BT-Drucksache 18/6692

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/5926, 18/6688 - Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz - PSG II)

Vom 11. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6692
18. Wahlperiode 11.11.2015

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias
W. Birkwald, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Katja
Kipping, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Azize Tank,
Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung

– Drucksachen 18/5926, 18/6688 –

Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen
Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften
(Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Pflege muss als Teil der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge verstanden werden. Die
Deckung des individuellen Pflegebedarfs ist wesentliche Voraussetzung für gesell-
schaftliche Teilhabe. Individuell notwendige Unterstützung für alltägliche Tätigkei-
ten und Aktivitäten muss gesichert sein. Der individuelle Pflegebedarf schließt ein
Wunsch- und Wahlrecht ein: wo, wie und von wem ein Mensch gepflegt werden
will. Grundsätzlich sind für gleiche Hilfebedarfe auch gleiche Leistungen zu erbrin-
gen, unabhängig vom Lebensort und der sozialen Lebenssituation. Pflege schließt
Assistenz ein und muss kultur- und geschlechtersensibel ausgestaltet werden.

In diesem Sinne muß eine Neuausrichtung der Pflegeversicherung die Lebensquali-
tät von allen Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf, von pflegenden An-
gehörigen und von Beschäftigten spürbar verbessern. Das ist der Maßstab für einen
Paradigmenwechsel in der Pflege. Ohne eine qualitative Weiterentwicklung der pfle-
gerischen Versorgung, ausgerichtet auf die Bedürfnisse der Menschen mit Pflegebe-
darf und ihrer Angehörigen, also deutlich verbesserte und erhöhte Leistungen sowie
ein breiteres Leistungsspektrum, kann das nicht gelingen.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung leistet dies nicht. Die Einführung neuer
Pflegegrade ist zwar ein längst notwendiger Schritt. Eingeführt werden fünf Pflege-
grade anstelle von drei Pflegestufen sowie ein neues Begutachtungsverfahren zur
Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Der defizitorientierte Blick auf körperliche Ein-

Drucksache 18/6692 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

schränkungen wird durch einen ressourcenorientierten Blick auf den Grad der ver-
bliebenen Selbständigkeit abgelöst. Die enge, verrichtungsbezogene Sicht wird in
der Begutachtung aufgehoben, aber nicht im praktischen Pflegealltag.

Ein verändertes Verständnis von Pflegebedürftigkeit muss auch ein verändertes Ver-
ständnis der Pflegearbeit und des Pflegeprozesses in Richtung eines teilhabeorien-
tierten Pflegebegriffs nach sich ziehen. Das erfordert weitergehende Maßnahmen.
Ohne diese wird die Belastung für Pflegende, Angehörige und Beschäftigte weiter
ansteigen. Teilhabeorientierte Pflege erfordert ein hohes Maß an Kommunikation
und Kooperation. Menschen dabei zu unterstützen, den Alltag ihren individuellen
Fähigkeiten entsprechend weitestgehend selbstständig zu meistern, ist zeit- und da-
mit personalintensiv. Experten, Gewerkschaften und Sozialverbände weisen seit lan-
gem auf die Notwendigkeit einer verbindlichen und bundeseinheitlich gestalteten
Personalbemessung hin. Ein Instrument zur Personalbemessung soll zwar bis 2020
wissenschaftlich entwickelt werden. Aktuell dringend notwendige Schritte werden
jedoch ausgeblendet.

Statt die professionelle Pflege – insbesondere im ambulanten Bereich – zu stärken,
will die Bundesregierung vorwiegend die Angehörigenpflege fördern. Die geplanten
Änderungen in Bezug auf niedrigschwellige Angebote zur Entlastung im Alltag
(§ 45a SGB XI-neu) forcieren den Wettbewerb unter den Pflegedienstleistern weiter.
Ohne Mindestanforderungen an die Anbieter von niedrigschwelligen Angeboten,
wie z. B. die Verpflichtung zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-
hältnissen und die Einhaltung tariflicher Entlohnung, mindestens jedoch die Einhal-
tung des Pflegemindestlohns, droht der Ausbau von prekärer Beschäftigung in der
Pflege.

Darüberhinaus führt der Gesetzentwurf perspektivisch sogar zur Absenkung des
Leistungsniveaus für Menschen mit einem geringen Pflege- und Unterstützungsbe-
darf in der vollstationären Pflege. Der Bericht zur Evaluation der Versorgungsauf-
wände in stationären Einrichtungen zeigt, dass etwa ein Viertel der Personen, die
nach derzeitiger Einstufungspraxis Pflegestufe 1 oder 2 bekämen, im zukünftigen
Verfahren Leistungen unterhalb dieses Niveaus erhalten würden. Menschen, die
nach dem 01. Januar 2017 als pflegebedürftig anerkannt werden, erhalten bei ver-
gleichbarem Pflegebedarf geringere Leistungen als anerkannt Pflegebedürftige zu-
vor (www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/presse/publikationen/schriften-
reihe/GKV_Schriftenreihe_Pflege_Band_13.pdf).

Die Bundesregierung tastet das Teilleistungsprinzip, bei dem die Kosten der Pflege
nur zu einem geringen Teil übernommen werden, nicht an. Mehr als die Hälfte der
Kosten müssen pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen aus eigener Ta-
sche zahlen. Die Eigenanteile für Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen und
ihre Familien steigen stetig. Im Gesetz geplante einrichtungseinheitliche Eigenan-
teile verringern diese Höherbelastung nicht. Sie verhindern nur, dass die Eigenan-
teile mit der Höhe des Pflegegrades steigen. Außerdem wurden die Leistungen der
Pflegeversicherung bislang an die Kostenentwicklung nur unzureichend angepasst,
was zu einer schleichenden Entwertung der Leistungen führt. Ohne eine Abkehr von
der Teilkostendeckung und eine gleichzeitige, jährliche und regelgebundene Dyna-
misierung der Leistungen bleibt hochwertige Pflege unmöglich. Der entstehende
Kostendruck in Form von Arbeitsverdichtung wird häufig an die Beschäftigten wei-
tergegeben und führt zu Qualitätsmängeln in der Versorgung der Menschen mit Pfle-
gebedarf.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6692
Ein nachhaltiger Paradigmenwechsel in der Pflege kann unter Kostenvorbehalt nicht
gelingen. An der Verteilung der finanziellen Lasten, die durch Pflege entstehen, än-
dert die Bundesregierung nichts. Um ein neues Pflegeverständnis und eine davon
ausgehende bedarfsdeckende pflegerische Versorgung nachhaltig zu sichern, ist ein
Systemwechsel in der Finanzierung der pflegerischen Versorgung erforderlich. Eine
solidarische Pflegeversicherung, in die alle Berufsgruppen einzahlen und in der alle
Einkommensarten verbeitragt werden (Bürgerinnen- und Bürgerversicherung),
schafft den notwendigen finanziellen Spielraum für gute Pflege und gute Arbeitsbe-
dingungen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen Pflegebegriffs vorzulegen mit fol-
genden Eckpunkten:

1. der neue Pflegebegriff wird einheitlich in allen relevanten Sozialgesetzbüchern
(SGB IX und SGB XII) verankert;

2. es wird sichergestellt, dass alle bisherigen Leistungsempfängerinnen und -emp-
fänger gegenüber dem Status quo der sozialen Pflegeversicherung nicht schlech-
ter gestellt werden und alle zukünftigen Leistungsempfängerinnen und -empfän-
ger im Verhältnis zum Status quo der Leistungen der sozialen Pflegeversiche-
rung keine geringeren Leistungen zu erwarten haben;

3. das Teilkostenprinzip wird abgeschafft zugunsten einer bedarfsdeckenden, an
den individuellen Bedürfnissen der Menschen ausgerichteten Pflegevollversi-
cherung. Als erster Schritt sind die Sachleistungsbeträge für die ambulante, teil-
stationäre und stationäre Pflege je Kalendermonat sofort um weitere 25 Prozent
zu erhöhen;

4. der Pflegevorsorgefonds und die geförderte private Pflegezusatzversicherung
(„Pflege-Bahr“) werden umgehend aufgelöst und eine jährliche, regelgebundene
Dynamisierung der Leistungen verbindlich mit Wirkung vom 01.01.2016 ein-
geführt;

5. zur Sicherung der Qualität in der Pflege ist ausgehend vom neuen Pflegebegriff
und damit veränderten Versorgungsaufwänden ein bundesweit verbindlicher
Standard über eine qualitätsbezogene Personalbemessung zu entwickeln und
schnellstmöglich umzusetzen. Bis dahin hat die Bundesregierung gemeinsam
mit den Ländern zu sichern, dass mindestens die Hälfte des Personals in statio-
nären Einrichtungen oder ambulanten Pflegediensten aus Fachkräften besteht;

6. eine solidarische Pflegeversicherung (Bürgerinnen- und Bürgerversicherung) ist
einzuführen, um langfristig die solidarische Finanzierung der Pflegeabsicherung
zu gewährleisten und bestehende Gerechtigkeitsdefizite zu beseitigen.

Berlin, den 10. November 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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