BT-Drucksache 18/9127

Inklusive Bildung für alle - Ausbau inklusiver Hochschulen fördern

Vom 8. Juli 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9127
18. Wahlperiode 08.07.2016
Antrag
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach,
Matthias W. Birkwald, Katja Kipping, Birgit Menz, Cornelia Möhring, Norbert
Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Azize Tank,
Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn
Wunderlich, Sabine Zimmermann (Zwickau), Pia Zimmermann und der
Fraktion DIE LINKE.

Inklusive Bildung für alle – Ausbau inklusiver Hochschulen fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Inklusion im Bildungsbereich bedeutet, dass allen Menschen die gleichen Möglich-
keiten offen stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzunehmen und ihre Po-
tenziale zu entwickeln, unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht,
sozialen und ökonomischen Voraussetzungen. Inklusive Bildung ist ein Prozess, der
die Kompetenzen im Bildungssystem stärkt, die notwendig sind, um alle Lernenden
zu erreichen. Inklusive Bildung geht auf die verschiedenen Bedürfnisse von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen ein. Erreicht wird dies durch verstärkte Partizipation
an Lernprozessen, Kultur und Gemeinwesen sowie durch eine konsequente Reduk-
tion von Exklusion in der Bildung. Dazu bedarf es „Veränderungen in den Inhalten,
Ansätzen, Strukturen und Strategie“ im Bildungswesen (Deutsche UNESCO-Kom-
mission e. V.: Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik, Bonn 2014; vgl.
UNESCO: Overcoming Exclusion through Inclusive Approaches in Education. A
challenge and vision, Paris, 2003).
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention – UN-BRK) ist seit dem
26. März 2009 in Kraft, nachdem Bundestag und Bundesrat dieser Konvention ein-
schließlich ihres Zusatzprotokolls ohne Einschränkungen einstimmig im Dezem-
ber 2008 zustimmten. Deutschland hat sich damit zur Inklusion verpflichtet. Dazu
zählen weitere internationale Übereinkommen bzw. Erklärungen, etwa die Allge-
meine Erklärung der Menschenrechte (1948), das Übereinkommen gegen Diskrimi-
nierung in der Bildung (1960), das Übereinkommen über die Rechte des Kindes
(UN-Kinderrechtskonvention von 1989) sowie auch das Übereinkommen über den
Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen.
Dem Verständnis von Inklusion entsprechend muss der gesamte Bildungsbereich ei-
nen uneingeschränkten, gleichberechtigten Zugang für alle unabhängig von sozialer
Zugehörigkeit, Geschlecht, ökonomischem Hintergrund, ethnischer Herkunft, Spra-
che, Religion und Fähigkeiten sowie von individuellen Voraussetzungen gewähr-
leisten. Der Deutsche Bundestag geht von einem weiten Inklusionsbegriff aus, der
nicht nur Menschen mit Behinderungen in den Blick nimmt, sondern sie wie alle

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anderen umfasst. Inklusion in der Bildung muss also den individuellen Bedürfnissen
aller entsprechen und umfasst somit alle Menschen, die an Bildungsprozessen teil-
nehmen.
Tatsächlich aber gibt es im bundesdeutschen Bildungssystem erhebliche Exklusions-
risiken. Sie reichen von unterschiedlichen körperlichen, geistigen, seelischen und
Sinnesbehinderungen über soziale Benachteiligungen, Geschlecht und Herkunft. So
haben zum Beispiel auch junge Menschen mit Migrationshintergrund trotz großer
individueller Potenziale immer noch deutlich schlechtere Bildungschancen. Festzu-
stellen ist auch, dass die Umsetzung inklusiver Bildung mit den einzelnen Bildungs-
stufen abnimmt.
Der Deutsche Bundestag ist aufgefordert, Inklusion auch im Bereich der Hoch-
schulbildung im Sinne der Umsetzung der völkerrechtlich verbrieften Menschen-
rechte auf Partizipation (im Sinne von Teilhabe, Beteiligung, Mitwirkung sowie Mit-
bestimmung), Selbstbestimmung und inklusive Bildung für alle Menschen voranzu-
treiben. Inklusive Bildung gilt auch an der Hochschule: für Studierende mit Kind,
Studierende mit Migrationshintergrund, Studierende aus Nichtakademikerfamilien
und Studierende mit einer studienerschwerenden Beeinträchtigung wie zum Beispiel
chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderungen und Geflüchtete – um nur ei-
nige zu nennen – und ebenso für alle ohne eine festgestellte Benachteiligung.
Bezüglich Studierender mit Behinderungen bzw. chronischen Krankheiten haben
sich die Hochschulen im Jahr 2009 – mit Rücksicht auf Art. 24 Abs. 5 UN-BRK –
in der Selbstverpflichtung „Eine Hochschule für alle“ der HRK-Mitgliederversamm-
lung ausdrücklich verständigt, „[…] die Chancengleichheit für diese Studierenden
zu sichern“ (HRK, „Eine Hochschule für alle“, 2009, S. 10).
Obwohl das Thema inzwischen in vielen Hochschulen präsent ist und sich entspre-
chende Unterstützungsstrukturen entwickelt haben, ist es bisher in unterschiedli-
chem Maße gelungen, diese Selbstverpflichtung umzusetzen. So ergab beispiels-
weise die Evaluation der HRK im Jahr 2012, dass nur etwas mehr als die Hälfte der
befragten Hochschulen über einen barrierefreien Web-Auftritt verfügte. Obwohl es
an den meisten Hochschulen bereits Beauftragte für die Belange von Studierenden
mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen gibt, wird die Ansiedlung derselben
höchst unterschiedlich gehandhabt. Die meisten Beauftragten wirken nebenamtlich.
Konzepte zur flächendeckenden Umsetzung von Barrierefreiheit (insbesondere im
Vorlesungs- und Seminarbereich) bestehen an weniger als einem Viertel der befrag-
ten Hochschulen. Hierfür sind vor allem finanzielle Gründe angeführt worden
(HRK, „Eine Hochschule für alle. Ergebnisse der Evaluation“, 2012, S. 7).
Die Hochschulen sind bereits seit den 1970er-Jahren gesetzlich verpflichtet, dafür
zu sorgen, dass „behinderte Studierende in ihrem Studium nicht benachteiligt wer-
den und die Angebote der Hochschule möglichst ohne fremde Hilfe in Anspruch
nehmen können“ (Hochschulrahmengesetz, § 2 Abs. 4). Eine inklusive Hochschule
bedeutet dies allerdings noch lange nicht.
Im Studium selbst stehen Studierende mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen
häufig vor besonderen Herausforderungen. Die Sondererhebung des Deutschen Stu-
dentenwerkes „Beeinträchtigt studieren“ (2012) ergab, dass sich die Beeinträchti-
gungen für 60 % der betroffenen Studierenden stark oder sehr stark auf ihr Studium
auswirken. Erschwernisse zeigen sich in zahlreichen Bereichen: zeitliche Vorgaben
der Studien- und Prüfungsordnungen (70 %), organisatorische Vorgaben des Studi-
engangs (61 %), Gestaltung der Lehr- und Prüfungssituationen (63 %) und Durch-
führung von Praktika, Exkursionen oder bei den für viele Studiengänge erforderli-
chen Auslandsaufenthalten (17 %). Relevante Probleme ergeben sich auch durch hö-
here Lebenshaltungs- sowie besondere Kosten im Verlaufe des Studiums. 71 % der
Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen haben Zusatzkosten für nicht
studienbezogene Mehrbedarfe wie Arztbesuche, Medikamente oder Psychothera-
pien zu tragen. Studienbezogene Mehrbedarfe wie beispielsweise Studien- oder

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Kommunikationsassistenzen, Mobilitäts- oder technische Hilfe ergeben sich für 9 %
der betroffenen Studierenden. Dazu kommt der erhöhte Organisationsaufwand, mit
dem Studierende mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung im Laufe ihres
Studiums konfrontiert sind.
Besondere Erschwernisse stellen zudem noch immer Vorurteile, Stigmatisierung
und Diskriminierung der Betroffenen dar sowie die Nichtanerkennung der individu-
ellen Leistungen durch KommilitonInnen, Lehrkräfte und ProfessorInnen. Hier be-
darf es auch sieben Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK eines klaren Fokus auf die
Bewusstseinsbildung an deutschen Hochschulen, um diskriminierendem Verhalten
entgegenzuwirken.
Diese besonderen Erschwernisse haben häufig zur Konsequenz, dass Studierende
mit einer studienerschwerenden Beeinträchtigung im Vergleich zu anderen Studie-
renden vergleichsweise lange Studienzeiten aufweisen, die auch häufiger als bei an-
deren Studierendengruppen zu Studienabbruchgedanken führen. Die 20. Sozialerhe-
bung des Deutschen Studienwerkes (DSW) ergab, dass fast jeder siebte Studierende
mit einer für das Studium nachteiligen Beeinträchtigung seit insgesamt 15 oder mehr
Semestern an Hochschulen eingeschrieben ist (vgl. DSW, 20. Sozialerhebung).
Vor diesem Hintergrund bedarf es der gemeinsamen Anstrengung von Bund und
Ländern, die Studienbedingungen an den Hochschulen in Deutschland derart auszu-
gestalten, dass kein Mensch aufgrund seiner individuellen Ausgangslage benachtei-
ligt wird.
Diese Anstrengung muss allerdings unter folgender Prämisse stehen: „Inklusion ver-
stehen wir als menschenrechtlich normierten Anspruch von Menschen mit Behinde-
rungen und/oder chronischer Erkrankung auf eine freie Entfaltung in Hochschulen.
Nicht die Einzelnen sollen sich anpassen, sondern die Hochschule muss so gestaltet
werden, dass die Mitglieder ihre Rechte auf Teilhabe unter der Prämisse der Selbst-
bestimmung umsetzen können“ (Uta Klein (Hg.), Inklusive Hochschule. Neue Per-
spektiven für Praxis und Forschung, 2016).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Inklusion als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und die politi-
schen Vorgaben und Maßnahmen darauf auszurichten;

2. in Zusammenarbeit mit Ländern, Kommunen und Studentenwerken ein Investi-
tionsprogramm „Inklusive Bildung“ auf den Weg zu bringen, um folgende Auf-
gaben zu bewältigen:
a) schnellstmöglicher Um- und Ausbau bestehender Bildungseinrichtungen

mit dem Ziel, Barrierefreiheit zu gewährleisten. Neubauten sind von Beginn
an nach dem Gestaltungsprinzip „Design für alle“ zu gestalten,

b) Bereitstellung von barrierefreien Kommunikationsformen und Beratungs-
angeboten unabhängig von der Behinderungsart,

c) Gewährleistung umfassender Barrierefreiheit im Bereich der Verkehrswe-
geplanung sowie beim öffentlichen Nahverkehr. Kommunen brauchen hier-
für eine dauerhafte und verlässliche Unterstützung des Bundes bei der fi-
nanziellen Sicherung dieser Aufgabe,

d) über die Nutzung des Artikels 91b des Grundgesetzes (GG) Instrumente zu
schaffen, auf deren Grundlage kommunikative, organisatorische, didakti-
sche und strukturelle Barrieren im Studium abzubauen sind;

3. sich gemeinsam mit dem Bundesrat und der Kultusministerkonferenz dazu zu
verpflichten, dass der Umbau zu einem inklusiven Bildungssystem umgehend
in allen Ländern durchgesetzt, verbindliche Handlungsempfehlungen und Emp-
fehlungen für personelle Standards und Garantien erarbeitet werden und Inklu-
sion umgehend umgesetzt wird;

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4. die Initiative zu ergreifen, um das grundgesetzliche Verbot der Bildungszusam-

menarbeit zwischen Bund und Ländern (Kooperationsverbot) ohne Einschrän-
kungen aufzuheben sowie die Gemeinschaftsaufgabe Bildung grundgesetzlich
zu verankern. Bis zu der hierfür erforderlichen Grundgesetzänderung, die Teil-
aufhebung des Artikels 91b GG für eine engere Kooperation von Bund und Län-
dern in der inklusiven Bildung an Hochschulen bereits jetzt zu nutzen;

5. eine Gesetzesänderung mit dem Ziel zu initiieren, die Förderung nach dem BA-
föG als Vollzuschuss ab dem ersten Semester auszugestalten und Studierenden
mit Beeinträchtigung eine der Beeinträchtigung angemessene Förderung über
die Regelstudienzeit hinaus zu gewähren;

6. sich gegenüber der Kultusministerkonferenz für eine Änderung der Strukturvor-
gaben für Bachelor- und Masterstudiengänge einzusetzen, die eine eigenstän-
dige organisatorische und curriculare Gestaltung des Studiums und eine Anpas-
sung an die individuellen Voraussetzungen ermöglicht;

7. gemeinsam mit dem Deutschen Studentenwerk, den Kommunen und den Bun-
desländern im Rahmen des Investitionsprogramms „Inklusive Bildung“ die Her-
stellung umfassender Barrierefreiheit in allen Studentenwohnheimen/-werken,
Mensen und studentischen Cafeterien sowie bei Neubauten zu entwickeln und
umzusetzen;

8. gemeinsam mit den Ländern und unter Einbeziehung von Behindertenselbstver-
tretungsorganisationen/-verbänden einen bedarfsgerechten „Inklusionspakt“ für
die Hochschulen unter Berücksichtigung folgender Eckpunkte zu erarbeiten:
a) Einrichtung eines Investitionsprogramms im Volumen von mindestens zwei

Milliarden Euro, aus welchem Hochschulen bedarfsgerecht Finanzmittel für
bauliche und sonstige Maßnahmen beantragen können,

b) Stärkung und Ausweitung der Kompetenzen der Behindertenbeauftragten
an allen Hochschulen sowie deren bedarfsgerechte personelle und finanzi-
elle Ausstattung,

c) Schaffung von Stellen an Hochschulen für studentische Enthinderungsbe-
auftragte auf Ebene der Institute. Diese Beauftragten sollen unabhängig sein
und in allen Gremien Rede- und Antragsrecht analog zu den Gleichstel-
lungsbeauftragten erhalten,

d) Stellenerhöhung beim Lehrpersonal und insbesondere bei den Professoren,
um ein angemessenes Betreuungsverhältnis zu erreichen und persönliche
fachliche Betreuung aller Studierenden durch die Dozenten zu ermöglichen,

e) Weiterbildungs- und Qualifizierungsprogramme für alle Lehrenden, um
diese für die Belange von Menschen mit studienerschwerenden Beeinträch-
tigungen zu sensibilisieren und den inklusiven Umgang zu erlernen und um-
zusetzen,

f) bedarfsgerechter Ausbau der Angebote kostenloser Sprachkurse insbeson-
dere für Deutsch, Englisch und Gebärdensprache,

g) Lehr- und Lernmittel auf die Erfordernisse inklusiver Bildung auszurichten
und als offene Lehr- und Lernmittel zur Verfügung zu stellen,

h) bedarfsgerechte Erhöhung von Sonderquoten für die Zulassung von Studie-
renden mit studienerschwerender Beeinträchtigung zusätzlich zu den regu-
lär finanzierten Studienplätzen und barrierefreie Zulassungsverfahren;

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/9127
9. für Studierende mit Behinderung auch über den ersten berufsqualifizierenden

Abschluss hinaus bedarfsgerechte Teilhabeleistungen, wie beispielsweise für
persönliche Assistenz, beim Besuch der Hochschule (Leistungen der Eingliede-
rungshilfe nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 SGB XII) als Nachteilsausgleich ein-
kommens- und vermögensunabhängig zu gewähren und damit diesen Anspruch
im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) festschreiben – wie von der Frak-
tion DIE LINKE. im Antrag „Bundesteilhabegesetz zügig vorlegen“ (Bundes-
tagsdrucksache 18/1949) bereits gefordert;

10. alle genannten Maßnahmen entsprechend auch für Promotionsstudierende anzu-
wenden.

Berlin, den 8. Juli 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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