgit
Wöllert, Jörn Wunderlich, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Jedes Kind ist gleich viel wert ‒ Aktionsplan gegen Kinderarmut

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Kinderarmut ist nach wie vor eines der prägendsten und gravierendsten Probleme in
diesem Land. Soziale Sicherheit ist ein soziales Menschenrecht und unverzichtbar zur
Verwirklichung des Kindeswohls gemäß Artikel 3 UN-Kinderrechtskonvention
(KRK). Hier besteht akuter Handlungsbedarf.
Mit geringen Differenzen verharrt die sogenannte Armutsgefährdungsquote von Kin-
dern seit über zehn Jahren bei knapp unter 20 Prozent bei zuletzt steigender Tendenz.
Nahezu jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht oder arm, in absoluten Zahlen sind
das ca. 2,5 Mio. Kinder. Die Hartz-IV-Bezugsquote lag im Jahr 2015 bei Kindern unter
15 Jahren bei 14,4 Prozent. Jedes siebte Kind unter 15 Jahren ist abhängig von Hartz
IV, in absoluten Zahlen waren dies durchschnittlich 1,5 Mio. Kinder. Das bedeutet,
jedes vierte Kind unter 15 Jahren lebt entweder von Hartz IV oder ist arm bzw. armuts-
gefährdet. Kinderarmut hat verheerende Folgen für die Betroffenen, die Gesellschaft
und die Demokratie.
Arme Kinder haben schlechtere Startvoraussetzungen als Kinder aus wohlhabenden
Familien. Sie besuchen seltener und in geringerem zeitlichem Umfang eine Kita, weil
Ganztagsplätze nicht zur Verfügung stehen. Wenn sie in der Schule nicht so schnell
mitkommen, haben sie weniger Hilfe. Teure Nachhilfe können sie sich nicht leisten.
In Studien wurde nachgewiesen, dass die soziale Herkunft auch Einfluss auf die No-
tengebung hat. Darum werden Kinder und Jugendliche aus ärmeren Familien regelmä-
ßig schlechter benotet als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Bei schlechten Noten
ist der Zugang zu höheren Schulen erschwert. Dies verhindert, einen Ausbildungsplatz
zu finden und somit den Grundstein für ein eigenes Leben außerhalb einer Armutsspi-
rale aufzubauen. Der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungschancen ist in
Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Staaten nach wie vor besonders hoch,
Bildungsbenachteiligung wird „vererbt“. Eine gefestigte Armut über Generationen
hinweg droht zu entstehen.
Armut von Kindern wirkt sich in ihrem Alltag und ihren Lebenswelten aus. Zugänge
zu sozialer und kultureller Teilhabe, z. B. in Sportvereinen oder in der Musikschule,

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sind von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern geprägt: Geburtstagseinladungen
werden nicht wahrgenommen, weil Geld für Geschenke fehlt. Arme Kinder können
oftmals keine Freunde einladen, weil die Wohnverhältnisse eine Barriere bilden. Der
Bewegungsradius ist eingeschränkt, z. B. auf den Bereich des öffentlichen Personen-
nahverkehrs. Reisen, regelmäßige Erholungsurlaube oder Auslandserfahrungen blei-
ben Kindern aus armen Familien regelmäßig verwehrt. Insofern erleben Kinder aus
armen Familien eine Ausgrenzung aus relevanten gesellschaftlichen Erfahrungen und
Bereichen.
Jugendliche, die sich in einer schlechten beziehungsweise sehr schlechten finanziellen
Lage befinden oder unter der eigenen Erwerbslosigkeit und fehlenden Perspektiven
leiden, sind deutlich unzufriedener mit ihrem Leben. Finanzielle Mittel fehlen, um cli-
quenbezogene kulturelle Stile aufgreifen zu können. Dazu zählen neben der Kleidung
auch der Besuch von Cafés, angesagten Clubs oder Kinos.
Strukturen der öffentlichen Kinder- und Jugendarbeit wie Jugendhäuser und
-clubs, Ferienfreizeiten, offene Kinder- und Jugendarbeit sowie der öffentlichen Da-
seinsvorsorge wie Schwimmbäder, Bibliotheken/Mediatheken oder Musikschulen
wurden in den vergangenen Dekaden massiv abgebaut. In der Folge stehen kosten-
günstige und pädagogisch wertvolle Freizeitgestaltung nur noch wenigen Kindern und
Jugendlichen zur Verfügung. Armen beziehungsweise von Armut bedrohten Kindern
und Jugendlichen wird ihre soziale Lage ständig vor Augen geführt.
Auch die Folgen von Armut für die Gesundheit sind vielfach belegt. Studien zeigen,
dass sich die soziale Lage und die finanziellen Ressourcen auf die Gesundheit auswir-
ken (http://edoc.rki.de/series/gbe-kompakt/sonstige/reAwH2wxwRHfM/PDF/29wY
J9AaKy3gU.pdf). Gerade für Kinder und Jugendliche trifft dies in verstärktem Maße
zu. Um gesund zu bleiben, ist die Entwicklung einer positiven Selbstwahrnehmung ein
wichtiger Faktor. Dies ist für arme Kinder ungleich schwieriger und damit auch der
Erwerb positiver Strategien zur Lebensbewältigung.
Kinderarmut zieht regelmäßig weitere gesellschaftliche Ausgrenzungen nach sich, die
Folgekosten verursachen. Sei es im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe oder der Ge-
sundheit bzw. später im Bereich der beruflichen Eingliederung.
Doch nicht alle Kinder sind gleichermaßen von Armut betroffen bzw. bedroht. Hier
lassen sich besondere Regionen und besonders von Armut betroffene bzw. bedrohte
Gruppen identifizieren. Jedes vierte von Armut bedrohte Kind lebt in Nordrhein-West-
falen. Hier nahm die Zahl der von Armut bedrohten bzw. betroffenen Kinder von 2010
bis 2014 von 627.000 auf 684.000 zu, wobei der Schwerpunkt im Ruhrgebiet und den
Metropolen liegt. Im Saarland stieg im gleichen Zeitraum die Anzahl von 25.000 auf
31.000. Damit sind in den alten Bundesländern neue Schwerpunktregionen der Kin-
derarmut entstanden. Aber auch in Ostdeutschland und in den Stadtstaaten ist Kinder-
armut überproportional häufig anzutreffen.
Zu den besonders betroffenen Gruppen gehören Alleinerziehende, Menschen mit Be-
hinderungen, Familien mit Migrationshintergrund und kinderreiche Familien. Rund 90
Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen. In Alleinerziehendenfamilien wachsen
mehr als zwei von fünf Kindern in prekären sozialen Lagen auf. Die Armutsgefähr-
dungsquote hat hier in den vergangenen Jahren um bis zu fünf Prozentpunkte zuge-
nommen. Stärker von Armut bedroht bzw. betroffen sind zudem Kinder und Jugendli-
che aus Familien mit Migrationshintergrund und Familien mit mehr als zwei Kindern.
Kinderarmut ist in erster Linie die Einkommensarmut ihrer Eltern. Einkommensarmut
der Eltern resultiert vor allem aus prekären Beschäftigungslagen (Leiharbeit, Niedrig-
lohnsektor, Befristung, Werkverträge, Unterbeschäftigung etc.), Erwerbslosigkeit so-
wie Sozialleistungstransfers, die entweder nicht vor Armut schützen oder aus Unwis-
senheit, Intransparenz, bürokratischen Hürden, keiner bzw. schlechter Beratung oder
aufgrund ihres repressiven Charakters nicht in Anspruch genommen werden. Die
Sanktionen im Hartz-IV-System sowie das systematische Kleinrechnen der Hartz-IV-

http://edoc.rki.de/series/gbe-kompakt/sonstige/reAwH2wxwRHfM/PDF/29wY%0bJ9AaKy3gU.pdf
http://edoc.rki.de/series/gbe-kompakt/sonstige/reAwH2wxwRHfM/PDF/29wY%0bJ9AaKy3gU.pdf
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Regelsätze verschärfen die Lebensbedingungen von Familien im Grundsicherungsbe-
zug. Die Anrechnung von Einkommen und Vermögen bei notwendigen Teilhabeleis-
tungen für Menschen mit Behinderungen erhöhen das Armutsrisiko von Kindern und
Jugendlichen sowie für deren Mütter und Väter mit Behinderungen.
Noch immer verhindert ein nicht ausreichendes Kitaangebot die Aufnahme von Be-
schäftigungsmöglichkeiten. Und noch immer gibt es zu viele Familien, darunter viele
Alleinerziehende, in denen die Eltern über keinen Ausbildungs- oder Schulabschluss
verfügen.
Die Antwort auf Kinderarmut muss ein mehrdimensionaler und mehrjähriger Aktions-
plan sein. Kinderarmut ist nicht individuell, sondern nur durch eine gesellschaftliche
Antwort zu bekämpfen. Die sozialen Leistungen müssen Armut verhindern und gesell-
schaftliche Teilhabe ermöglichen. Soziale Infrastrukturen sind aus- und aufzubauen.
Die sozialen Sicherungssysteme sind endlich existenzsichernd auszugestalten. Die Si-
tuation auf dem Arbeitsmarkt muss verbessert, prekäre Beschäftigung zurückgedrängt
werden. Zum Kindeswohl trägt auch eine hochwertige und für alle beitragsfreie Kita-
und Schulverpflegung bei.
Familien benötigen Unterstützung zur Selbstermächtigung aus der Armut. Der Schlüs-
sel dafür liegt in der Einführung einer Kindergrundsicherung, die monetäre und infra-
strukturelle Leistungen umfasst, womit Kinderarmut wirksam bekämpft und allen Kin-
dern Zugangsmöglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe eröffnet wird. Die Wir-
kung der Kindergrundsicherung wird durch arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maß-
nahmen flankiert, um die Einkommensarmut von Familien und deren sozioökonomi-
schen Status zu verbessern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. noch in diesem Jahr einen umfassenden Aktionsplan gegen Kinderarmut aufzu-
legen, der die Vielschichtigkeit von Armutslagen berücksichtigt und mehrdimen-
sionale Lösungsmöglichkeiten beinhaltet, um alle Kinder und Jugendlichen sowie
ihre Familien aus Armut zu befreien. Dabei müssen die Belange von besonders
von Armut gezeichneter Regionen, von Alleinerziehenden, von kinderreichen Fa-
milien sowie von Familien mit Migrationshintergrund berücksichtigt werden;

2. sich beim Ausbau der sozialen Sicherungssysteme im Rahmen des Aktionsplans
gegen Kinderarmut an folgenden Prämissen zu orientieren:
a) die Höhe der Leistungen muss Armut von Kindern und Jugendlichen aus-

schließen;
b) der Bezug von Leistungen muss repressionsfrei und nicht stigmatisierend

und diskriminierend sein;
c) die Leistungen inklusive Beratung müssen zu den Familien kommen und

entbürokratisiert werden, damit niemand wegen Unwissenheit oder Angst
vor Bürokratie auf Leistungen verzichtet;

d) die familiäre Situation muss insbesondere bei komplexen Problemlagen
ganzheitlich betrachtet werden und in Gänze Unterstützung im Sinne des
SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) finden;

3. im Rahmen des Aktionsplans gegen Kinderarmut eine eigenständige Kinder-
grundsicherung für alle Kinder und Jugendlichen einzuführen, die alle Kinder und
Jugendlichen aus Armut befreit, ihnen gute gesellschaftliche Teilhabe- und Ent-
faltungsmöglichkeiten bietet und sie vor Ausgrenzung und Diskriminierung
schützt. Bisherige kindbezogene pauschale Geldleistungen bzw. Vergünstigun-
gen sind zu bündeln. Dementsprechend muss die eigenständige Kindergrundsi-
cherung einen Ausbau
a) der sozialen Grundsicherungssysteme,

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b) der vorgelagerten sozialen Sicherungssysteme,
c) der sozialen Infrastruktur,
d) der öffentlichen Daseinsvorsorge,
e) der Kinder- und Jugendhilfe,
f) der Kinderbetreuung und Frühförderung und
g) der schulischen Bildung umfassen.

Dabei muss sichergestellt werden, dass Sonder- und Mehrbedarfe der Kinder
und Jugendlichen bedarfsgerecht weiterentwickelt werden, die Angebote und
Sozialleistungen bei den Betroffenen ankommen, ein niedrigschwelliger und
barrierefreier Zugang sichergestellt ist und die Quote der Nichtinanspruch-
nahme von Sozialleistungen weitgehend auf null gesenkt wird;

4. den Aktionsplan gegen Kinderarmut mit Maßnahmen zu flankieren, die
a) eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. Studium und Aus-

bildung und mehr Zeitsouveränität für Eltern,
b) eine Erhöhung des Mindestlohns und eine Stärkung von Tarifverträgen,
c) eine sanktionsfreie, individuelle Mindestsicherung, die wirklich vor Armut

schützt,
d) eine Verbesserung der Ausbildungssituation,
e) ein Zurückdrängen prekärer Beschäftigungslagen zu Gunsten guter Arbeit

sowie
f) eine nennenswerte Erhöhung des Kindergeldes
beinhalten;

5. den Aktionsplan kontinuierlich weiterzuentwickeln. Die Weiterentwicklung und
Umsetzung des Aktionsplans ist durch eine Kommission zu begleiten, die zusam-
mengesetzt wird aus Politik, Betroffenen, Wissenschaft und Verbänden aus
Bund, Ländern und Kommunen unter besonderer Berücksichtigung der von Ar-
mutslagen betroffenen bzw. bedrohten Gruppen sowie Regionen. Die Kommis-
sion hat die Aufgabe, die vielschichtige Situation von armen Kindern, Jugendli-
chen und Familien fortlaufend zu analysieren, auf deren Grundlage die Bedarfe
von Familien, Kindern und Jugendlichen in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen
und Handlungsempfehlungen an die Politik auszusprechen.

Berlin, den 20. September 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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