BT-Drucksache 18/921

Vorlage eines Bundesleistungsgesetzes zur vollen und wirksamen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen

Vom 20. März 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/921
18. Wahlperiode 20.03.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katrin Werner, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Dr. Rosemarie Hein, Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Azize Tank,
Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann (Zwickau)
und der Fraktion DIE LINKE.

Vorlage eines Bundesleistungsgesetzes zur vollen und wirksamen Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen

Seit vielen Jahren ist die „Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe“ (Zwölf-
tes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII) in der Diskussion. Eine Bund-Länder-
Arbeitsgruppe erarbeitete Eckpunkte, die die Arbeits- und Sozialministerkon-
ferenz (ASMK) der Länder im Oktober 2010 entgegennahm. Diese sahen einer-
seits vor, die Leistungen personenzentriert und bedarfsgerecht auszugestalten,
andererseits aber auch das Prinzip der Kostenneutralität einzuhalten.
Behindertenverbände und die ASMK formulierten die Erwartung an die Bun-
desregierung, noch in der 17. Wahlperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorzulegen. Die Bundesregierung selbst stellte dies in Aussicht, setzte die An-
kündigung jedoch nicht um. Bund, Länder und Kommunen verständigten sich
daraufhin im Sommer 2012 im Rahmen der Fiskalpaktvereinbarung, in der
18. Wahlperiode ein neues Bundesleistungsgesetz (BLG) für Menschen mit Be-
hinderungen zu schaffen, das die rechtlichen Vorschriften der Eingliederungs-
hilfe in der bisherigen Form ablösen soll.
Die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD vereinbarte entsprechend im
Koalitionsvertrag: „Wir werden deswegen unter Einbeziehung der Bund-Länder-
Finanzbeziehungen ein Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderun-
gen erarbeiten. Dabei werden wir die Einführung eines Bundesteilhabegeldes
prüfen. Wir wollen die Menschen, die aufgrund einer wesentlichen Behinderung
nur eingeschränkte Möglichkeiten der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
haben, aus dem bisherigen ,Fürsorgesystem‘ herausführen und die Eingliede-
rungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickeln. Die Leistungen
sollen sich am persönlichen Bedarf orientieren und entsprechend eines bundes-
einheitlichen Verfahrens personenbezogen ermittelt werden. Leistungen sollen
nicht länger institutionenzentriert, sondern personenzentriert bereit gestellt wer-
den. Wir werden das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen
im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention berücksichtigen. Menschen mit
Behinderung und ihre Verbände werden von Anfang an und kontinuierlich am
Gesetzgebungsprozess beteiligt. Im Interesse von Kindern mit Behinderungen
und ihren Eltern sollen die Schnittstellen in den Leistungssystemen so überwun-
den werden, dass Leistungen möglichst aus einer Hand erfolgen können.“

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Obwohl seit langem viele Vorschläge, Positionspapiere oder teils sogar vollstän-
dige Gesetzentwürfe von Behindertenverbänden oder aus der Wissenschaft zur
Neuregelung der Teilhabeleistungen und -ansprüche für Menschen mit Behin-
derungen vorliegen, verkündete die Bundesministerin für Arbeit und Soziales,
Andrea Nahles (Plenardebatte am 30. Januar 2014, Plenarprotokoll 18/11), dass
„Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ gehe: „Wir werden in diesem Jahr mit der
Arbeit an diesem Gesetz beginnen, alle anhören und Beteiligung organisieren.
Aber die Umsetzung braucht eine Weile, wenn sie gut sein soll, damit es für die
behinderten Menschen in unserem Land ein Erfolg wird.“
Es fehlen jedoch Aussagen zu einem konkreten Zeitplan für diese Beteiligungen,
zu einem möglichen Zeitpunkt für die Vorlage eines Gesetzentwurfs oder zur
inhaltlichen Ausgestaltung bestimmter Regelungen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie entkräftet die Bundesregierung die Befürchtungen, dass die Aussage im

Koalitionsvertrag, „die Neuorganisation der Ausgestaltung der Teilhabe zu-
gunsten der Menschen mit Behinderung so [zu] regeln, dass keine neue Aus-
gabendynamik entsteht“ (S. 94) als versteckter Kostenvorbehalt zu verstehen
ist?

2. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem Rechtsgutachten „Begründung einer einkommens- und vermögens-
unabhängigen Eingliederungshilfe anhand der UN-Behindertenrechtskon-
vention“, welches von der Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben
e. V. (ISL) in Auftrag gegeben wurde, und wird die Bundesregierung ent-
sprechend Teilhabeleistungen uneingeschränkt und unabhängig von Einkom-
men und Vermögen sowie bedarfsdeckend ausgestalten?

3. Wird die Bundesregierung die „berechtigten“ Wünsche (§ 9 SGB IX) bei der
Wahl der Lebensform und nicht mehr nur die „angemessenen“ Wünsche (§ 9
SGB XII) auch in der Eingliederungshilfe ohne den Kostenvorbehalt (§ 13
Absatz 1 SGB XII) zum Maßstab machen?

4. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem Vorschlag des Forums behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ),
die Neugestaltung der Eingliederungshilfeansprüche mit Schritten zu einem
neuen Kapitel 7 – Soziale Teilhabe – im ersten Teil des SGB IX zu verbinden?

5. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Forderung des FbJJ, dass „eine volle und mit anderen gleichberech-
tigte soziale Teilhabe im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention eine
umfassende Anpassung der seit 1961 weitgehend unveränderten Leistungs-
ansprüche in der Eingliederungshilfe voraus[setzt], die nicht zu Leistungsein-
schränkungen – wie von der ASMK beabsichtigt – sondern zu einer begrenz-
ten Leistungsausweitung führen muss“?

6. Welche Auffassung vertritt die Bundesregierung zur Forderung des Deut-
schen Behindertenrates (DBR), formuliert in seinem Positionspapier zur
Schaffung eines Bundesleistungsgesetzes vom 24. September 2013, einen
„Rechtsanspruch auf eine von Leistungsträgern und -erbringern unabhängige
Beratung als Ersatz zu den im SGB IX aufgeführten Servicestellen zu ver-
ankern“?

7. Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass die Leistungen bedarfsge-
recht ausgestaltet und erbracht werden, wenn parallel keine weitere Kosten-
dynamik entstehen soll?
Wie lässt sich das mit der Forderung des DBR nach einem offenen und weiten
Leistungskatalog vereinbaren?

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8. Werden die Teilhabeleistungen auch Assistenzleistungen beinhalten, und
wenn ja, auf welche Lebensphasen, -lagen und gesellschaftlichen Bereiche
wird der Assistenzanspruch festgeschrieben?

9. Wie berücksichtigt die Bundesregierung eine Erweiterung des Geltungs-
bereiches von Assistenzansprüchen beispielsweise auch auf ehrenamtliche
Tätigkeiten, Praktika oder auf Beschäftigungssituationen von weniger als
15 Wochenstunden Assistenz?

10. Inwieweit wird die Bundesregierung bei der Erarbeitung eines bundesweit
einheitlichen Verfahrens zur Anspruchs- und Bedarfsermittlung die Inter-
nationale Klassifikation der Funktionsfähigkeiten, Behinderung und Ge-
sundheit (ICF) zugrunde legen?

11. Wie will die Bundesregierung gewährleisten, dass Bedarfsermittlungs-
verfahren unter aktiver Beteiligung und Einbeziehung der Menschen mit
Behinderungen diskriminierungsfrei ausgestaltet werden?

12. In welchem Umfang sind Weiter-/Fortbildungsmaßnahmen für Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter zuständiger Behörden geplant, um die Bedarfser-
mittlungsgespräche kompetent, sensibel und diskriminierungsfrei durchzu-
führen?

13. Wie will die Bundesregierung die Schnittstellenprobleme in den Leistungs-
systemen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sowie für ihre
Eltern lösen, damit die Leistungen aus einer Hand erfolgen können?

14. Inwieweit unterstützt die Bundesregierung die „Große Lösung“ – Zustän-
digkeiten für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen unter dem Dach
der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) festzuschreiben –, und welche
bundesministeriumsübergreifenden Positionen und Beschlüsse gibt es dies-
bezüglich?

15. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Düsseldorfer Erklärung der Behindertenbeauftragten von Bund und
Ländern vom Juni 2013?

16. Welches Gewicht und welche politische Rolle wird die Bundesregierung der
neuen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter
Menschen Verena Bentele im Prozess der Erarbeitung eines Entwurfs für
ein Bundesteilhabegesetz einräumen?

17. Unterstützt die Bundesregierung die von Verena Bentele in ihrer Pressemit-
teilung vom 18. Februar 2014 (Nr. 2/2014) formulierte Forderung, „dass mit
der Schaffung eines neuen Teilhaberechts der Wegfall der Einkommens-
und Vermögensgrenze für Menschen mit Behinderungen verbunden sein
muss“?

18. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der von Fachverbänden in ihren „Grundzügen für ein Bundesleistungs-
gesetz für Menschen mit Behinderungen“ vom 24. April 2013 geforderten
„individuelle[n] Bedarfsdeckung unabhängig von Altersgrenzen“?

19. Wie steht die Bundesregierung zu einer möglichen Finanzierungsbeteili-
gung von behinderten Menschen mit höherem Einkommen, und inwieweit
werden die vom Paritätischen Gesamtverband vorgeschlagenen Einkom-
mensgrenzen unterstützt?

20. Wie will die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern eine
ebenfalls von den Fachverbänden geforderte wohnortnahe und sozialraum-
orientierte Leistungserbringung sicherstellen?

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21. Welche Alternativen zur Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte
Menschen im Sinne des Wunsch- und Wahlrechts der Betroffenen erwägt
die Bundesregierung, im Bundesleistungsgesetz zu verankern?

22. Wie wird das Wunsch- und Wahlrecht für eine selbstbestimmte Lebens-
führung, insbesondere die freie Wahl des Wohnortes und der Wohnform, be-
rücksichtigt?

Berlin, den 19. März 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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