BT-Drucksache 18/73

Soziale Rechte bulgarischer und rumänischer EU-Bürgerinnen und Bürger in Deutschland

Vom 20. November 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 18/73
18. Wahlperiode 20.11.2013
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, Sevim Dağdelen,
Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Katja Kipping, Katrin Kunert,
Niema Movassat, Thomas Nord, Dr. Petra Sitte, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Soziale Rechte bulgarischer und rumänischer EU-Bürgerinnen und Bürger
in Deutschland

Der Bundesminister des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich, macht seit geraumer
Zeit auf nationaler und europäischer Ebene mit dem Thema „Armutseinwande-
rung“ aus Rumänien und Bulgarien Politik: Wer nur nach Deutschland komme,
um „Sozialhilfe zu kassieren, muss wieder gehen“, erklärte er der „Rheinischen
Post“ vom 20. Februar 2013 und forderte eine „Wiedereinreisesperre“, um die-
jenigen, die „wir rausgeschmissen haben wegen Betrugs oder versuchten Be-
trugs“, dauerhaft des Landes verweisen zu können.
Diese Forderung brachte er auch auf dem Rat der EU-Justiz- und Innenminister
am 8. Oktober 2013 ein: „Es kann nicht sein, dass Freizügigkeit so missbraucht
wird, dass man ein Land nur deswegen wechselt, weil man höhere Sozialhilfe
haben möchte“, erklärte der Bundesminister des Innern, Dr. Hans-Peter
Friedrich, in Luxemburg (stern, 8. Oktober 2013). Die EU-Justizkommissarin
Viviane Reding erklärte darauf hin: „Der deutsche Minister Friedrich, manch-
mal macht der so Bierzeltaussagen“. „Wir sehen, dass wir sehr niedrige Zahlen
von EU-Bürgern haben, die nach Deutschland kommen und im sozialen Bereich
etwas empfangen. Die meisten zahlen ein und bekommen nichts heraus“, er-
klärte sie. Ein Missbrauch der Freizügigkeit könne zudem bereits jetzt auf der
Grundlage der Gesetze geahndet werden (ebd.). Auch die EU-Innenkommis-
sarin Cecilia Malmström bezeichnete die Klagen über Sozialmissbrauch als
„hoch übertrieben“.
Das sieht im Grunde auch die Bundesregierung so, denn auf Anfrage der Frak-
tion DIE LINKE. (vgl. Bundestagsdrucksache 17/13322, zu Frage 4) erklärte sie
unmissverständlich: „Die Bundesregierung teilt […] die Auffassung, dass es
sich bei der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nicht in erster Linie um
sogenannte ‚Armutsflüchtlinge‘ handelt“. Vielfach handele es sich um Saison-
arbeitskräfte und „bisher ist in absoluten Zahlen kein erheblicher Anstieg der
Arbeitslosigkeit von rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen statis-
tisch erfasst“, die Arbeitslosenquote sei vielmehr „signifikant niedriger als bei
den Ausländern insgesamt“ (ebd.). Unionsbürgerinnen und -bürger aus Rumä-
nien und Bulgarien zahlen also unter dem Strich in die deutschen Sozialkassen
ein.
Tatsächlich gibt es in wenigen Großstädten bzw. Stadtteilen in Deutschland eine
Verstärkung sozialer Problemlagen infolge des Zuzugs von Unionsangehörigen
aus Rumänien und Bulgarien, die (noch) keine Beschäftigung gefunden haben –

Drucksache 18/73 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
was auch mit den für Staatsangehörige beider EU-Länder bis zum 1. Januar
2014 geltenden rechtlichen Beschränkungen der Arbeitsaufnahme zusammen-
hängt. Betroffene Städte und Kommunen haben den Bund um Unterstützung ge-
beten, doch in einem Vorbericht vom 26. September 2013 der vom Deutschen
Städtetag eingerichteten Bund-Länder-Arbeitsgruppe heißt es, „dass auf Seiten
des Bundes erstaunlich wenig Bereitschaft besteht, Verbesserungsvorschläge
der rechtlichen, tatsächlichen oder finanziellen Situation aufzugreifen und um-
zusetzen“.
Der EU-Sozialkommissar László Andor stellte Anfang Oktober 2013 eine Stu-
die vor, die belege, dass der Zuzug von Menschen aus Ländern der Europäischen
Union, insbesondere aus Rumänien und Bulgarien, keine Belastung für die So-
zialsysteme der Gastländer darstelle (vgl. FAZ vom 7. Oktober 2013). Die
Quote nicht berufstätiger EU-Einwanderer liege bei einem Prozent der Bevölke-
rung, ihr Anteil an Sozialleistungen in Ländern wie Deutschland, Frankreich,
den Niederlanden oder Schweden bei unter 5 Prozent. In Bezug auf Deutschland
stellte er klar, dass Sozialleistungen an rumänische und bulgarische Staatsange-
hörige viel geringer seien als Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, die diese
in deutsche Kassen einzahlten. László Andor erklärte, ihm seien die teils unhalt-
baren Zustände in manchen Stadtteilen bekannt, ein Grund dafür seien aber auch
miserable Beschäftigungsbedingungen, etwa in der Fleischindustrie, die mit ei-
nem gesetzlichen Mindestlohn bekämpft werden könnten.
Die Feststellungen der Bundesregierung und der Europäischen Kommission,
wonach die Zuwanderung von Staatsangehörigen aus Rumänien und Bulgarien
bundesweit betrachtet keine Belastung der Sozialsysteme darstellt (eher im Ge-
genteil), ist vor dem Hintergrund eines aktuellen Urteils des Europäischen Ge-
richtshofs (EuGH) vom 19. September 2013 in der Sache „Brey“ von großer
Bedeutung. Eine Einschränkung des grundlegenden Prinzips der Freizügigkeit
ist demnach nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig, nach über dreimo-
natigem Aufenthalt etwa nur bei einem „unangemessenen“ Sozialleistungsbe-
zug und nur unter Berücksichtigung der persönlichen Situation der Betroffenen
(vgl. Brey-Urteil, Rn. 64, 67 und 69) und auch nur dann, wenn „die Gewährung
einer Sozialleistung eine Belastung für das gesamte Sozialhilfesystem dieses
Mitgliedstaates darstellt“ (Rn. 72). Insbesondere bei nur vorübergehendem So-
zialhilfebezug sehe die Unionsbürgerrichtlinie vielmehr „eine bestimmte finan-
zielle Solidarität der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaates mit denen
der anderen Mitgliedstaaten“ vor (ebd.). Ein automatischer Ausschluss von So-
zialhilfeleistungen wird diesen Anforderungen nicht gerecht (Rn. 75 und 77).
Somit erweisen sich vor dem Hintergrund des Brey-Urteils des EuGH die zwin-
genden gesetzlichen Ausschlussregelungen für arbeitsuchende Unionsangehö-
rige im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und SGB XII nach Auffassung
der Fragesteller als unionsrechtswidrig.
Die Angaben des Ausländerzentralregisters (AZR) zur Zahl der in Deutschland
lebenden Unionsangehörigen könnten statistisch überhöht sein, weil „viele
EU-Ausländer Deutschland wieder verlassen, ohne sich offiziell abzumelden“,
so ein Sprecher des Statistischen Bundesamtes zur Erklärung der Differenz
zwischen den Angaben des AZR bzw. des Zensus 2011 in Höhe von fast
500 000 Personen (kna, 22. Oktober 2013). Auf Bundestagsdrucksache 17/
13322 hieß es in der Antwort zu Frage 12: „Die Bundesregierung geht davon
aus, dass die im AZR vorhandenen Daten zuverlässig sind“.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/73
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele bulgarische bzw. rumänische Staatsangehörige sind in den Jahren

2011, 2012 und bislang im Jahr 2013 für einen nicht nur kurzfristigen Auf-
enthalt in die Bundesrepublik Deutschland ein- bzw. ausgereist (bitte wie zu
Frage 1 auf Bundestagsdrucksache 17/13322 darstellen, also auch im Saldo),
und welche Prognose hat die Bundesregierung diesbezüglich für das Jahr
2014 (bitte darlegen)?

2. Wie viele bulgarische bzw. rumänische Staatsangehörige leben derzeit in
Deutschland (bitte nach Bundesländern differenzieren und neben den aktuel-
len Werten den Vergleichswert zum 31. Dezember 2012 nennen), wie viele
von ihnen leben seit einem Jahr, drei, fünf, zehn Jahren oder länger (bitte dif-
ferenzieren) in Deutschland, und was lässt sich Genaueres zu den jeweiligen
mutmaßlichen Aufenthaltszwecken sagen (z. B. Saisonarbeit, Studierende,
qualifizierte Beschäftigung, Selbständigkeit, Familienangehörige usw.)?

3. Inwieweit und in welcher Höhe könnten die Angaben des AZR zur Zahl der
sich in Deutschland aufhaltenden Unionsangehörigen bzw. insbesondere der
rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen überhöht sein (siehe Vor-
bemerkung der Fragesteller), wie genau erfolgt derzeit die statistische Erfas-
sung der Zu- und Abwanderung von Angehörigen der Europäischen Union,
und welche Maßnahmen zur Qualitätssicherung wurden oder werden durch
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Bezug auf die geschilderten
statistischen Abweichungen zwischen AZR und Zensus 2011 ergriffen (bitte
ausführen)?

4. Wie viele Arbeitsgenehmigungen-EU an rumänische bzw. bulgarische
Staatsangehörige wurden bislang im Jahr 2013 erteilt (bitte auch angeben,
wie viele davon ohne Vorrangprüfung an Fachkräfte erteilt wurden sowie
auch die jeweiligen Vergleichswerte für das Jahr 2012 nennen)?

5. Welche Erwartungen oder Einschätzungen hat die Bundesregierung bezüg-
lich der Auswirkungen des ab dem 1. Januar 2014 für rumänische und bul-
garische Staatsangehörige uneingeschränkten Arbeitsmarktzugangs auf die
Entwicklung der Zuwanderungszahlen, des Arbeitsmarkts, der sozialen Si-
cherungssysteme, der Sozialkassen usw. (bitte nachvollziehbar und so genau
wie möglich darlegen)?

6. Welche genaueren Angaben lassen sich zur wirtschaftlichen, sozialen und
Beschäftigungssituation von rumänischen bzw. bulgarischen Staatsangehöri-
gen in Deutschland machen (beispielhaft zur sozialversicherungspflichtigen
bzw. geringfügigen Beschäftigung, zur Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebedürf-
tigkeit, zum Anteil an allen Beschäftigten, Arbeitslosen oder Sozialhilfe-
bedürftigen in Deutschland usw.; bitte in absoluten und relativen Zahlen dar-
stellen, bitte beispielhaft auch Vergleichswerte polnischer, griechischer und
italienischer Staatsangehöriger nennen und zu den aktuellen Werten jeweils
die Vergleichszahlen zum Stand Ende 2012 nennen), wie sind die jeweiligen
Vergleichswerte für ausländische Staatsangehörige insgesamt, wie bewertet
die Bundesregierung diese Zahlen, und welche Prognosen hat die Bundes-
regierung zur Entwicklung dieser Kennziffern für das Jahr 2014 bezüglich
rumänischer und bulgarischer Staatsangehöriger?

7. Wie viele rumänische bzw. bulgarische Staatsangehörige erhalten als Selbst-
ständige Leistungen nach SGB II („Aufstocker“), wie hoch ist der Anteil von
„Aufstockern“ an allen rumänischen bzw. bulgarischen Selbstständigen, wie
hoch ist der Anteil selbstständiger Aufstocker an allen hier lebenden rumäni-
schen und bulgarischen Staatsangehörigen, wie sind die jeweiligen Werte für
ausländische Staatsangehörige insgesamt, und wie bewertet die Bundesregie-
rung diese Zahlen in Hinblick auf den Vorwurf eines Missbrauchs der Frei-
zügigkeitsrechte durch „Scheinselbständige“ (bitte jeweils aktuelle Angaben
und zum Vergleich, Angaben zum Stand Ende 2012 machen)?

Drucksache 18/73 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
8. Wie viele rumänische bzw. bulgarische Staatsangehörige erhalten derzeit
bzw. erhielten Ende 2012 Kindergeld, wie hoch ist der Anteil solcher
Kindergeldbeziehenden an allen rumänischen bzw. bulgarischen Staats-
angehörigen, und wie lauten die jeweiligen Vergleichswerte für hier lebende
ausländische Staatsangehörige insgesamt?

9. Um wie viel Prozent ist seit dem Jahr 2010 die Zahl der in Deutschland
lebenden Angehörigen der Europäischen Union gewachsen, und um wie
viel Prozent stieg in diesem Zeitraum die Zahl der Angehörigen der Euro-
päischen Union, die arbeitslos bzw. auf Leistungen nach dem SGB II bzw.
SGB XII angewiesen sind (bitte jeweils nach Staatsangehörigkeiten diffe-
renzieren)?

10. Um wie viel Prozent stieg vom Jahr 2010 bis heute die Zahl der in Deutsch-
land lebenden rumänischen bzw. bulgarischen Staatsangehörigen, um wie
viel Prozent stieg in diesem Zeitraum die Zahl der sozialversicherungs-
pflichtig beschäftigten rumänischen bzw. bulgarischen Staatsangehörigen,
wie lauten die Vergleichswerte für ausländische Staatsangehörige insge-
samt, und wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklung?

11. Welche Kernaussagen enthält die von EU-Sozialkommissar László Andor
Anfang 2013 vorgelegte Studie (siehe Vorbemerkung der Fragesteller und
FAZ vom 7. Oktober 2013), insbesondere auch in Hinblick auf die Bundes-
republik Deutschland und die Lage von rumänischen und bulgarischen
Staatsangehörigen in Deutschland, und inwieweit kann die Bundesregie-
rung Presseberichte bestätigen, wonach gemäß dieser Studie die Zuwande-
rung aus Rumänien und Bulgarien keine Belastung der Sozialsysteme der
Aufnahmeländer darstellt, sondern im Gegenteil unter dem Strich bundes-
weit einen „Gewinn“ für den Staatshaushalt (Steuer) und die Sozialsysteme
(Renten- und Sozialversicherungsbeträge usw.) bedeutet (bitte ausführen)?

12. Inwieweit teilt die Bundesregierung die von EU-Sozialkommissar László
Andor bei der Vorstellung der oben genannten Studie geäußerte Auffassung,
wonach ein Grund für die beklagten Armutszustände in manchen deutschen
Städten die miserablen Beschäftigungsbedingungen z. B. in der Fleischin-
dustrie seien, die mit einem gesetzlichen Mindestlohn bekämpft werden
könnten (FAZ vom 7. Oktober 2013, bitte begründen)?

13. Wie ist es zu erklären, dass laut Antwort zu Frage 7 auf Bundestagsdruck-
sache 17/13322 der Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich auf
hochrangiger EU-Ebene mit breiter öffentlicher Wirkung den „Umgang mit
den Folgen von Armutsmigration […] im Zusammenhang mit dem Frei-
zügigkeitsrecht“ auf die Tagesordnung setzen ließ, während die Bundes-
regierung in der Antwort zu Frage 4 derselben Drucksache erklärte, „dass es
sich bei der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nicht in erster Linie
um sogenannte Armutsmigration handelt“?

14. Welche genaueren Kriterien und Maßstäbe wenden Behörden in Deutsch-
land an (Ausländerbehörden, Jobcenter usw., bitte differenzieren), wenn es
im Rahmen des Freizügigkeitsrechts um die Prüfung der Frage geht, ob
eine Unionsangehörige bzw. ein Unionsangehöriger mit begründeter Aus-
sicht auf Erfolg Arbeit sucht (welche Anweisungen, Mitteilungen, Rund-
schreiben oder ähnliches gibt es hierzu, bitte genau auflisten und ausfüh-
ren), und welche entsprechenden Anweisungen usw. liegen zu der Frage, ob
Sozialleistungen im Rahmen des Freizügigkeitsrechts „unangemessen“ in
Anspruch genommen werden oder nicht, vor (vgl. Artikel 14 Absatz 1 der
EU-Richtlinie 2004/38/EG), und inwieweit wird dabei bereits das Brey-Ur-
teil des EuGH (siehe Vorbemerkung der Fragesteller) berücksichtigt, und
was ist zur Umsetzung dieses Urteils in Planung oder bereits geschehen
(bitte erneut so differenziert und konkret wie möglich antworten)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/73
15. Wird die Bundesregierung der deutschen Öffentlichkeit den Inhalt und die
Botschaft des Brey-Urteils des EuGH vermitteln, wonach ein angemessener
Sozialhilfebezug z. B. von Arbeit suchenden Angehörigen der Europä-
ischen Union nicht nur rechtmäßig, sondern auch eine im EU-Recht ange-
legte Form der „Solidarität“ der Staatsangehörigen des Aufnahmestaates
mit denen anderer Mitgliedstaaten ist (vgl. Brey-Urteil, Rn. 72), um dafür
zu werben und ein Bewusstsein zu schaffen, dass die deutsche Gesellschaft
im Rahmen der Europäischen Union auch eine Verantwortung und Ver-
pflichtung gegenüber Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union hat, und wenn nein, warum nicht, und wenn ja, wie ist dies
mit den Äußerungen des Bundesinnenministers Dr. Hans-Peter Friedrich
z. B. in der „Rheinischen Post“ vom 24. Februar 2013 zu vereinbaren („Wenn
die Menschen in Deutschland das Gefühl bekommen, dass ihre Solidarität
und ihre Offenheit missbraucht und unsere Sozialkassen geplündert werden,
dann wird es berechtigten Ärger geben“)?

16. Wie ist die Antwort der Bundesregierung zu Frage 15 auf Bundestagsdruck-
sache 17/13322 zu verstehen (durch Verweis auf Frage 10 lautet sie sinn-
gemäß: „Die geltende Rechtslage hinsichtlich der für EU-Staatsangehörige
geltenden Freizügigkeitsrechte wurde bei den Äußerungen des Bundes-
ministers des Innern berücksichtigt“), wenn die Äußerung des Bundes-
innenministers (www.welt.de vom 8. Oktober 2013 „Friedrich fordert Härte
gegen Einwanderer“), „das Freizügigkeitsgesetz gibt nur dem das Recht zu
uns zu kommen, der hier studieren, hier arbeiten und hier Steuern zahlen
will“, in Bezug auf das Kriterium des „Steuerzahlens“ offenkundig nicht mit
der geltenden Rechtslage übereinstimmt (bitte begründen)?

17. Was hat nach Kenntnis der Bundesregierung die Prüfung der Europäischen
Kommission zu der Frage erbracht, unter welchen genauen Umständen eine
Wiedereinreisesperre (etwa bei Missbrauchs- und Betrugsfällen) gerechtfer-
tigt sein kann, und welche rechtlichen Möglichkeiten sieht die Bundes-
regierung diesbezüglich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sie zu
Frage 10 auf Bundestagsdrucksache 17/13322 noch erklärt hat, dass „nur in
diesem Fall“ (Freizügigkeitsverlust aus Gründen der öffentlichen Ordnung
und Sicherheit) „eine erneute Einreise in das Bundesgebiet nach derzeit gel-
tender Rechtslage verboten“ sei, und zugleich betonte, dass keine Änderung
des EU-Rechts angestrebt werde (vgl. ebd., zu den Fragen 23 bis 25)?

18. Wie sollen nach Auffassung der Bundesregierung die Anforderungen für
eine Wiedereinreisesperre bei Täuschungen oder falschen Angaben zur
Ernsthaftigkeit einer angestrebten Selbständigkeit oder Arbeitssuche erfüllt
sein können, wenn die Bundesregierung die Anforderungen für eine Auf-
kündigung des Freizügigkeitsrechts nach § 6 Absatz 1 des Freizügigkeits-
gesetzes/EU und damit für eine Wiedereinreisesperre auf Bundestagsdruck-
sache 17/13322 zu Frage 20 wie folgt beschreibt: „Von dem persönlichen
Verhalten des Unionsbürgers muss eine tatsächliche und hinreichend
schwere Gefährdung ausgehen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft be-
rührt. Eine strafrechtliche Verurteilung reicht für sich allein nicht aus, um
dies zu begründen. Auch aus der Begehung bestimmter schwerer Straftaten
darf nicht die Vermutung abgeleitet werden, dass von dem Unionsbürger
eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
ausgeht. Es bedarf vielmehr in jedem Einzelfall einer Gefahrenprognose un-
ter individueller Würdigung des Verhaltens des Betroffenen“?

19. Wie viele Ausreiseentscheidungen gegen Angehörige der Europäischen
Union (Verlust des Freizügigkeitsrechts) gab es bislang im Jahr 2013, und
wie viele der Betroffenen sind ausgereist (bitte nach Staatsangehörigkeiten
und Rechtsgrundlage differenzieren, und jeweils die Vergleichswerte des
Jahres 2012 nennen)?

Drucksache 18/73 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
20. Wie interpretiert und bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass im
Jahr 2012 die Zahl der gegen rumänische und bulgarische Staatsangehörige
ergangenen Ausreiseentscheidungen aus Gründen der Ordnung, Sicherheit
oder Gesundheit (§ 6 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU) gegenüber
dem Vorjahr jeweils zurückgegangen ist (von 258 auf 218 bzw. von 78 auf
72 Fälle; vgl. Antwort zu Frage 18 auf Bundestagsdrucksache 17/13322) –
bei rumänischen Staatsangehörigen ging sogar die Gesamtzahl der Ausrei-
seentscheidungen zurück und das bei einer zunehmenden Personenzahl –,
und widerspricht dies nicht der oft geäußerten Annahme, es gebe eine zu-
nehmende Zahl von Betrugs- oder Missbrauchsfällen bei rumänischen und
bulgarischen Staatsangehörigen (bitte ausführen)?

21. Inwieweit basieren Verlustfeststellungen der Freizügigkeit nach § 6 Ab-
satz 1 Freizügigkeitsgesetzes/EU insbesondere bei rumänischen und bulga-
rischen Staatsangehörigen erfahrungsgemäß auf Vorwürfen bzw. Verurtei-
lungen im Zusammenhang einer missbräuchlichen Ausübung der Freizügig-
keitsrechte bzw. auf schweren Formen der Kriminalität (falls keine Daten
verfügbar sein sollten, bitte eine Einschätzung geben)?

22. Gegen wie viele Unionsbürgerinnen und Unionsbürger (bitte nach Staatsan-
gehörigkeit differenzieren) wurde nach der Polizeilichen Kriminalstatistik
im Jahr 2012 (bitte auch Vergleichswerte des Vorjahres nennen) wegen Ver-
stoßes gegen § 9 des Freizügigkeitsgesetzes/EU ermittelt (unerlaubte Wie-
dereinreise nach Verlust der Freizügigkeit)?

23. Worauf führt die Bundesregierung den Rückgang der von der Finanzkon-
trolle Schwarzarbeit wegen „illegaler Ausländererwerbstätigkeit“ eingelei-
teten Ermittlungsverfahren von 10 349 im Jahr 2010 auf 6 125 im Jahr 2012
zurück (Bundestagsdrucksache 17/13322), inwieweit ist diese Entwicklung
vereinbar mit der Annahme, die gestiegene Zuwanderung aus Rumänien
und Bulgarien hinge auch mit illegalen Beschäftigungsformen zusammen,
und wie lauten die Angaben zu den entsprechenden Ermittlungsverfahren
für das bisherige Jahr 2013?

24. Was entgegnet die Bundesregierung dem im Vorbericht vom 26. September
2013 für die 161. Sitzung des Ausschusses für Soziales, Jugend und Familie
des Deutschen Städtetages vom 10./11. Oktober 2103 enthaltenen Vorwurf,
in den Beratungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Armutszuwanderung
aus Osteuropa“ habe „auf Seiten des Bundes erstaunlich wenig Bereitschaft
[bestanden], Verbesserungsvorschläge der rechtlichen, tatsächlichen oder
finanziellen Situation aufzugreifen und umzusetzen“, und welchen weiteren
Verlauf haben die Beratungen in der Arbeitsgruppe mit welchen Ergebnis-
sen inzwischen genommen bzw. wie ist die weitere Planung?

25. Welche konkreten Maßnahmen und Überlegungen des Bundes gibt es, die
von der Zuwanderung von Arbeit suchenden rumänischen und bulgarischen
Staatsangehörigen besonders betroffenen Kommunen und Städte zu unter-
stützen, und inwieweit ist zum Beispiel an eine Unterstützung oder Ko-
Finanzierung von entsprechenden Mitteln des Europäischen Sozialfonds
(ESF) gedacht?

26. Inwieweit wird nach Informationen des Bundes derzeit einzelnen Kommu-
nen bzw. Städten bereits mit Mitteln des ESF geholfen, um etwaigen sozial-
politischen Anforderungen infolge einer verstärkten Zuwanderung insbeson-
dere von Arbeit suchenden rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen
zu begegnen, und welche Unterstützungsprogramme und Leistungen durch
die jeweiligen Bundesländer sind der Bundesregierung bekannt (bitte mög-
lichst konkret auflisten)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/73
27. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem von der Europäischen Kommission im Oktober 2013 vorgelegten
Fünf-Punkte-Plan zu Rechten und Pflichten im Rahmen des Freizügigkeits-
rechts, und hält sie diese Maßnahmen für Erfolg versprechend und ausrei-
chend (bitte auch differenziert auf die fünf Punkte: Handbuch zur Bekämp-
fung von Scheinehen, Konzept/Leitfaden zum Begriff des üblichen Wohn-
sitzes, Anhebung der Integrationsmittel des ESF von 15 auf 20 Prozent,
Workshop zur richtigen Nutzung des ESF, Konferenz im Frühjahr 2014 mit
Bürgermeistern betroffener Kommunen eingehen)?

28. Inwieweit hält die Bundesregierung die pauschalen Ausschlussregelungen
nach § 23 Absatz 3 SGB XII bzw. § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 und 2
SGB II mit der Brey-Entscheidung des EuGH (siehe Vorbemerkung der Fra-
gesteller) für vereinbar (bitte ausführlich in Auseinandersetzung mit dem
Urteil und insbesondere der Rn. 64, 67, 69, 75 und 77 darlegen, wobei vor-
sorglich darauf hingewiesen wird, dass nach Auffassung der Fragesteller all
diese Passagen im Urteil eindeutig, generalisierend und übertragbar sind
und eine Prüfung der jeweiligen Einzelfallumstände verlangen und deshalb
typisierende Ausschlussentscheidungen des Gesetzgebers offenkundig
nicht zulässig sind)?

29. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass aus dem Brey-Urteil
des EuGH folgt, dass bei der Beurteilung der Frage, ob in Bezug auf das
Freizügigkeitsrecht Sozialleistungen unangemessen in Anspruch genom-
men werden (unabhängig von der Beantwortung der Frage 28, ob dies
jeweils im Einzelfall erfolgen muss oder auch durch typisierende Vorabent-
scheidung des Gesetzgebers erfolgt), auch eine Gesamtbetrachtung der Aus-
wirkungen auf das gesamte Sozialhilfesystem erforderlich ist (bitte in Aus-
einandersetzung mit dem Urteil begründen), und wie interpretiert sie in die-
sem Zusammenhang insbesondere die Aussagen im Brey-Urteil, wonach
a) die nationalen Behörden eine Entscheidung über einen im Zusammen-

hang des Freizügigkeitsrechts „unangemessenen“ Sozialleistungsbezug
„nicht ziehen“ können, „ohne eine umfassende Beurteilung der Frage
vorzunehmen, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in
seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der
individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend
sind, konkret entstünde“ (Rn. 64),

b) die Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über einen im Zusammenhang
des Freizügigkeitsrechts „unangemessenen“ Sozialleistungsbezug be-
rücksichtigen dürfen, „ob die Gewährung einer Sozialleistung eine Belas-
tung für das gesamte Sozialhilfesystem dieses Mitgliedstaates darstellt“
(Rn. 72), wobei insbesondere bei nur vorübergehendem Sozialhilfebezug
die Unionsbürgerrichtlinie „eine bestimmte finanzielle Solidarität der
Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaates mit denen der anderen
Mitgliedstaaten“ anerkenne (ebd.),

c) es „zur genaueren Beurteilung des Ausmaßes der Belastung, die eine sol-
che Zahlung für das nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, von
Bedeutung sein [kann], den Anteil derjenigen Empfänger dieser Leistung
zu ermitteln, die Unionsbürger und Empfänger“ dieser Leistung „in
einem anderen Mitgliedstaat sind“ (Rn. 78),

d) das maßgebliche Gericht im konkreten Einzelfall prüfen müsse, ob die
Leistungsgewährung „geeignet erscheint, eine unangemessene Be-
lastung des nationalen Sozialhilfesystems darzustellen“, und was folgt
hieraus jeweils konkret für die Gesetzgebung und Anwendungspraxis
(bitte auf die zuvor genannten Unterpunkte differenziert eingehen)?

Drucksache 18/73 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
30. Welchen Anteil haben Angehörige der Europäischen Union bzw. Staatsan-
gehörige aus Rumänien und Bulgarien an allen Antragstellenden bzw. Leis-
tungsberechtigten von Hilfen nach dem SGB II bzw. SGB XII, und inwie-
weit hält es die Bundesregierung vor diesem Hintergrund für leistbar oder
nicht leistbar, den möglichen Sozialleistungsanspruch insbesondere von Ar-
beit suchenden Angehörigen der Europäischen Union in allen Einzelfällen
nach Maßgabe der vorgenannten Urteilsbegründung in der Sache „Brey“ in-
dividuell zu prüfen (falls sie dies für nicht leistbar hält, bitte nachvollziehbar
begründen)?

Berlin, den 18. November 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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