BT-Drucksache 18/8619

Eine Menschheit, gemeinsame Verantwortung - Für eine flexible, wirksame und zuverlässige humanitäre Hilfe

Vom 1. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8619
18. Wahlperiode 01.06.2016
Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, Uwe
Kekeritz, Peter Meiwald, Claudia Roth (Augsburg), Annalena Baerbock,
Marieluise Beck (Bremen), Dr. Franziska Brantner, Agnieszka Brugger,
Dr. Tobias Lindner, Cem Özdemir, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
Jürgen Trittin, Doris Wagner, Britta Haßelmann und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eine Menschheit, gemeinsame Verantwortung ‒ Für eine flexible, wirksame
und zuverlässige humanitäre Hilfe

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die humanitären Krisen haben heute ein seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr ge-
kanntes Ausmaß angenommen. Sowohl die direkt betroffenen Länder als auch die
internationale Gemeinschaft sind überfordert, die Kluft zwischen dem humanitären
Bedarf und den zur Verfügung stehenden Mitteln wird trotz aller Anstrengungen
immer größer. Kriege und Konflikte sind die Hauptursache dieser Notlage. Das hu-
manitäre Völkerrecht wird vielerorts missachtet, 90 % aller Menschen, die durch den
Gebrauch explosiver Waffen in besiedelten Gebieten getötet werden, sind Zivilisten.
Seit 2004 hat sich der Bedarf an humanitärer Hilfe auf mittlerweile 20,1 Milliarden
Dollar pro Jahr versechsfacht, wovon 2015 7,2 Milliarden Dollar ungedeckt blieben.
Derzeit erhalten Millionen von Menschen, ob in Syrien, im Jemen, im Südsudan, in
Somalia, im Tschad, oder in der Zentralafrikanischen Republik nicht die lebensret-
tende Hilfe, die sie benötigen.
Vor diesem Hintergrund fand am 23. und 24. Mai in Istanbul der erste humanitäre
Weltgipfel der Vereinten Nationen statt. VN-Generalsekretär Ban-Ki Moon wies da-
bei auf das Offensichtliche hin: Humanitäre Hilfe kann politisches Handeln nicht
ersetzen. Es ist Aufgabe der Politik, Konflikte und Krisen gar nicht erst ausbrechen
zu lassen, gegen Natur- und Klimakatastrophen rechtzeitig Vorsorge zu treffen, das
humanitäre Völkerrecht und die Flüchtlingskonvention zu respektieren, und die Be-
troffenen durch Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten in die Lage zu versetzen, ihr
Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, anstatt zu passiven Hilfsempfängern zu
werden.
Es stellt sich also eine Doppelaufgabe. Einerseits muss die lebensrettende Nothilfe
gestärkt werden. Sie braucht eine flexiblere und zuverlässigere Finanzierung und
größere politische Unterstützung, gerade dort, wo lokale Kräfte geschwächt sind.
Humanitäre Helfer müssen auch in diesen Situationen in Unabhängigkeit und Si-
cherheit ihrer Aufgabe nachgehen können.

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Viel wäre bereits gewonnen, wenn das geltende humanitäre Völkerrecht, das Regeln
für die Kriegsführung festlegt, respektiert würde. Dafür muss sich auch Deutschland
mit aller Kraft einsetzen, bis hin zur strengeren Kontrolle der eigenen Rüstungsex-
porte.
Gleichzeitig müssen Regierungen sich politisch stärker für Krisenprävention einset-
zen und sicherstellen, dass humanitäre Hilfsleistungen flankiert werden von Maß-
nahmen zur Umsetzung der Nachhaltigkeits- und Entwicklungsziele (SDGs), der
Katastrophenvorsorge und der Entwicklungszusammenarbeit, ohne deshalb die Un-
abhängigkeit und Neutralität der humanitären Hilfe in Frage zu stellen. Lokale Ka-
pazitäten müssen gestärkt und die Zusammenarbeit der Helfer verbessert werden.
Den Fluchtbewegungen muss nicht nur mit Nothilfe, sondern auch mit Möglichkei-
ten zur legalen und geordneten Migration, Kontingentlösungen und vor allem fairen
Asyl- und Aufnahmeverfahren begegnet werden.
Der VN-Generalsekretär hat versucht, mit dem humanitären Weltgipfel einen Re-
formprozess anzustoßen. Diesen muss Deutschland nun entschlossen unterstützen.
Angela Merkels Teilnahme am Gipfel in Istanbul war ein positives Signal. Konkrete
politische Ansagen und Reformvorhaben waren von der deutschen Delegation je-
doch nicht zu hören. Die Bundesregierung blieb wie so oft vage und verspielte damit
die Chance, zu einer grundlegenden Reform des internationalen humanitären Sys-
tems konstruktiv beizutragen.
Diese Zurückhaltung ist angesichts des Ausmaßes der Katastrophen fehl am Platz.
Die internationale Gemeinschaft wird ungleich mehr finanzielles aber auch politi-
sches Engagement zeigen müssen, damit das Leid der betroffenen Menschen gelin-
dert werden kann. Deutschlands Handeln hat international Gewicht, auch weil
Deutschland nunmehr einer der wichtigsten humanitären Geber ist. Deutschland
sollte deshalb mit gutem Beispiel vorangehen und die notwendigen Reformen des
humanitären Systems anstoßen und auch selbst umsetzen. Damit kann die Qualität
der humanitären Hilfe verbessert und ihre Wirkung gestärkt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dem weltweit steigenden finanziellen Bedarf bei der humanitären Hilfe Rech-
nung zu tragen und dabei die Mittel, die für akute Notsituationen verfügbar sind,
zu erhöhen;

2. mindestens 30 % der Mittel für humanitäre Hilfe in Zukunft ohne Zweckbin-
dung zu vergeben;

3. die geltenden Regelungen zur Vermeidung von Doppelförderung in Bezug auf
humanitäre und Übergangshilfe zu vereinfachen;

4. die Planbarkeit der humanitären Hilfe zu erhöhen, indem finanzielle Zusagen an
Partnerorganisationen in weit stärkerem Maße als bisher im Voraus und über
mehrere Jahre hinweg getroffen werden;

5. auf sich abzeichnende Krisen frühzeitig mit klaren und kohärenten diplomati-
schen Initiativen zu reagieren, dabei die internationalen Institutionen einzube-
ziehen und die entsprechenden Kapazitäten zur zivilen Krisenprävention auf na-
tionaler und internationaler Ebene weiter auszubauen;

6. sicherzustellen, dass das humanitäre Völkerrecht bei allen Militäreinsätzen, an
denen die Bundeswehr direkt oder indirekt beteiligt ist, unbedingt eingehalten
wird;

7. die Initiative zur Stärkung und Weiterentwicklung des humanitären Völker-
rechts der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung konstruktiv und aktiv zu un-
terstützen;

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8619
8. sich aktiv für die Umsetzung der Resolution 2286 (2016) des VN-Sicherheitsra-

tes vom 3. Mai 2016, die Angriffe auf medizinisches Personal verurteilt, einzu-
setzen und die Safe Schools Declaration (‚Lucens-Guidelines‘) zum Schutz von
Bildungseinrichtungen in bewaffneten Konflikten endlich zu unterzeichnen;

9. keine Rüstungsgüter in Gebiete zu exportieren, in der diese zur Verletzung des
Humanitären Völkerrechts eingesetzt werden oder eine Verletzung nicht ausge-
schlossen werden kann;

10. sich für ein neues Rahmenabkommen zur globalen Lasten- und Aufgabenteilung
in Bezug auf den Umgang mit Flucht und Vertreibung einzusetzen, z. B. im Rah-
men des Treffens der VN-Generalversammlung zu ‚Addressing Large Move-
ments of Refugees and Migrants‘, das am 19. September 2016 stattfindet;

11. legale Zugangswege in die EU für Schutzsuchende zu stärken, einschließlich
Familienzusammenführung, humanitärer Visa und Arbeits- und Bildungsmög-
lichkeiten, Schutzangeboten für Menschen, die nicht unter die Flüchtlingskon-
vention fallen;

12. Staaten in krisenanfälligen Regionen bei der Entwicklung von Asylgesetzen und
Rechtsstandards zu unterstützen, die die Aufenthaltsbedingungen und den
Schutz von Menschen auf der Flucht verbessern, so dass z. B. Arbeit und Aus-
bildung auch für Flüchtlinge zugänglich sind;

13. im Sinne des Prinzips ‚leave no one behind‘ sicherzustellen, dass besonders ge-
fährdete Gruppen wie Menschen auf der Flucht, Menschen mit Behinderungen,
Frauen, Kinder und alte Menschen in gleichem Maße Zugang zu humanitären
Hilfsleistungen haben;

14. das beim Humanitären Weltgipfel neu aufgesetzte Hilfspaket zur Finanzierung
von Bildung in Krisen und Konflikten „Education Cannot Wait“ noch im lau-
fenden Jahr durch eine Anschubfinanzierung von mindestens 50 Millionen Euro
zu unterstützen;

15. die „Strategie des Auswärtigen Amts zur humanitären Hilfe im Ausland“ von
2012 zu aktualisieren, regelmäßig, umfassend und unabhängig evaluieren zu las-
sen und darüber zu berichten;

16. die personellen Kapazitäten des Auswärtigen Amts zur Gestaltung und Koordi-
nation der humanitären Hilfe, auch in den Botschaften vor Ort, zu erweitern;

17. die bestehenden Instrumente der humanitären Hilfe und der Entwicklungszu-
sammenarbeit, insbesondere am Übergang von der Nothilfe zu längerfristigen
Maßnahmen besser und flexibler aufeinander abzustimmen;

18. einen ganzheitlichen Ansatz der deutschen humanitären Hilfe, wie im OECD-
DAC Peer Review Bericht zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit von
2015 gefordert, zu gewährleisten, und dementsprechend ein umfassendes ress-
ortübergreifendes Konzept für die humanitäre Hilfe und ihre Instrumente vorzu-
legen.

Berlin, den 31. Mai 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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Begründung

Gewaltsame Auseinandersetzungen, Terrorismus, das Fehlen staatlicher Strukturen, die eklatante Missachtung
des humanitären Völkerrechts, negative Folgen des Klimawandels, Natur- und Umweltkatastrophen und die
wachsende globale Schere zwischen arm und reich sind nur einige der Faktoren, die das Leben in den betroffe-
nen Regionen fast unmöglich machen und Flucht- und Migration oder (interne) Vertreibungen nach sich ziehen.
Dabei ist bei vielen Krisen kein Ende abzusehen, auch lange nachdem sich die Aufmerksamkeit der Weltöffent-
lichkeit wieder abgewandt hat. Angesichts des wachsenden Missverhältnisses zwischen Bedarf und verfügbaren
Ressourcen müssen neue Ansätze verfolgt werden, um die geleistete Hilfe relevanter und effizienter zu gestal-
ten. Das Recht auf Bildung, auf Arbeit, auf Gesundheit und auf Familie gilt auch für Opfer humanitärer Kata-
strophen. Auch sie haben Anspruch auf die Umsetzung der Nachhaltigkeits- und Entwicklungsziele.
Humanitäre Notlagen sind mit friedens- und entwicklungspolitischen Herausforderungen untrennbar verknüpft.
Einerseits muss die akute Nothilfe gestärkt werden, um das Überleben der betroffenen Menschen zu sichern;
gleichzeitig muss die Politik stärker als bisher bei den Ursachen der Krisen ansetzen. Konflikte und Instabilität
sind nicht nur Auslöser für die aktuelle Flüchtlingssituation, sondern auch die größte Hürde für das Erreichen
der Nachhaltigkeits- und Entwicklungsziele (SDGs). Schon heute leben fast 1,4 Milliarden Menschen in fragi-
len Staaten (‚fragile states‘), bis 2030 werden es 1,9 Milliarden sein. Es sind gerade diese Staaten, denen es
nicht gelungen ist, das Millennium Development Goal (MDG) der Armutsreduzierung zu erreichen. Gleichzei-
tig stehen solche Länder externen Schocks wie Naturkatastrophen oft unvorbereitet gegenüber.
Der Fokus der humanitären Hilfe sollte nicht auf der Umsetzung bestimmter Projektaktivitäten liegen, sondern
auf den Ergebnissen und Wirkungen, die damit erzielt werden. Trotz der Koordination durch OCHA im Rahmen
der humanitären Cluster bleibt das humanitäre System stark fragmentiert. Der VN-Generalsekretär hat den hu-
manitären Akteuren – Mitgliedstaaten, NGOs, internationalen Organisationen, lokalen Akteuren – daher vor-
geschlagen, den Schwerpunkt auf gemeinsame Ergebnisse (‚collective outcomes‘) zu legen, Hilfsaktivitäten in
den größeren Kontext der Erreichung der SDG-Ziele in dem jeweiligen Land einzuordnen und sie damit nach-
haltiger zu gestalten. Solche Ansätze werden in manchen Ländern, z. B. Jordanien oder dem Libanon, bereits
umgesetzt.
Damit rücken auch die Handlungsfähigkeit und der Beitrag des Einzelnen in den Vordergrund: Die betroffenen
Menschen sollten so bald wie möglich in die Lage versetzt werden, selbst zu ihrem Lebensunterhalt zumindest
beizutragen bzw. sich weiterzubilden. Für die betroffenen Staaten ist es wesentlich, ihre Kapazitäten zur Selbst-
hilfe, zur Resilienz und zur Krisenvorsorge zu stärken.
Die Neuausrichtung betrifft auch die Finanzierung humanitärer Hilfe. Geberstaaten sollten sich weniger auf
individuelle, kurzfristige Projekte sondern auf mehrjährige, gemeinsam umgesetzte Programme konzentrieren.
Dabei sollen vor allem diejenigen Partner unterstützt werden, die komparative Vorteile, wie technische Fähig-
keiten oder lokale Expertise, in den jeweiligen Bereichen besitzen. Die Finanzierungsmodalitäten müssen dabei
so flexibel sein, dass sie situationsbedingt Anpassungen zulassen und eine effektive Zusammenarbeit aller re-
levanten Akteure ermöglichen. Dazu braucht es auch eine frühzeitige und flexible Verzahnung von humanitären
mit längerfristigen strukturbildenden Maßnahmen, wo dies möglich ist.
Wo es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt, muss die Achtung des humanitären Völkerrechts Prio-
rität haben. Die Bundesregierung muss sich stärker für die Achtung des humanitären Völkerrechts in Kriegs-
und Krisenherden einsetzen. Die Zivilbevölkerung muss vor den Auswirkungen von Kriegen geschützt werden.
Schulen und Krankenhäuser dürfen nicht zerstört werden, und der Zugang für humanitäre Akteure, sowie die
Sicherheit humanitärer Helfer, müssen gesichert sein. Deshalb muss sich humanitäres Handeln immer an den
humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit orientieren, um
den Menschen in Not ein Überleben in Würde und Sicherheit zu ermöglichen.

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