BT-Drucksache 18/9559

Reform der Leiharbeit

Vom 5. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9559
18. Wahlperiode 05.09.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Corinna Rüffer, Brigitte Pothmer,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Markus Kurth, Ekin Deligöz,
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Sven-Christian Kindler,
Dr. Gerhard Schick und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Reform der Leiharbeit

Die Bunderegierung plant ein Gesetz zur Reform des Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetzes und anderer Gesetze. Die Zielsetzung im Bereich Leiharbeit liest sich in
der Begründung des Gesetzes ambitioniert. „Arbeitnehmerüberlassung soll gute
Arbeit sein“, wozu „berufliche Sicherheit ebenso wie ein fairer Lohn“ gehören
soll (S. 12). Die Leiharbeitskräfte sollen gestärkt werden. Missbrauch von Leih-
arbeit soll verhindert werden, indem „die Arbeitnehmerüberlassung auf ihre
Kernfunktion als Instrument zur zeitlich begrenzten Deckung des Arbeitskräf-
tebedarfs hin orientiert“ (S. 12) werden soll. „Gleichzeitig soll die Bedeutung ta-
rifvertraglicher Vereinbarungen als wesentliches Element einer verlässlichen So-
zialpartnerschaft gestärkt werden.“ (S. 1) Nach der Einigung beim Koalitionsgip-
fel am 10. Mai 2016 sagte die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea
Nahles, es sei klar das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit ohne Schlupflö-
cher verabredet worden (Reuters, 10. Mai 2016).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Was versteht die Bundesregierung konkret – mit Beispielen verdeutlicht –

unter Missbrauch in der Leiharbeit?
2. Wie definiert die Bundesregierung „Equal Pay“, also „gleichen Lohn für

gleiche Arbeit“?
a) Aus welchen Gründen bzw. auf welcher statistischen Grundlage hat sich

die Bundesregierung dazu entschlossen, dass „Equal Pay“ künftig nach
neun Monaten gelten soll, und warum sollen Leiharbeitskräfte mit kürze-
rer Verweildauer nicht von „Equal Pay“ profitieren?

b) Aus welchen Gründen bzw. auf welcher statistischen Grundlage plant die
Bundesregierung eine zusätzliche Öffnungsklausel, nach der „Equal Pay“
aufgrund besonderer Tarifverträge erst nach 15 Monaten zwingend wer-
den soll, und warum wird damit vom Wortlaut des Koalitionsvertrags zwi-
schen CDU, CSU und SPD abgewichen?

c) Wie viel Prozent der Leiharbeitskräfte würden nach Einschätzung der
Bundesregierung derzeit „Equal Pay“ erhalten, weil sie länger als neun
bzw. 15 Monate in einem Entleihbetrieb arbeiten?

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d) Ist davon auszugehen, dass trotz „Equal Pay“ nach neun bzw. 15 Monaten
die große Mehrheit der Leiharbeitskräfte nicht den gleichen Lohn wie ver-
gleichbare Stammbeschäftige im selben Betrieb erhält?
Wenn nein, wie begründet das die Bundesregierung?
Wenn ja, wie ist dies mit der Zielsetzung im Allgemeinen Teil der Be-
gründung auf Seite 12 des Gesetzes vereinbar, dass Arbeitnehmerüberlas-
sung gute Arbeit sein soll und dazu auch ein fairer Lohn gehört?

e) Wie ist der mit den „Equal Pay“-Regelungen konkretisierte Tarifvorrang
im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) mit Artikel 5 Absatz 2 der
EU-Richtlinie 2008/104/EG vereinbar, der besagt, dass Abweichungen
vom Entgelt nur bei unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen erfolgen
dürfen?

f) Aus welchen Gründen lehnt es die Bundesregierung ab, „Equal Pay“ ab
dem ersten Tag einzuführen, was dazu führen würde, dass tatsächlich alle
Leiharbeitskräfte entsprechend der Zielsetzung des Gesetzes von Verbes-
serungen profitieren?

g) Bestätigt die Bundesregierung, dass der Tarifvorrang im AÜG ermög-
licht, dass bestehende Tarifverträge durch Leiharbeit umgangen werden,
und wie passt das zur Zielsetzung der Bundesregierung „die Bedeutung
tarifvertraglicher Vereinbarungen als wesentliches Element einer verläss-
lichen Sozialpartnerschaft [zu stärken]“ (S. 12)?

3. Welche Schlupflöcher gibt es derzeit beim Einsatz von Leiharbeit bei der
Bezahlung, und wie werden diese mit dem geplanten Gesetz verhindert?
a) Kann mit der geplanten Regelung zum „Equal Pay“ der Drehtüreffekt ent-

stehen, dass Entleihfirmen Leiharbeitskräfte, insbesondere innerhalb ei-
nes Konzerns oder einer Branche systematisch austauschen, um den An-
spruch auf „Equal Pay“ zu umgehen, und wie wird die Bundesregierung
diesen Drehtüreffekt verhindern?

b) Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung den Zeitraum, in dem vor-
herige Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an
denselben Entleiher vollständig anzurechnen sind, im Vergleich zum ers-
ten Gesetzentwurf von sechs auf drei Monate verkürzt?

c) Welche gesetzliche Regelung verhindert das mögliche Schlupfloch, dass
Betriebe die Leiharbeitskräfte kurzfristig für die Dauer von drei Monaten
an die Verleiher zurückgeben, in denen die Leiharbeitskräfte beispiels-
weise ihren Urlaub nehmen, Arbeitszeitkonten nutzen und Überstunden
abbauen können, um sie danach wieder erneut – ohne Anspruch auf
„Equal Pay“ – einzusetzen?

d) Wäre es auf Grundlage des geplanten Gesetzentwurfs möglich, dass Leih-
arbeitskräfte kurz bevor sie Anspruch auf „Equal Pay“ haben gekündigt
werden und anschließend nach einem dreimonatigen Bezug von Arbeits-
losengeld wieder auf demselben Arbeitsplatz, aber ohne Anspruch auf
„Equal Pay“, eingesetzt werden?
Wenn nein, warum nicht?
Wenn ja, wie wird die Bundesregierung dieses Schlupfloch schließen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9559
4. Warum wurde die Höchstüberlassungsdauer an die Verweildauer der Leih-
arbeitskräfte gebunden, also arbeitnehmerbezogen und nicht arbeitsplatzbe-
zogen ausgestaltet?
a) In welcher Form erreicht der Gesetzentwurf die Zielsetzung, dass „die

Funktion der Arbeitnehmerüberlassung als Instrument zur zeitlich be-
grenzten Deckung eines Arbeitskräftebedarfs geschärft“ wird (S. 1), wenn
die Betriebe aufgrund der arbeitnehmerbezogenen Höchstüberlassungs-
dauer weiterhin neue Leiharbeitskräfte für denselben Arbeitsplatz einset-
zen können, und wäre nicht eine Höchstüberlassungsdauer, bezogen auf
den Beschäftigungsbedarf im Einsatzbetrieb, zielführender?

b) Wie kann durch den Gesetzentwurf die Zielsetzung erreicht werden, dass
„einer dauerhaften Substitution von Stammbeschäftigten entgegenge-
wirkt“ wird (S. 19), wenn aufgrund der arbeitnehmerbezogenen Höchst-
überlassungsdauer weiterhin Dauerarbeitsplätze mit wechselnden Leihar-
beitskräften zu günstigeren Lohnkosten besetzt werden können?

c) Stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass Leiharbeitskräfte zu-
künftig nur vorübergehend bei ein und demselben Entleihbetrieb einge-
setzt werden dürfen, die Betriebe aber dauerhaft Leiharbeitskräfte einset-
zen können, wenn sie die Leiharbeitskräfte immer vor Ende der Höchst-
überlassungsdauer austauschen?
Wenn nein, warum nicht?

d) Inwiefern entspricht die arbeitnehmerbezogene Höchstüberlassungs-
dauer, die sich ausschließlich an der Verweildauer der Leiharbeitskräfte
im Entleihbetrieb orientiert, dem Artikel 5 Absatz 5 der EU-Richtlinie
2008/104/EG, der die Mitgliedstaaten auffordert, Maßnahmen gegen den
Missbrauch durch aufeinanderfolgende Überlassungen zu ergreifen?

e) Kann zukünftig weiterhin gerichtlich festgestellt werden, dass Entleihbe-
triebe „nicht vorübergehend“ Leiharbeit einsetzen, wenn sie Leiharbeits-
kräfte permanent austauschen und dabei die Höchstüberlassungsdauer be-
achten?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

5. Welchen Vorteil haben die Leiharbeitskräfte durch die Höchstüberlassungs-
dauer, und in welcher Form werden sie gestärkt?
a) Aus welchen Gründen bzw. auf welcher statistischen Grundlage hat sich

die Bundesregierung für eine Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten
entschieden?

b) Wie viel Prozent der Leiharbeitskräfte arbeiten derzeit bereits länger als
18 Monate in ein und demselben Entleihbetrieb?

c) Mit welcher gesetzlichen Regelung verhindert die Bundesregierung den
möglichen Drehtüreffekt, dass Leiharbeitskräfte vor Ablauf der Höchst-
überlassungsdauer systematisch ausgetauscht oder innerhalb von Kon-
zernstrukturen verschoben werden?

d) Worauf basiert die Annahme der Bundesregierung, dass Entleihbetriebe
den Leiharbeitskräften nach Ablauf der Höchstüberlassungsdauer tatsäch-
lich einen Arbeitsvertrag anbieten und die Leiharbeitskräfte entsprechend
der Zielsetzung des Gesetzes „soziale Sicherheit“ erhalten?

6. Wie begründet die Bundesregierung die geplanten vielfältigen Öffnungs-
klauseln und die damit verbundene Ungleichbehandlung von Leiharbeits-
kräften?

Drucksache 18/9559 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
a) Wie begründet die Bundesregierung, dass auch nicht tariflich gebundene
Betriebe durch arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge von der
Höchstüberlassungsdauer und insbesondere vom Gleichbehandlungs-
grundsatz abweichen können, und wie ist das mit Artikel 5 Absatz 3
EU-Richtlinie/2008/104/EG vereinbar, der nur Abweichungen durch Ta-
rifverträge der Sozialpartner vorsieht?

b) Wie ist die Möglichkeit, dass nicht tarifgebundene Betriebe durch arbeits-
vertragliche Bezugnahme von tariflichen Regelungen profitieren können
mit der Zielsetzung der Bundesregierung vereinbar, dass „die Bedeutung
tarifvertraglicher Vereinbarungen als wesentliches Element einer verläss-
lichen Sozialpartnerschaft gestärkt“ werden soll?

c) Warum ermöglicht die Bundesregierung allein den Tarifvertragsparteien
der Einsatzbranche einen Tarifvertrag, mit dem die Einsatzbranche von
der Überlassungshöchstdauer abweichen kann, obwohl die Tarifpartner
der Leiharbeitsbranche in der Vergangenheit bereits spezifische Bran-
chenzuschläge verhandelt haben?

d) Warum wird die mögliche Abweichung der Höchstüberlassungsdauer
durch Tarifvertrag der Einsatzbranche nicht wie bei „Equal Pay“ mit einer
festgelegten maximalen Dauer begrenzt, und wie wird dies dem besonde-
ren Schutzbedürfnis von Leiharbeitskräften gerecht?

e) Warum knüpft die Bundesregierung die Möglichkeit, dass die Tarifver-
tragsparteien der Einsatzbranche mit einem Tarifvertrag die Überlas-
sungshöchstdauer verlängern können, nicht daran, dass solche Tarifver-
träge auch Angebote zur Übernahme von Leiharbeitskräften enthalten
müssen?

f) Warum ermöglicht die Bundesregierung eine über die gesetzliche Höchst-
überlassungsdauer hinausgehende Abweichung durch Betriebs- oder
Dienstvereinbarungen, obwohl die Aushandlungs- und Durchsetzungs-
möglichkeiten der betrieblichen Interessensvertretungen nicht mit denen
der Tarifvertragsparteien vergleichbar sind, beispielsweise aufgrund des
Streikverbots, und wie ist dies mit der Zielsetzung der Bundesregierung
vereinbar, dass „die Bedeutung tarifvertraglicher Vereinbarungen als we-
sentliches Element einer verlässlichen Sozialpartnerschaft gestärkt“ wer-
den soll?

g) Stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass die unterschiedlichen
Öffnungsklauseln zu einem unübersichtlichen Sammelsurium an Rege-
lungen führen und in der Folge für die Leiharbeitskräfte, die ja nur
vorübergehend in den Entleihbetrieben tätig sind, nicht nachvollziehbar
und schon gar nicht belegbar sind?
Wenn nein, warum nicht?

7. Wer überprüft in welcher Form die neuen Regelungen zu „Equal Pay“ und
zur Höchstüberlassungsdauer mit allen Öffnungsklauseln und Berechnungs-
modalitäten, damit das geplante Gesetz auch tatsächlich korrekt angewandt
wird?
a) In welcher Form müssen die Verleiher und Entleiher die Umsetzung der

neuen Regelungen und Öffnungsklauseln zu „Equal Pay“ und Höchst-
überlassungsdauer nachweisen?

b) Bestätigt die Bundesregierung die Aussage des Normenkontrollrats, dass
nur 10 Prozent der Leiharbeitskräfte von der geplanten Reform profitie-
ren, und stehen der bürokratische Aufwand und der Nutzen der geplanten
Reform in einem zu rechtfertigen Verhältnis?
Wenn ja, warum?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/9559
8. Warum werden arbeitsrechtliche Regelungen auf Grundlage des kirchlichen
Arbeitsrechts bei der Arbeitnehmerüberlassung privilegiert, und wie wird
dies sachlich begründet, obwohl diese Regelungen nicht dieselbe Rechtsqua-
lität wie Tarifverträge besitzen und unter besonderen Bedingungen, bei-
spielsweise ohne Streikmächtigkeit, zustande kommen?
a) Kann es demzufolge zukünftig besondere arbeitsrechtliche Regelungen

zur Arbeitnehmerüberlassung auf Grundlage des kirchlichen Arbeits-
rechts geben, die von den Regelungen zu „Equal Pay“, zur Höchstüber-
lassungsdauer bzw. zur Lohnuntergrenze zu Lasten der Beschäftigten ab-
weichen?

b) Wer kontrolliert die Einhaltung der Normen im kirchlichen Bereich, und
sind bei Streitfragen die Arbeitsgerichte zuständig?
Wenn nein, warum nicht, und wird das dem besonderen Schutzbedürfnis
von Leiharbeitskräften gerecht?

c) Ist die Arbeitnehmerüberlassung aus Sicht der Bundesregierung grund-
sätzlich mit dem kirchlichen Arbeitsrecht und dem Prinzip der Dienstge-
meinschaft vereinbar?
Wenn ja, warum?

9. Wie begründet die Bundesregierung, dass juristische Personen des öffentli-
chen Rechts beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – über die Gestellung
hinaus – privilegiert werden sollen?
a) Warum werden juristische Personen des öffentlichen Rechts, also bei-

spielsweise auch Universitäten, Industrie- und Handelskammern, Rund-
funkanstalten, beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz privilegiert, aber
Verbände nicht, die beispielsweise öffentliche soziale Aufgaben überneh-
men und auch nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst bezah-
len?

b) Welche verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Bedenken gegen
die Ungleichbehandlung von Privatwirtschaft und öffentlicher Dienst sind
der Bundesregierung bekannt, und wie werden diese ausgeräumt?

10. Warum wurde die Formulierung zum Einsatzverbot von Leiharbeitskräften
in bestreikten Betrieben im Vergleich zum ersten Referentenentwurf ent-
schärft?
a) Können die Regelungen dazu führen, dass häufig gerichtlich geklärt wer-

den muss, ob der Einsatz von Leiharbeitskräften in einem bestreikten Be-
trieb rechtmäßig ist?
Wenn nein, warum nicht?

b) Können die Regelungen dazu führen, dass das gesetzliche Einsatzverbot
zum Vorteil der Entleihbetriebe ins Leere läuft, weil die gerichtlichen
Klärungen länger andauern als der Streik?
Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 5. September 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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