BT-Drucksache 18/5227

Gute Arbeit für Menschen mit Behinderungen

Vom 17. Juni 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5227
18. Wahlperiode 17.06.2015
Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Ralph
Lenkert, Cornelia Möhring, Norbert Müller (Potsdam) , Harald Petzold (Havelland),
Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Jörn
Wunderlich, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Gute Arbeit für Menschen mit Behinderungen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperi-
ode heißt es: „Zentrales Element der sozialen Inklusion ist eine aktive Arbeits-
marktpolitik. Wir wollen die Integration von Menschen mit Behinderungen in
den allgemeinen Arbeitsmarkt begleiten und so die Beschäftigungssituation
nachhaltig verbessern.“
In der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-
Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in der Fassung der Schattenüberset-
zung des NETZWERK ARTIKEL 3 e. V.) ist in Artikel 27 festgeschrieben:
„Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behin-
derungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen auf Arbeit;
dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit
zu verdienen, die in einem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinde-
rungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder ange-
nommen wird.“
Von diesem Ziel ist die Bundesrepublik Deutschland noch weit entfernt und die
Fakten sind alarmierend. Während die allgemeinen Arbeitslosenzahlen rückläu-
fig sind, profitieren Menschen mit Behinderungen von dieser günstigen Ent-
wicklung nicht. Im Januar 2010 waren 177.000 anerkannt schwerbehinderte
Menschen arbeitslos, im Januar 2015 waren es bereits 187.000.
Das Inklusionsbarometer Arbeit der Aktion Mensch und des Handelsblatt Re-
search Institute (HRI) vom 27. November 2014 verdeutlichte, dass die Quote
der arbeitslosen Menschen mit Behinderungen mit 14 Prozent mehr als doppelt
so hoch lag wie die allgemeine Arbeitslosenquote. Die Arbeitssuche dauerte in
dieser Gruppe durchschnittlich 100 Tage länger. Etwa 60 Prozent aller Arbeit-
geberinnen und Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland seien unterhalb
der gesetzlich festgeschriebenen Beschäftigungsquote für Menschen mit Behin-
derungen von fünf Prozent geblieben. Als Gründe für die Nichteinstellung wur-
den von diesen die mangelnde Barrierefreiheit ihrer Betriebe und das Fehlen
geeigneter Stellen angegeben. Diese Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber würden
lieber die gesetzliche Ausgleichsabgabe zahlen. Laut diesen Untersuchungen

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werden rund 3,4 Millionen Betriebe mit weniger als 20 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern mit dieser Zahlung überhaupt nicht konfrontiert. Diese kleinen und
mittleren Unternehmen verfügten bundesweit über ein Volumen von 8,5 Milli-
onen Arbeitsplätzen und suchten stetig nach geeigneten Fachkräften.
Es besteht offenbar erheblicher Aufklärungsbedarf was die Fördermöglichkei-
ten für Unternehmen betrifft. Knapp jede vierte Arbeitgeberin beziehungsweise
jeder vierte Arbeitgeber wusste nichts von den Fördermitteln aus der Aus-
gleichsabgabe und von denen, die davon Kenntnis hatten, nutzten nur etwa zwei
Drittel diese Mittel. Auch der Blick in die Zukunft scheint trübe, da nach diesem
Inklusionsbarometer lediglich zehn Prozent der Arbeitgeberinnen und Arbeit-
geber ihre Beschäftigungsquote erhöhen wollten. Schlussendlich gibt der Erfolg
den inklusiv arbeitenden Unternehmen aber Recht, denn mehr als drei Viertel
aller Unternehmerinnen und Unternehmer sahen keine Leistungsunterschiede
zwischen den Berufstätigen mit und ohne Behinderungen.
Der Deutsche Behindertenrat (DBR) und der Sozialverband VdK Deutschland
(VdK) kritisierten die anhaltenden Benachteiligungen von Menschen mit Be-
hinderungen auf dem Arbeitsmarkt und die weiter steigende Arbeitslosigkeit
von schwerbehinderten Menschen. In diesem Zusammenhang forderten beide
die spürbare Anhebung der Ausgleichsabgabe – insbesondere für die 37.000
Unternehmen, welche trotz gesetzlicher Verpflichtung überhaupt keinen Men-
schen mit Behinderung beschäftigen. Der VdK wies darauf hin, dass Menschen
mit anerkannter Schwerbehinderung oft gut qualifiziert seien und forderte so-
fortige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie die verstärkte Förderung von
Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt
für Menschen mit Behinderungen.
Das im September 2014 veröffentlichte Ergebnis einer von der Gewerkschaft
ver.di in Auftrag gegebenen Studie zur Arbeitssituation von Menschen mit Be-
hinderungen betont die Notwendigkeit der Schwerbehindertenvertretungen
(SBV). Fast die Hälfte aller Arbeitsplätze von Beschäftigten mit Behinderungen
sei nicht behindertengerecht ausgestattet. In Betrieben mit einer SBV würden
deutlich mehr behindertengerechte Arbeitsplätze vorgefunden als in solchen
ohne. Dies würde sich auch auf die beruflichen Gestaltungs-, Entwicklungs- und
Verdienstmöglichkeiten auswirken. Jedoch arbeiteten nur etwa 60 Prozent der
Befragten in einem Betrieb, in dem eine SBV gewählt wurde. Hinzu kämen
noch Arbeitshetze und mangelnde Wertschätzung durch die Vorgesetzten.
Nach der UN-BRK ist soziale Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen ein
Menschenrecht. Dies schließt auch internationale Mobilität im Rahmen von Bil-
dung und Arbeit ein. Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen, für
die in der Bundesrepublik Deutschland ein Anspruch besteht, werden oft nicht
oder nur zum Teil gewährt, wenn die betroffene Person sich im (außereuropäi-
schen) Ausland aufhält. Dies betrifft beispielsweise eine zeitlich begrenzte
hauptamtliche Tätigkeit und Praktika im Ausland oder einen internationalen
Freiwilligendienst. Damit werden Menschen mit Behinderungen an der gleich-
berechtigten Teilhabe gehindert und damit diskriminiert.
Auch die Staatenprüfung Ende März 2015 stimmt eher nachdenklich. Der UN-
Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist besorgt
über die Segregation auf dem Arbeitsmarkt. Der Ausschuss empfiehlt der Bun-
desrepublik Deutschland durch entsprechende Vorschriften, wirksam einen in-
klusiven Arbeitsmarkt zu schaffen, der in Übereinstimmung mit der Konvention
steht. Dazu gehören die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten an barri-
erefreien Arbeitsplätzen, insbesondere für Frauen mit Behinderungen, sowie
der schrittweise Ausstieg aus den Werkstätten für behinderte Menschen
(WfbM) durch sofort durchsetzbare Ausstiegsstrategien und Zeitpläne und
durch Anreize für die Beschäftigung bei öffentlichen und privaten Arbeitgebe-
rinnen und Arbeitgebern im allgemeinen Arbeitsmarkt.

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In der Arbeitsgruppe Bundesteilhabegesetz wiesen in der 3. Sitzung viele Ver-
treterinnen und Vertreter von Behinderten- und Sozialverbänden sowie Ge-
werkschaften laut Protokoll darauf hin, dass im vorgelegten Arbeitspapier zum
Thema Teilhabe am Arbeitsleben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozi-
ales (BMAS) die Konzentration auf die WfbM nicht ausreichend und sachge-
recht sei. Es fehle der Blick auf die Menschen, die im Laufe ihres Berufslebens
eine Behinderung erwerben. Zu-, Ab- und flexible Übergänge sollten im Zu-
sammenhang mit den WfbM auch aufgenommen werden sowie das Entgelt und
die Werkstättenmitwirkungsverordnung. Themen wie berufliche Rehabilitation
und Bildung sollten auch hinzugefügt und diskutiert werden. Integrationsbe-
triebe und Unterstützte Beschäftigung würden ebenso fehlen. Ein Problem sei
demnach auch die unzureichende Betreuung von arbeitslosen schwerbehinder-
ten Menschen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), die dann oft fälsch-
licherweise in die WfbM verwiesen würden, da es an personellen und finanzi-
ellen Ressourcen mangele. Das „Budget für Arbeit“ wird als Leistungsanspruch
gefordert. Damit können Menschen mit Behinderungen, die in WfbM beschäf-
tigt sind, den für sie gezahlten Leistungsbetrag zur Teilhabe am Arbeitsleben
für sich als Budget beantragen, um sich damit am allgemeinen Arbeitsmarkt zu
etablieren.
Nach über fünf Jahren UN-Behindertenrechtskonvention hat sich leider, was die
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an Arbeit und Beschäftigung be-
trifft, nicht viel Positives getan. Im Gegenteil: Die Arbeitslosenzahlen steigen
entgegen dem allgemeinen Trend weiter an und die Zahl der Menschen, die auf
Sonderwege geschickt werden, nimmt zu. Etwa 300.000 Menschen befinden
sich aktuell in WfbM. Das durchschnittliche monatliche Arbeitsentgelt liegt
dort bei niedrigen 180 Euro. Auch die Werkstatträte verfügen immer noch nicht
über Mitbestimmungsrechte und die SBV mahnen schon seit Jahren Auswei-
tungen und Verbesserungen ihrer Mitbestimmungsregelungen an. Es bedarf der
barrierefreien und diskriminierungsfreien Ausgestaltung der Arbeitsbedingun-
gen, der langfristigen Förderung von Menschen mit Behinderungen sowie wirk-
samer Anreize für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, diese zu beschäftigen.
Diese Maßnahmen sind notwendig und nützen allen. Inklusive Bedingungen im
Arbeitsleben können nur geschaffen werden, wenn umgehend ein Wandel in der
Arbeitsmarktpolitik vorgenommen wird. Es bedarf grundsätzlicher, strukturel-
ler und finanzieller Veränderungen sowie eines Bewusstseinswandels aller be-
teiligten Akteure.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Gesetzentwürfe, Verordnungen und Regelungen auf den Weg zu bringen, die
einen Politikwechsel gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention einleiten, um
Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben auch durch eigene
existenzsichernde Berufstätigkeit zu ermöglichen. Dafür soll sie ein umfassen-
des Gesetzesscreening durchführen. Als Sofortmaßnahme ist der Behinderungs-
begriff im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) gemäß Artikel 1 Satz 2
UN-BRK und dem Verständnis der Internationalen Klassifikation der Funkti-
onsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) zu fassen;

2. ein beschäftigungspolitisches Rahmenprogramm für Menschen mit Behinderun-
gen aufzulegen, das dem Grundsatz folgt, so wenig Sonderarbeitswelten wie
möglich und so regulär wie möglich auszugestalten und schrittweise Rahmen-
bedingungen für eine inklusive Arbeitswelt für alle Beschäftigten zu schaffen.
Die Umsetzung dieses Programms ist verbindlich im Nationalen Aktionsplan
zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behin-
derungen festzuschreiben;

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3. das System der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsabgabe umzugestalten

und dazu Gesetzentwürfe mit folgenden Regelungen vorzulegen:
a) Die Absenkung der Beschäftigungsquote in § 71 SGB IX ist sofort zurück-

zunehmen und in einem ersten Schritt wieder auf sechs Prozent anzuheben.
b) Die Praktiken und gesetzlichen Möglichkeiten sind zu beseitigen, die es

Unternehmen ermöglichen, die Zahlung der Ausgleichsabgabe nach § 77
SGB IX zu reduzieren und so die Beschäftigungspflicht faktisch auszuhe-
beln. Grundsätzlich sind die Mittel der Ausgleichsabgabe nur für die Schaf-
fung und Sicherung inklusiver Bedingungen auf dem allgemeinen Arbeits-
markt zu verwenden und nicht mehr für institutionelle Förderungen. Auch
der Ausgleichsfonds beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
(BMAS) ist für diese Aufgabe bereitzustellen. § 73 Absatz 3 SGB IX ist
aufzuheben. Im Sinne inklusiver Arbeitsbedingungen sollten auch Arbeits-
plätze für den Umfang der Beschäftigungspflicht gezählt werden, wenn
dort Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit weniger als 18 Stunden in
der Woche beschäftigt werden.

c) Die Ausgleichsabgabe ist so deutlich anzuheben, dass sich für Arbeitgebe-
rinnen und Arbeitgeber mehr Anreize für die Beschäftigung von Menschen
mit Behinderungen ergeben, als die Beschäftigungspflicht zu umgehen.

d) Versicherungspflichtige Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen
ist durch dauerhafte Nachteilsausgleiche und Kompensationszahlungen zu
fördern. Für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ist ein Anreizsystem zu
schaffen, einen möglichst hohen Anteil der Arbeitsplätze mit Menschen
mit Behinderungen zu besetzen. Falls die Mittel der Ausgleichsabgabe bei
steigender Beschäftigtenzahl von Menschen mit Behinderungen für diese
Förderungen nicht mehr ausreichen, ist ein eigener Haushaltstitel „Inklu-
sive Arbeit und Beschäftigung“ in der Verantwortlichkeit des BMAS zu
schaffen, aus dem diese dann beglichen werden müssen.

e) Unternehmen, die mehr als die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von Men-
schen mit Behinderungen beschäftigen, sind bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge in einem Stufensystem besonders zu berücksichtigen. Steuerliche
Vergünstigungen, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, als
zusätzliche Anreize sind zu prüfen.

f) Der öffentliche Dienst sollte bei der Beschäftigung von Menschen mit Be-
hinderungen eine Vorbildfunktion einnehmen und damit seiner besonderen
Verantwortung gerecht werden;

4. Förderungen für Menschen mit Behinderungen auszuweiten und langfristig zu
garantieren und dazu Gesetzentwürfe mit folgenden Regelungen vorzulegen:
a) Der personenzentrierte Ansatz ist als Instrument ohne Kostenvorbehalt

auszugestalten. Dafür sind Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben be-
darfsgerecht auf der Grundlage eines bundeseinheitlichen, am Lebensla-
genansatz orientierten Bedarfsfeststellungsverfahrens auszugestalten. Die
Beweislast der Nichtgewährung von benötigten Leistungen liegt beim
Leistungsträger.

b) Für Verlässlichkeit und Planbarkeit sind Förderungen trägerübergreifend
und langfristig zu gewähren, auch in Form von dauerhaften Lohn-, Gehalts-
sowie Mobilitätszuschüssen. Das „Budget für Arbeit“ ist als gesetzlicher
Leistungsanspruch auszugestalten.

c) Übergangswege in reguläre Beschäftigung wie der „Öffentlich geförderte
Beschäftigungssektor“ und die „Unterstützte Beschäftigung“ sind für Men-
schen mit Behinderungen zu erweitern, beispielsweise durch dauerhafte
Berufsbegleitung, und aus Bundesmitteln langfristig zu finanzieren.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/5227

d) Assistenzleistungen sind aus Steuermitteln zu finanzieren. Der gesetzliche
Mindestlohn ist auch für Assistenzkräfte einzuführen.

e) Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sollten auch für die Zeit während
einer Ausbildung und eines Praktikums sowie für Arbeitsverhältnisse unter
15 Wochenstunden bedarfsgerecht gewährt werden, wenn Betroffene auf-
grund ihrer Behinderungen nicht länger beschäftigt werden können. Dies
muss ebenso für entsprechende – auch außereuropäische – Auslandsauf-
enthalte wie beispielsweise für zeitlich begrenzte hauptamtliche Tätigkei-
ten sowie für internationale Freiwilligendienste oder für Studien-/Praktika-
Aufenthalte im Ausland gelten.

f) Spezifische Förderprogramme sind auf der Basis einer Analyse der tatsäch-
lichen Lebenslage genderspezifisch auszugestalten und zu finanzieren. Das
betrifft insbesondere junge und ältere Menschen sowie Migrantinnen und
Migranten mit Behinderungen und auch zusätzliche Bedarfe infolge beson-
derer Behinderungsarten.

g) Dem noch immer geltenden „Ernährermodell“ in Beratung und Bewilli-
gung von Leistungen und der diskriminierenden Entlohnung von Frauen
mit und ohne Behinderungen ist entgegenzuwirken.

h) Die Ausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen ist vorrangig zu för-
dern, die berufsbegleitende Fortbildung zu entwickeln. Verbindlichere
Festlegungen für die betriebliche Ausbildung behinderter und schwerbe-
hinderter Jugendlicher sind dringend erforderlich. Eine verbindliche Aus-
bildungsplatzquote und eine Ausbildungsplatzausgleichsabgabe sind zu
prüfen;

5. Integrationsunternehmen und Integrationsabteilungen zu stärken und dafür fol-
gende Regelungsentwürfe vorzulegen:
a) Integrationsunternehmen/-betriebe und Integrationsabteilungen/-projekte

sind durch Investitionsförderungen und bevorzugte Vergabe von öffentli-
chen Aufträgen und bei Ausschreibungen sowie durch zusätzliche Steu-
erentlastungen in der Gründungsphase zu unterstützen und langfristig zu
stärken.

b) Bevor Menschen mit Behinderungen von den Institutionen der Bundes-
agentur für Arbeit an WfbM verwiesen werden, ist verpflichtend zu prüfen,
ob sie nicht mit den entsprechend ausgeweiteten begleitenden Förderungen
und Unterstützungsangeboten in Integrationsunternehmen/-betrieben/-ab-
teilungen/-projekten beschäftigt werden können. An diesem Verfahren
sollten auch die von den betroffenen Menschen gewünschten Organisatio-
nen/Verbände von Menschen mit Behinderungen beteiligt und angehört
werden. Bevor die Betroffenen ihre Entscheidung selbstbestimmt treffen,
ist ihnen eine unabhängige Beratung anzubieten.

c) Ein Anreizsystem ist zu entwickeln, um die Mindestbeschäftigungsquote
in Integrationsunternehmen und -betrieben in Höhe von 25 Prozent zu
überbieten und langfristig zu prüfen, ob die Quote angehoben werden kann.

d) Eine Mindestquote für die Auftragsvergabe von Bundesbehörden an Inte-
grationsunternehmen und -betriebe ist festzulegen. Entsprechend ist § 141
SGB IX zu präzisieren und eine allgemeine Verwaltungsvorschrift zu er-
lassen.

e) Besondere Förderungen für Integrationsunternehmen und -betriebe zur Be-
rufsausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen sind zu entwickeln;

6. Werkstätten schrittweise umzugestalten und dafür Gesetzentwürfe mit folgen-
den Regelungen vorzulegen:

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a) Beschäftigte in Werkstätten haben ein Recht auf ein reguläres Arbeitsver-
hältnis mit tariflicher Entlohnung. Der „arbeitnehmerähnliche Status“ ist
für sie perspektivisch aufzuheben; sie sollen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer bei Beibehaltung der erforderlichen Nachteilsausgleiche sein.

b) Menschen mit Behinderungen auf sogenannten Außenarbeitsplätzen in Un-
ternehmen und bei öffentlichen Arbeitgebern sind tariflich nach dem
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zu entlohnen.

c) Die Vermittlung von Werkstattbeschäftigten auf den allgemeinen Arbeits-
markt sollte stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Dafür sind den Be-
schäftigten bedarfsgerechte und langfristige Förderungen und Unterstüt-
zungsangebote – wie unter den Punkten 4, 5, 7 und 8 gefordert – bereitzu-
stellen. Werkstattbeschäftigten muss im Fall des Übergangs in ein versi-
cherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ein unbefristetes Rückkehr-
recht eingeräumt werden, das ihre besonderen Zugangsvoraussetzungen zu
einer vollen Erwerbsminderungsrente nicht beeinträchtigt und sie unter
denselben Bedingungen ohne erneutes Antragsverfahren wie zuvor auf-
nimmt.

d) Mittelfristig sind Werkstätten als Integrationsunternehmen/-betriebe mit
sozialen Angeboten und Leistungen weiterzuentwickeln, so dass die Werk-
stattleistungen nicht verloren gehen.

e) Die Unterscheidung zwischen „werkstattfähigen“ und „nicht werkstattfä-
higen Menschen“ ist aufzuheben. Damit entfällt auch die Zugangsbedin-
gung in eine Werkstatt: das Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Ar-
beitsleistung (§ 136 Absatz 2 SGB IX).

f) Ein bundeseinheitliches prozessorientiertes Bedarfsfeststellungsverfahren
– unabhängig von den institutionellen Leistungserbringern – ist zu entwi-
ckeln.

g) Der gesetzliche Unfallversicherungsschutz ist auch auf Werkstattbeschäf-
tigte im Förder- und Betreuungsbereich auszudehnen;

7. Barrierefreiheit im Sinne von Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention zu
gewährleisten und folgende Regelungsentwürfe vorzulegen:
a) In § 3a der Arbeitsstättenverordnung sind umfassende Barrierefreiheit und

„Universelles Design“ als allgemeine Grundprinzipien der Arbeitsstätten-
gestaltung festzuschreiben und daher unabhängig davon, ob Menschen mit
Behinderungen tatsächlich beschäftigt werden. Diese Festschreibung er-
folgt sowohl für bauliche und kommunikative als auch für kognitive Be-
dingungen des Arbeitsprozesses, einschließlich erforderlicher Arbeitsassis-
tenz. Es geht um eine gesundheitsfördernde Arbeitsraumgestaltung für die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

b) Entsprechende Förderungen an Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die
Menschen mit Behinderungen beschäftigen möchten, sollen erhöht und er-
weitert werden. Insbesondere sind nachhaltige Lösungen, die präventiv ge-
sundheitsfördernd den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nützen, zu för-
dern.

c) Diese Förderungen werden zunächst aus dem Ausgleichsfonds nach § 78
SGB IX finanziert, jedoch bei dessen Absinken infolge steigender Beschäf-
tigungsquoten aus Steuermitteln des Bundes aufgestockt.

d) Für die Schaffung von barrierefreien Arbeitsstätten sind auf Bundesebene
verstärkt Forschungen und Entwicklungen sowie technische Lösungen
nach dem Prinzip „Universelles Design“ finanziell zu fördern. Dies betrifft
auch Fortbildungsprogramme in Unternehmen und deren Verbänden,
Kammern, Verwaltungen und Hochschulen zu Inklusionsanforderungen;

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8. Beratung und Vermittlung für Menschen mit Behinderung zu garantieren und

Gesetzentwürfe mit folgenden Regelungen vorzulegen:
a) Die Bundesagentur für Arbeit muss die einheitliche Anlaufstelle für die

Beratung und Vermittlung von Menschen mit Behinderungen sowohl für
den Rechtskreis des SGB III als auch des SGB II sein. Die bestehende
Schnittstellenproblematik und wechselnde Zuständigkeiten für Empfänge-
rinnen und Empfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Behin-
derungen müssen überwunden werden.

b) Das Recht auf eine unabhängige Beratung – im Sinne von „Betroffene be-
raten Betroffene“ – durch Selbsthilfeinitiativen und Interessenverbände
von Menschen mit Behinderungen ist festzuschreiben. Selbstberatungs-
strukturen sind institutionell zu fördern.

c) Die Integrationsämter werden als begleitende Umsetzungsbehörde weiter-
entwickelt. Die Integrationsfachdienste sind zu stärken. Die Ausschrei-
bungspflicht für Leistungen durch die Bundesagentur für Arbeit und durch
Rehabilitationsträger muss zurückgenommen werden, um die Einheit von
Vermittlung und Begleitung zu erhalten.

d) Die Beratungs- und Informationsangebote für Arbeitgeberinnen und Ar-
beitgeber sind zu verbessern und verständlicher zu fassen. Diese sind ins-
besondere bei der barrierefreien Arbeitsplatzgestaltung schneller und un-
bürokratischer zu unterstützen;

9. Selbstvertretung und Mitbestimmung zu stärken und dafür folgende Regelungs-
entwürfe vorzulegen:
a) Mitbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen sind zu

verbessern und entsprechende Rechte von Betriebsräten, Personalräten,
Schwerbehindertenvertretungen (SBV) und Werkstatträten sind zu erwei-
tern. Für die SBV ist ein Stimmrecht in den Angelegenheiten, die besonders
Menschen mit Behinderungen betreffen, im Betriebsverfassungsgesetz,
Personalvertretungsgesetz und im SGB IX zu verankern.

b) Ein Verbandsklagerecht ist im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zu
verankern. Die Verbandsklagemöglichkeit in § 63 SGB IX ist so zu erwei-
tern, dass ein Verband gegen einen Gesetzesverstoß auch dann Klage erhe-
ben kann, wenn kein konkreter Einzelfall zugrunde liegt.

c) Praktikablere Freistellungs- und erleichterte Heranziehungsmöglichkeiten
von Stellvertreterinnen und Stellvertretern der SBV sind gesetzlich zu ge-
währleisten. Das betrifft auch den Anspruch auf Schulung und Weiterbil-
dung für die Stellvertreterinnen und Stellvertreter der SBV.

d) Das Recht der SBV auf unverzügliche Unterrichtung und Anhörung in den
Angelegenheiten, die schwerbehinderte Menschen berühren, ist zu stärken.

e) § 83 SGB IX ist dahingehend klarzustellen, dass Arbeitgeberinnen und Ar-
beitgeber nicht nur Verhandlungen über eine Integrationsvereinbarung zu
führen haben, sondern zum Abschluss einer solchen Vereinbarung ver-
pflichtet sind.

f) Mitbestimmungsrechte für Werkstatträte sind als Sofortmaßnahme einzu-
führen. Diese sollen die Werkstattordnung, Beschäftigungszeiten, Arbeits-
entgelte, Grundsätze für Fort- und Weiterbildung und soziale Angelegen-
heiten wie Pausenräume, Mittagessen und anderes ausdrücklich betreffen.
Diese Mitbestimmungsrechte sind in der Werkstättenmitwirkungsverord-
nung (WMVO) zu verankern.

g) Um die Selbstvertretung der Werkstätten zu stärken, ist die Finanzierung
der Bundesvereinigung der Werkstatträte auf Bundesebene dauerhaft zu si-
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/5227 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

chern und in der WMVO festzuschreiben. Der Bund sollte sich in Koope-
ration mit den Ländern dafür einsetzen, dass dies auch auf Länderebene
umgesetzt und verwirklicht wird.

h) Das Modellprojekt „Frauenbeauftragte in Werkstätten“ ist zu erhalten,
bundesweit fortzuführen und auf Integrationsunternehmen sowie Integrati-
onsbetriebe/-abteilungen/-projekte auszudehnen.

Berlin, den 16. Juni 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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