BT-Drucksache 18/7874

Eine halb barrierefreie Gesellschaft reicht nicht aus - Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit verpflichten

Vom 15. März 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/7874
18. Wahlperiode 15.03.2016
Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald,
Nicole Gohlke, Dr. André Hahn, Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Cornelia
Möhring, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra
Sitte, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Jörn
Wunderlich, Sabine Zimmermann (Zwickau), Pia Zimmermann und der
Fraktion DIE LINKE.

Eine halb barrierefreie Gesellschaft reicht nicht aus – Privatwirtschaft zu
Barrierefreiheit verpflichten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nach knapp zehn Jahren Debatten auf internationaler sowie nationaler Ebene über
die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK)
und ihre Umsetzung ist es sicherlich begrüßenswert, dass die Bundesregierung das
Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) nun endlich den Anforderungen dieser seit
März 2009 auch für die BRD rechtsverbindlichen Konvention anpassen möchte.
Leider bleibt der Gesetzentwurf weit hinter den Erwartungen und Vorschlägen der
Fachöffentlichkeit, von Sozial- und Behindertenverbänden zurück. Auch entschei-
dende Punkte, die im Evaluationsbericht der Universität Kassel als Änderungsbedarf
aufgeführt wurden, werden nicht berücksichtigt. Eine Verbändeanhörung im Bun-
desministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am 9. Dezember 2015 von Exper-
tinnen und Experten in eigener Sache führte nicht zu einer maßgeblichen Änderung
des Entwurfs durch die Bundesregierung.
In den Stellungnahmen der BAGfW, der Fachverbände für Menschen mit Behinde-
rung, der Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), des
Sozialverbands Deutschland und des VdK als Sprecher des DBR werden beispiels-
weise der kaum vorhandene Bezug zum menschenrechtlichen Charakter der UN-
BRK und die nicht ganz korrekte Übernahme des Behinderungsbegriffs dieser Kon-
vention ins geplante neue BGG deutlich kritisiert.
Eine Verpflichtung privater Anbieter zur Gewährleistung von Barrierefreiheit der
Produkte und Dienstleistungen bleibt beim geplanten BGG vollständig aus. Das traf
bei der Fachöffentlichkeit auf völliges Unverständnis. Nach Einschätzung aller Ex-
pertinnen und Experten ginge dies an den Lebenswirklichkeiten der Menschen vor-
bei und verstoße auch gegen die abschließenden Bemerkungen des UN-Fachaus-
schusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 17. April 2015
(www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/UN-
Dokumente/CRPD_Abschliessende_Bemerkungen_ueber_den_ersten_Staatenbe-
richt_Deutschlands_ENTWURF.pdf) und gegen seine Allgemeine Bemerkung

Drucksache 18/7874 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Nr. 2 (2014) (http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UN-
DOC/GEN/G14/033/13/PDF/G1403313.pdf?OpenElement).
Die Einrichtung einer Fachstelle für Barrierefreiheit wird begrüßt, aber ihre einge-
schränkte Handlungsbefugnis und fehlende Unabhängigkeit werden moniert. Auch
die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung kritisierte den Gesetzentwurf und
findet es unzureichend, Hindernisse nur zu dokumentieren (vgl. kobinet-Nachrichten
vom 13. Januar 2016).
Offenbar fehlen der Bundesregierung der Mut und der Wille, die Verwirklichung
umfassender Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen konsequent umzusetzen.
Was die Bundesregierung nicht will, möchte aber eine große Mehrheit der Men-
schen. Über 75 Prozent der Bevölkerung in der BRD denken hier glücklicherweise
fortschrittlicher. Sie erachten Barrierefreiheit als wichtig oder sogar als äußerst
wichtig und sie sprechen sich für deutlich strengere gesetzliche Vorgaben aus, um
Barrieren nachhaltig abzubauen. Dies hat unter anderem eine repräsentative Um-
frage des Marktforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Aktion Mensch zum Er-
gebnis (www.aktion-mensch.de/presse/pressemitteilungen/detail.php?id=2531, ver-
öffentlicht am 28.01.2016).
Die Monitoring-Stelle zur Umsetzung der UN-BRK des Deutschen Instituts für
Menschenrechte unterbreitete bereits im Jahr 2012 Vorschläge für eine menschen-
rechtliche Überarbeitung des BGG (www.institut-fuer-menschenrechte.de/filead-
min/_migrated/tx_commerce/Vorschlaege_zur_Reform_des_Behindertengleich-
stellungsrechts_in_Bund_und_Laendern_im_Lichte_der_UN-BRK.pdf). Es wird
Zeit, dass die Bundesregierung den Anforderungen der UN-BRK endlich gerecht
wird und das von ihr vorgeschlagene Gesetz grundlegend überarbeitet.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Regelungen des neuen BGG besser mit dem Allgemeinen Gleichbehand-
lungsgesetz (AGG) und den Sozialgesetzbüchern zu verknüpfen sowie weitere
korrespondierende Gesetze und Verordnungen – insbesondere das AGG, das
Bau- und Verkehrsrecht sowie das Wohn- und Mietrecht – entsprechend umge-
hend zu überarbeiten und zu ändern;

2. im neuen BGG das Ziel der Verpflichtung des Staates festzuschreiben, die Men-
schenrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten sowie durchgängig Be-
zug zum menschenrechtlichen Ansatz der UN-BRK zu nehmen und entspre-
chende Verweise, auch zur Allgemeinen Bemerkung Nr. 2 des UN-Fachaus-
schusses, vorzunehmen;

3. private Unternehmen und private Anbieter von öffentlichen Dienstleistungen
und Produkten sowie Landes- und Kommunalverwaltungen, soweit sie Bundes-
recht ausführen, verbindlich ins neue BGG einzubeziehen. Das betrifft insbe-
sondere Verkehrsunternehmen sowie Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen.
Darüber hinaus sind sie für alle Regelungen des neuen Gesetzes zu verpflichten,
das schließt auch eine rechtliche Überprüfung und Klagemöglichkeiten mit ein;

4. auch alle Träger öffentlicher Gewalt für alle Vorschriften des neuen BGG zu
verpflichten – nicht in Form unbestimmter Rechtsbegriffe und nicht nur für Tei-
le. Finanzielle Mittel des Bundes sind grundsätzlich an das Kriterium der Barri-
erefreiheit sowie an die Vorgaben des neuen BGG zu binden, nicht nur institu-
tionelle Förderungen;

5. den Behinderungsbegriff der UN-BRK vollständig und korrekt ins neue BGG
zu übernehmen (Grundlage sollte die Schattenübersetzung vom Netzwerk Arti-
kel 3 bilden);

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7874
6. die Mitnahme von Hilfsmitteln und menschlicher wie tierischer Assistenz in al-

len Lebensbereichen für Menschen mit Behinderungen als Anspruch zu garan-
tieren und eine Nichterfüllung als Benachteiligungsgrund festzuschreiben;

7. Disability Mainstreaming und universelles Design als systematische und gestal-
terische Grundprinzipien zu verankern;

8. Belange von allen Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen
im neuen BGG verbindlich zu berücksichtigen – beispielsweise barrierefreie
Kommunikationsformen auch für Menschen mit psychischen Beeinträchtigun-
gen oder taubblinde Menschen als Rechtsanspruch festzuschreiben. Auch sollte
ein Rechtsanspruch auf Erläuterungen von Bescheiden in Leichter Sprache be-
stehen;

9. die verpflichtenden Regelungen zu barrierefreien Kommunikationsformen und
Telekommunikationstechnologien auch auf Landes- und Kommunalverwaltun-
gen, welche Bundesrecht ausführen, sowie auf die Privatwirtschaft, Zuwen-
dungsempfänger und private Rechtsträger, an denen der Bund mehrheitlich be-
teiligt ist, auszuweiten;

10. die Regelungen zu Mehrfachdiskriminierungen konkreter und verbindlicher zu
fassen und die entsprechenden Normen des AGG zu übernehmen. Auch die Re-
gelungen zu Frauen mit Behinderungen müssen konkreter formuliert werden.
Dies gilt insbesondere für Maßnahmen, die zur tatsächlichen Durchsetzung zur
Gleichberechtigung ergriffen werden sollen;

11. die Belange von Kindern mit Behinderungen sowie von Menschen mit Pflege-
bedarf gesondert aufzuführen und entsprechende Rechte gemäß der UN-BRK
zu verankern;

12. das Benachteiligungsverbot verpflichtend auch auf private Wirtschaftsakteure
und private Rechtsträger, an denen Träger öffentlicher Gewalt ganz oder über-
wiegend beteiligt sind, sowie auf Zuwendungsempfänger und Auslandsvertre-
tungen auszuweiten;

13. die Versagung angemessener Vorkehrungen auch als subjektives Recht einklag-
bar zu gestalten – auch gegenüber der Privatwirtschaft – und zu ermöglichen,
dass diese im Rahmen einer Verbandsklage aufgegriffen werden können. Die
Verbandsklage ist als Leistungsklage weiterzuentwickeln. Sie muss zudem ohne
vorheriges Anrufen der Schlichtungsstelle möglich sein. Vertretungsbefugnisse
sind auf alle Bestimmungen des neuen BGG auszuweiten;

14. die Beschränkung der Schlichtungsstelle auf den Bereich der öffentlichen Ver-
waltung aufzuheben und auf die Privatwirtschaft auszuweiten;

15. eine verbindliche Frist für die barrierefreie Ausgestaltung aller Bestandsbauten
– ohne die Einschränkung auf bestimmte Gebäudeteile – des Bundes festzu-
schreiben, dies angelehnt an die Verpflichtung zur vollständigen Barrierefreiheit
für den ÖPNV bis zum 1. Januar 2022 (§ 1 Absatz 3 PBefG);

16. eine für alle Behörden verpflichtende Regelung zur Benennung einer Ansprech-
partnerin oder eines Ansprechpartners für Barrierefreiheit und Beschwerden zu
ergänzen;

17. die Fachstelle für Barrierefreiheit unabhängig von Rehabilitationsträgern auszu-
gestalten und zu organisieren. Ihre Aufgaben sind zu erweitern auf: die Unter-
stützung der Verbände der Menschen mit Behinderungen und der Zivilgesell-
schaft, die Entwicklung und Durchführung von Schulungsprogrammen für alle
an der Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen beteiligten öf-
fentlichen Bediensteten, die Initiierung und Begleitung von Projekt- und For-
schungsvorhaben sowie den internationalen Austausch;

Drucksache 18/7874 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
18. für den beratenden Expertenkreis mehrheitlich Vertreterinnen und Vertreter der

Verbände von Menschen mit Behinderungen festzuschreiben;
19. im Rahmen der Förderung der Partizipation von Verbänden der Menschen mit

Behinderungen die Selbstvertretungsorganisationen miteinzubeziehen und eine
partizipative Erarbeitung von Partizipationsstandards durchzuführen.

Berlin, den 15. März 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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