BT-Drucksache 18/6878

Rentenniveau anheben - Für eine gute, lebensstandardsichernde Rente

Vom 1. Dezember 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6878
18. Wahlperiode 01.12.2015
Antrag
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Klaus Ernst, Sigrid Hupach, Susanna Karawanskij, Katja Kipping, Jutta
Krellmann, Ralph Lenkert, Cornelia Möhring, Norbert Müller (Potsdam),
Richard Pitterle, Michael Schlecht, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald
Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Rentenniveau anheben – Für eine gute, lebensstandardsichernde Rente

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der aktuelle Rentenversicherungsbericht 2015 der Bundesregierung (vgl. BT-Drs.
18/6870) zeigt wie auch schon die Berichte der vergangenen Jahre sowie zahlreiche
Studien (vgl. Dedring et al.1 (2010), Joebges et al.2 (2012), Fachinger et al.3 (2014),
Steffen4 (2015) sowie Schäfer5 (2015)): Selbst mit der sogenannten Riester-Rente
können die Leistungskürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht kom-
pensiert werden.
Mit den Rentenreformen der rot-grünen Bundesregierung in den Jahren 2001 bis
2004 wurde das Ziel, den Lebensstandard im Alter über die gesetzliche Rente zu
sichern und Altersarmut zu vermeiden, aufgegeben. Mit diesem Paradigmenwechsel
von einem leistungsorientierten zu einem beitragsorientierten Sicherungssystem soll
der Beitragssatzanstieg zur gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2030 auf
22 Prozent begrenzt und so vor allem die Unternehmen entlastet werden.
Um dieses Ziel zu erreichen, wird das Rentenniveau („Nettorentenniveau vor Steu-
ern“) mittels mehrerer Kürzungsfaktoren (v. a. Riester- und Nachhaltigkeitsfaktor)
in der Rentenanpassungsformel sukzessive abgesenkt. Laut Rentenversicherungsbe-
richt 2015 wird es in den kommenden 15 Jahren von ehemals 53 Prozent (2000) auf
44,6 Prozent (2029) sinken. Im Jahr 2029 wird das Rentenniveau also knapp 16 Pro-
zent niedriger als zur Jahrtausendwende liegen. Gemessen an einem Durchschnitts-
verdienst bei 45 Beitragsjahren (Standardrente) wird die gesetzliche Rente dadurch
um gut 340 Euro niedriger ausfallen.
Diese dramatischen Entwicklung belegen auch Modellrechnungen des Instituts für
Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen: Bei einem Durchschnitts-
verdienst (Entgeltposition von 100 Prozent) waren 2012 noch 27,4 Jahre notwendig,
1 http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07405.pdf
2 http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_73_2012.pdf
3 http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_285.pdf
4 http://www.portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo/pdf/2015/2015-08-24%20Fuer%20eine%20Rente%20mit%20Niveau.pdf
5 http://www.arbeitnehmerkammer.de/cms/upload/Publikationen/Politikthemen/ArbeitSoziales/ANK_Drei_Saeulen_Modell.pdf

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um eine Rente in Höhe des durchschnittlichen Bedarfs der Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung zu erhalten. Im Jahr 2030 werden es bereits 31,6 Bei-
tragsjahre sein. Bei 70 Prozent des Durchschnittsverdienstes waren im Jahr 2012
39,1 Jahre notwendig. 2030 werden bereits 45,2 Beitragsjahre gebraucht, um die
Grundsicherungsschwelle zu erreichen6. Die Zahlen zeigen: Immer mehr Rentnerin-
nen und Rentner müssen trotz jahrelanger Beitragszahlung zukünftig mit einer Rente
rechnen, die nicht einmal mehr den Grundsicherungsbedarf erreichen wird. Die
schwache Lohnentwicklung der vergangenen Jahre hat neben der Zunahme prekärer
Beschäftigungsverhältnisse zudem die Ausbreitung von niedrigen Renten beschleu-
nigt.
Die aus der Rentenniveausenkung entstehende Sicherungslücke in der gesetzlichen
Rentenversicherung (erste Säule) – so das Versprechen der Bundesregierung – soll
durch zusätzliche betriebliche und private Vorsorge (zweite und dritte Säule) ausge-
glichen werden können: „Die Lebensstandardsicherung im Alter ist auch künftig auf
dem heutigen Niveau gewährleistet, wenn die Möglichkeiten zur geförderten zusätz-
lichen Altersvorsorge genutzt werden.“ (vgl. Bericht der Bundesregierung gemäß
§ 154 Absatz 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) zur Anhebung der
Regelaltersgrenze auf 67 Jahre, BT-Drs. 18/3261 (neu), S. 24). Tatsächlich zeigt sich
aber, dass eine realistische Überprüfung dieser Behauptung jeglicher Grundlage ent-
behrt.
Seit jeher bestehen erhebliche Zweifel an der Seriosität der Modellberechnung der
Bundesregierung bezüglich der von ihr ausgewiesenen Renditeannahmen der priva-
ten Vorsorge im Rentenversicherungsbericht. Um im Rentenzugang das sinkende
Rentenniveau rein rechnerisch ausgleichen zu können, geht sie von einer Kapital-
verzinsung in der Ansparphase von 4 Prozent und Verwaltungskosten von 10 Pro-
zent aus. Außerdem wird in der Auszahlungsphase eine Anpassung wie die der ge-
setzlichen Rente unterstellt. Der Sozialbeirat hat deshalb zuletzt im Jahr 2012 in sei-
nem Gutachten zum Alterssicherungsbericht zu Recht erhebliche Bedenken gegen-
über den Annahmen zur Höhe der Verzinsung und zu den Verwaltungskosten gel-
tend gemacht: So sei es angesichts der Entwicklung an den Kapitalmärkten „…zu-
nehmend fraglicher, ob das Ziel einer Entlastung künftiger Generationen auf Kosten
einer Belastung heutiger Beitragszahler und Rentner tatsächlich gelingen kann“
(vgl. BT-Drs. 17/11741, Rdnr. 88 ff). Um das Gesamtversorgungsniveau bei gleich-
zeitig weiter sinkendem Rentenniveau aber nicht nur beim Rentenzugang, sondern
auch über die gesamte Rentenphase aufrechtzuerhalten, müsste zudem die kapital-
gedeckte private Vorsorge deutlich stärker dynamisiert werden als von der Bundes-
regierung unterstellt.
Festzuhalten ist: Das zentrale Reformziel einer Lebensstandardsicherung über die
gesamte Rentenbezugsphase nach dem „Drei-Säulen-Modell“ kann nicht erreicht
werden. Ursächlich hierfür sind der geringe Verbreitungsgrad, diskontinuierliche
und/oder zu geringe tatsächliche Vorsorgeaufwendungen, eine unzureichende Risi-
koabdeckung bei Erwerbsminderung und der Absicherung von Hinterbliebenen, die
fehlende Abstimmung zwischen den Säulen und schließlich ein ungenügendes Kos-
ten-Leistungs-Verhältnis der kapitalgedeckten Altersvorsorge.
2013 verfügten rund 17,8 Millionen Personen über eine aktive Anwartschaft aus der
betrieblichen Altersversorgung (bAV). Gemessen an allen sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigten stagniert der Anteil mit bAV-Anwartschaften seit 2009 bei
knapp 60 Prozent (TNS Trägerbefragung zur betrieblichen Altersversorgung 2013
(bAV 2013) Endbericht, München (=Bundesministerium für Arbeit und Soziales
(BMAS), Forschungsbericht 449/1, S. 12)). Außerdem sind der Verbreitungsgrad
der bAV sowie die Investitionen der Beschäftigten in ihre bAV-Anwartschaften von
einer hohen Selektivität geprägt: Je größer der Betrieb, desto höher ist der Anteil der
abgesicherten Beschäftigten. Erhebliche Unterschiede bestehen auch zwischen den
6 www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Alter-Rente/Datensammlung/PDF-Dateien/abbVIII54.pdf

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einzelnen Branchen (Beschäftigte in der Finanz- und Versicherungswirtschaft haben
durchschnittlich 1115 Euro ihres Entgelts umgewandelt. In der Leiharbeitsbranche
waren es nur 36 Euro (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom
5. März 2015 – 78/15)), bei der Höhe der Anwartschaften von Männern (328 Euro)
und Frauen (170 Euro) sowie zwischen Ost und West (Verbreitung von 55,2 Prozent
in den alten, 47,3 Prozent in den neuen Ländern bei Unternehmen mit zehn und mehr
Beschäftigten).
Kaum besser ist die Entwicklung bei der Riester-Rente: Zwar zählte das Bundesmi-
nisterium für Arbeit und Soziales (BMAS) 2014 knapp 16,3 Millionen Riester-Ver-
träge. Trotz staatlicher Förderung sind die Zuwächse aber faktisch zum Erliegen ge-
kommen. Das BMAS weist zudem knapp ein Fünftel der Verträge als ruhend gestellt
aus. Ferner erhielten 2011 lediglich 10,8 Millionen Empfänger/-innen (hiervon
ca. 88 Prozent gesetzlich rentenversichert) die staatlichen Förderleistungen. Gemes-
sen an allen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten beträgt der Anteil mit ak-
tiven Riester-Verträgen lediglich ein Drittel (vgl. Kruse, Scherbarth, „Förderung der
Riester-Rente durch Zulagen und Sonderausgabenabzug: Mehr als 10,8 Millionen
geförderte Personen im Beitragsjahr 2011“, in: RVaktuell 3/2015, S. 55 ff.). Einer
aktuellen Studie des DIW und der Freien Universität Berlin zufolge profitieren vor
allem Gutverdienende – statt der unteren Einkommensgruppen – von der staatlichen
Riester-Förderung (vgl. Corneo, Schröder, König: „Distributional effects of subsidi-
zing retirement savings accounts. Evidence from Germany“, Discussion Papers
2015/18 Free University Berlin, School of Business & Economics).
Weder betriebliche Altersversorgung noch Riester-Rente werden die Sicherungslü-
cke schließen können, die in die gesetzliche Rentenversicherung gerissen wurde.
Tatsächlich müssen die Versicherten nach den Vorgaben des „Drei-Säulen-Modells“
erheblich mehr Beiträge leisten, als dies vor dem Paradigmenwechsel der Fall war.
Wie hoch der Gesamtbeitragssatz aus allen drei Säulen sein müsste, um ein konstan-
tes Gesamtversorgungsniveau während der gesamten Rentenbezugszeit unter Absi-
cherung aller drei biometrischen Lebensrisiken (Alter, Erwerbsminderung, Hinter-
bliebenenversorgung), die von der gesetzlichen Rentenversicherung abgedeckt wer-
den, zeigt eine Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen: Im Ergebnis können die
Versicherten im Jahr 2030 die Leistungseinschnitte in der gesetzlichen Rente nur mit
exorbitant hohen Beiträgen von bis zu 9 Prozent zusätzlich bei einem summierten
Beitragssatz von 31 Prozent kompensieren (vgl. Schäfer, a.a.O., S 24f.). Demnach
läge der Beitragssatz im Jahr 2030 deutlich über dem vor dem Paradigmenwechsel
angenommenen Werten. Die Kosten werden also keineswegs reduziert, sondern ein-
seitig zu Lasten der Versicherten umverteilt. Der Beitragssatzanteil der Unterneh-
men verharrt auch bis 2030 bei 11 Prozentpunkten, während dieser für die Versi-
cherten auf 20 Prozentpunkte steigt (11 Prozentpunkte für die gesetzliche Rente plus
9 Prozentpunkte für die private Vorsorge). Von einer wirtschaftlichen Entlastung der
jüngeren Generation, wie einst von der Bundesregierung versprochen, kann folglich
keine Rede sein.
Das „Drei-Säulen-Modell“ bietet bei einem um zwei Jahre späteren Rentenbeginn
nicht nur deutlich schlechtere Leistungen als die gesetzliche Rentenversicherung. Es
ist auch noch deutlich teurer als ein paritätisch finanziertes gesetzliches System, bei
dem für eine lebensstandardsichernde und armutsfeste Rente auch in 2030 lediglich
ein Beitragssatz von rd. 28 Prozent (14 Prozent für Unternehmen sowie 14 Prozent
für die Beschäftigten) benötigt würde – und zwar auch ohne die Anhebung der Re-
gelaltersgrenze auf 67 Jahre.
Umso fataler ist es, dass die Bundesregierung nicht den Mut und den Willen auf-
bringt, das „Drei-Säulen-Modell“ für gescheitert zu erklären. Stattdessen kon-
zentriert sie sich auf Nebenschauplätze, wie die „solidarische Lebensleistungsrente“
oder das „Sozialpartnermodell Betriebsrente“. So verliert sie die drängenden Fragen
aus dem Blickfeld. Zu Recht stellt der Rentenexperte Johannes Steffen fest, dass es

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sich um Maßnahmen handle, „…die immer auch als Ablenkungsmanöver vom der-
weil ungebremst weiter sinkenden Rentenniveau politisch in Szene gesetzt werden
– und Maßnahmen die zwar das Niveau der von ihnen begünstigten Renten anheben,
wie durch das Rentenpaket, die aber unter der geltenden Anpassungsformel gleich-
zeitig zu einer Forcierung der Niveauabsenkung für alle Renten beitragen“
(vgl.: Steffen, a. a. O., S. 2).
Zudem zeigt die Finanzmarktkrise, dass kapitalgedeckte Finanzierungsformen für
die Altersvorsorge keine Alternative zur umlagefinanzierten Rente sind. Im Gegen-
teil: Die umlagefinanzierte Alterssicherung hat die Finanzkrise deutlich besser über-
standen, als kapitalgedeckte Anlageformen für das Alter (Joebges et al., a. a. O.).
Eine Rentenpolitik, deren Ziel allein an einer politisch gesetzten Beitragssatzhöhe
ausgerichtet ist, kann für keine Generation eine sozialpolitisch sinnvolle Alternative
zur Lebensstandardsicherung und Armutsvermeidung durch die gesetzliche Renten-
versicherung sein. Wenn aber für einen Großteil der Versicherten der eingeschlagene
Pfad der Teilprivatisierung der Alterssicherung in Deutschland in einer sozialpoliti-
schen Sackgasse mündet, ist ein rentenpolitischer Neustart unausweichlich.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem

1. das Rentenniveau (Sicherungsniveau vor Steuern) als Sicherungsziel der gesetz-
lichen Rentenversicherung wieder in den Mittelpunkt der Rentenpolitik gerückt
wird, wobei die Deckelung des Beitragssatzes zur allgemeinen Rentenversiche-
rung aufzuheben ist;

2. die Dämpfungsfaktoren (Riester-Faktor und Nachhaltigkeitsfaktor) in der Ren-
tenanpassungsformel gestrichen, die bislang durch die Dämpfungsfaktoren und
gesetzlichen Null-Runden bewirkte Rentenniveausenkung über einen anpas-
sungserhöhenden Rückholfaktor schrittweise ausgeglichen, das Rentenniveau
von aktuell 47,5 Prozent wieder auf 53 Prozent angehoben und dort stabilisiert
wird sowie

3. eine neue Rentenanpassungsformel eingesetzt wird, die wieder dem Anpassungs-
grundsatz „die Rente folgt den Löhnen“ entspricht. Als Maßgabe bei der Bestim-
mung des aktuellen Rentenwerts sind die Entwicklung des tatsächlichen durch-
schnittlichen beitragspflichtigen Arbeitsentgelts sowie die Entwicklung des Ver-
hältnisses der Nettorenten zu den Nettolöhnen zu berücksichtigen.

Berlin, den 1. Dezember 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/6878
Begründung

1. Vor dem Paradigmenwechsel im Jahr 2000 war ein Rentenniveau von 53 Prozent (Netto vor Steuern) als
den Lebensstandard sichernd anerkannt. An diesem Niveau muss sich eine Weiterentwicklung der Rentenan-
passungsformel orientieren. Dazu ist zunächst die seit 2001 geltende willkürlich festgelegte Beitragssatzober-
grenze in der allgemeinen Rentenversicherung nach § 154 Abs. 3 Nr. 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB VI) ersatzlos aufzuheben. Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, unterwirft die Aufgabe des Leis-
tungsziels in der Rente zugunsten der Beitragssatzstabilität die Rentenversicherung kurzsichtigen politischen
Vorgaben und provoziert langfristig steigende Altersarmut. Allein auf eine willkürlich gewählte Höhe des Bei-
tragssatzes abzustellen, greift in der politischen Debatte zudem zu kurz: Die Akzeptanz der Beschäftigten für
die Höhe des Beitragssatzes hängt im Wesentlichen von der Lohn- und Produktivitätsentwicklung sowie von
der zu erwartenden Höhe des zukünftigen Sicherungsniveaus ab. Außerdem sind die Leistungen aus der ge-
setzlichen Rentenversicherung für die Versicherten insgesamt deutlich günstiger und umfassender als bei der
privaten Altersvorsorge.
Auch die Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen durch einen höheren Beitrags-
satz ist kein überzeugendes Argument: So hat die EU-Kommission in den vergangenen Jahren die exorbitanten
Außenhandelsüberschüsse der Bundesrepublik Deutschland mehrfach angemahnt. Aus diesen Gründen ist es
falsch, die Begrenzung des Beitragssatzes zur allgemeinen Rentenversicherung zum leitenden Kriterium der
Renten- und Alterssicherungspolitik zu machen. Das Gegenteil ist richtig: Der Beitragssatz muss so bemessen
sein, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung der Lebensstandard gesichert und Armutsfestigkeit gewähr-
leistet werden können. Zugleich kann so die gesellschaftliche Legitimation der gesetzlichen Rentenversiche-
rung gestärkt werden.

2. Nach den Modellannahmen des Rentenversicherungsberichts 2015 beträgt das Rentenniveau im Jahr 2015
47,5 Prozent (Netto vor Steuern). Bis 2029 soll es um weitere 6,5 Prozent auf dann 44,6 Prozent (Netto vor
Steuern) sinken. Deshalb muss zunächst der weitere Verfall des Rentenniveaus gestoppt werden. Dazu ist die
Streichung der Kürzungsfaktoren (Riester-Faktor und Nachhaltigkeitsfaktor) aus der Rentenanpassungsformel
unumgänglich. Allein die „Riester-Treppe“ als Teil des Riester-Faktors (Altersvorsorgeanteil plus durch-
schnittlicher Beitragssatz zur allgemeinen Rentenverssicherung) hat zwischen 2003 und 2013 dazu beigetra-
gen, dass die Rentenanpassung gut 5 Prozentpunkte hinter der Lohnentwicklung zurückgeblieben ist. Da bis
heute die Riester-Rente keine flächendeckende Verbreitung bei den Beschäftigten gefunden hat, ist die anpas-
sungsmindernde Wirkung der „Riester-Treppe“ nicht zu rechtfertigen.
Der Nachhaltigkeitsfaktor hat bisher zwar kaum rentenniveaumindernd auf die Rentenanpassung gewirkt. In
der Öffentlichkeit und selbst bei den politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger ist aber wenig bekannt
bzw. wird nicht verstanden, dass jede Leistungsverbesserung, egal ob durch Beiträge oder Steuern finanziert,
die Talfahrt des Rentenniveaus zusätzlich beschleunigt. So führt allein das Rentenpaket zu einer zusätzlichen
Rentenniveausenkung um weitere 1,5 Prozent (vgl. Antwort auf die Schriftliche Frage des Abg. Matthias W.
Birkwald, BT-Drs. 18/1041, Frage 38). Im Ergebnis führen also Leistungsverbesserungen für die Versicherten
regelmäßig zu einer weiteren Verschlechterung des Leistungsniveaus. Dies gilt sowohl für den Rentenbestand
als auch für den Rentenzugang. Durch die beitragsfreie Entgeltumwandlung im Rahmen der betrieblichen Al-
tersversorgung erfolgt eine Minderung der beitragspflichtigen Entgelte, die sich dämpfend auf den Nachhaltig-
keitsfaktor auswirken. Je mehr Entgelt der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zugunsten der bAV um-
gewandelt wird, desto stärker sinkt das Rentenniveau. Zudem werden der gesetzlichen Rentenversicherung
aktuell jährlich rd. 1,5 Mrd. Euro an Beitragsmitteln entzogen – mit steigender Tendenz (vgl. Antwort auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., BT-Drs. 18/4557). Auch der Präsident der Rentenversicherung,
Dr. Axel Reimann warnt ausdrücklich vor der Wirkung der beitragsfreier Entgeltumwandlung: „Man muss sich
darüber im Klaren sein, dass jede Erweiterung der abgabenfreien Entgeltumwandlung die Rentenversicherung
(…) schwächt“ (Handelsblatt vom 2. März 2015). Wer also versucht, die Sicherungslücke aufgrund des sin-
kenden Rentenniveaus durch die beitragsfreie Entgeltumwandlung zu schließen, erreicht damit genau das Ge-
genteil.
Deshalb muss, wie von der Fraktion DIE LINKE. bereits im Jahr 2007 gefordert (Antrag: „Wiedereinführung
der Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rente“, BT-Drs. 16/5903), die bisherige Rentenniveau sen-
kende Wirkung der Kürzungsfaktoren über einen Rückholfaktor bei kommenden Rentenanpassungen in Höhe
von derzeit 11,6 Prozent schrittweise wieder ausgeglichen werden.

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3. Sodann ist zu gewährleisten, dass der seit Einführung der lohnbezogenen dynamischen Rente im Jahr 1957
zentrale Anpassungsgrundsatz „die Renten folgen den Löhnen“ wieder uneingeschränkt gilt. Als Zielwert wird
das vor dem partiellen Systemwechsel im Jahr 2000 als allgemein akzeptierte und als ausreichend erachtete
Rentenniveau von rd. 53 Prozent (Netto vor Steuern) ausgewiesen. Damit soll die Sicherung des während des
Erwerbslebens erreichten Lebensstandards ohne den Rückgriff auf private oder betriebliche Zusatzvorsorge
gewährleistet werden. Das seit 2005 gesetzlich definierte „Sicherungsniveau vor Steuern“ nach
§ 154 SGB VI Abs. 3 Nr. 2 SGB VI wird diesem Ziel nicht gerecht. Denn es bezieht sich auf das verfügbare
Durchschnittsentgelt nach Anlage 1 SGB VI abzüglich der privaten Altersvorsorgeaufwendungen (AVA) und
unterstellt so, dass alle sozialversicherungspflichtigen Beschäftigen private Vorsorge im Sinne der Riester-
Rente betreiben. Tatsächlich verfügt aber nur ein Drittel der Förderberechtigten über eine aktive Anwartschaft
aus der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge. Realistisch betrachtet ist eine 100prozentige Abdeckung
aber unter den gegebenen Bedingungen nicht erreichbar. Daher darf diese Annahme auch keine Rolle in einer
transparenten Rentenanpassungsformel spielen. Zugleich soll die Belastungsänderungen der Beitragszahlenden
wie auch der Rentnerinnen und Rentner bei den Sozialversicherungsbeiträgen in der Anpassungsformel ihren
Niederschlag finden. Somit werden lediglich die Entwicklung der Bruttolöhne sowie der Beitragssätze zur
Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung bei der Berechnung der Rentenanpassung berück-
sichtigt. Zur Berechnung des aktuellen Rentenwerts sollte deshalb die um Änderungen der Nettoquote des
Arbeitsentgelts sowie der Nettoquote der Rente korrigierte Lohnentwicklung maßgeblich (ex-post-Verfahren
der Lohnbindung) sein; die Nettoquoten ergeben sich jeweils durch Abzug der Sozialabgabenquote – AQA-
SVB bzw. AQR-SVB – von Eins. Die so modifizierte und für alle nachvollziehbare neue Rentenanpassungs-
formel führt dazu, dass auch langfristig wieder ein stabiles „Sicherungsniveau nach Sozialversicherungsbeiträ-
gen“, wie es von Dedring et al. (2010) entwickelt und von Steffen (2015) weiter konkretisiert wurde, gewähr-
leistet werden könnte.

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