BT-Drucksache 18/5109

Armuts- und Reichtumsbericht qualifizieren und Armut bekämpfen

Vom 10. Juni 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5109
18. Wahlperiode 10.06.2015
Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W.
Birkwald, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Cornelia Möhring, Norbert Müller
(Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Kathrin
Vogler, Harald Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich,
Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Armuts- und Reichtumsbericht qualifizieren und Armut bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist im Grundsatz ein wichtiges und
geeignetes Instrument zur Analyse der sozialen Wirklichkeit in Deutschland. Die
Berichterstattung könnte eine Grundlage für eine Politik zur Herstellung einer sozial
gerechten Politik darstellen. Zahlreiche Expertisen und Gutachten, die im Rahmen
der Berichterstattung erstellt wurden, dokumentieren nachdrücklich die wachsende
soziale Spaltung in Deutschland.
2. Die Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts liegt in den Händen der Bun-
desregierung. Damit liegt die Zuständigkeit für die Beschreibung und Bewertung
von Armut und Reichtum in den Händen der Instanz, die die politische Verantwor-
tung für die soziale Spaltung trägt. Dieses Verfahren hat sich nicht bewährt. Die
Berichterstattung führte regelmäßig nicht zu einer ungeschminkten Darstellung der
Wirklichkeit. Besonders deutlich wurde die Tendenz zur Verschleierung sozialer
Missstände bei der Erstellung des 4. Armuts- und Reichtumsberichts (BMAS: Le-
benslagen in Deutschland, Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesre-
gierung. Bonn 2013). Zentrale kritische Befunde wurden aus dem ersten Entwurf des
Berichts entfernt oder schönfärberisch umgedeutet. Gleichzeitig verfehlte die Be-
richterstattung die ursprüngliche Absicht, politisches Handeln gegen soziale Un-
gleichheit, Armut und soziale Ausgrenzung anzuregen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt daher eigenständige und unabhängige Armutsbe-
richte wie beispielweise die regelmäßigen Berichte des Paritätischen Gesamtverban-
des oder den Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz.
3. Trotz der Verschleierungsabsichten der Bundesregierung dokumentieren die Ar-
muts- und Reichtumsberichte (ARB) die wachsende soziale Spaltung in Deutsch-
land. Die Berichte stellen somit in der längerfristigen Perspektive dem jeweiligen
Regierungshandeln ein Armutszeugnis aus. Einige wenige Hinweise reichen, um das
verteilungs- und armutspolitische Versagen zu dokumentieren:
Seit längerem nimmt die soziale Ungleichheit in Deutschland dramatisch zu.

Während in den 80er Jahren die Einkommensverteilung noch deutlich egalitärer
war als im Durchschnitt der OECD-Länder, verschlechterten sich insbesondere
in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends die Verteilungsverhältnisse deutlich
(vgl. auch OECD: Growing unequal, Paris 2008 und Folgestudien).

Drucksache 18/5109 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Das Vermögen ist in Deutschland extrem ungleich verteilt. Nach Angaben des

jüngsten Armuts- und Reichtumsberichts verfügt die untere Hälfte der Haushalte
über kein nennenswertes Vermögen (ein Prozent des Nettovermögens), während
die obersten zehn Prozent über die Hälfte des Nettovermögens verfügen. Dabei
gilt in der zeitlichen Perspektive: die Reichen werden reicher, die Armen ärmer
(BMAS 2013, S. XII).

Die Lohnentwicklung hat sich von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekop-
pelt. Zwischen 2007 und 2011 stagnierte das mittlere Erwerbseinkommen von
Vollzeitbeschäftigten. Hinter dieser Stagnation verbirgt sich aber ein Prozess der
sozialen Spaltung: Lediglich die obersten Einkommen entwickelten sich real po-
sitiv, während bei der großen Mehrheit die Erwerbseinkommen rückläufig waren
(BMAS 2013, S. 335). In der Konsequenz kann für viele Menschen Teilhabe im-
mer weniger über Lohnarbeit gesichert werden. Niedriglohn und die Expansion
von prekärer Beschäftigung führen zu immer mehr Armut trotz Arbeit: Laut dem
4. ARB ist der Anteil von 5,7 % (2007) auf 8,2 % (2011) der Erwerbstätigen
gestiegen (BMAS 2013, S. 479).

Die Armut steigt in der längerfristigen Perspektive und nimmt trotz aktuell güns-
tiger konjunktureller Lage nicht ab (von 1998 bis 2010 von 10,4 % auf 13,9 %,
Daten des SOEP). Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die
Verfestigung von Armut: Der Anteil der dauerhaft Armen verdoppelte sich in
wenigen Jahre auf 7,9 % (BMAS 2013, S. 462). Verschiedene Gruppen wie Er-
werbslose, Alleinerziehende, Menschen mit Behinderungen oder mit Migrations-
hintergrund sind besonders von Armut und Ausgrenzung betroffen. Die jüngere
Entwicklung zeigt nach den offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes ei-
nen weiteren Anstieg der Armut nach 2010 (vgl. mit demselben Ergebnis auf
anderer Datengrundlage: Der Paritätische Gesamtverband: Die zerklüftete Re-
publik, Berlin 2015). Die Auswirkungen von Armut werden im 4. ARB weitge-
hend verschwiegen. Besonders skandalös: Wer arm ist, hat eine deutlich gerin-
gere Lebenserwartung.

Schließlich gibt es in dem jüngsten ARB auch Hinweise darauf, dass aufgrund
des massiven Sozialabbaus der letzten Jahre der Ausgleich über den Sozialstaat
immer weniger wirkt. Der Anteil der Menschen, die durch Sozialtransfers über
die Armutsrisikoschwelle gehoben wurden, ist seit 1998 kontinuierlich gesunken
(BMAS 2013, S. 484). Das durch die wissenschaftliche Forschung belegte hohe
Ausmaß an sogenannter verdeckter Armut aufgrund der Nichtinanspruchnahme
von Leistungen ist dem 4. ARB keine weitere Erwähnung wert.

4. Der 4. ARB folgte neben der Darstellung der sogenannten Kernindikatoren dem
Lebensphasenansatz. Gleichzeitig beschränkt sich der Bericht normativ auf Fragen
der Chancengerechtigkeit und ignoriert damit weitgehend die entscheidende Dimen-
sion der Verteilungsgerechtigkeit. Während dieses Vorgehen durchaus zu neuen Er-
kenntnissen – Erfolgs- und Risikofaktoren in bestimmten Lebensphasen – beitragen
kann, führt dieser Ansatz gleichzeitig zu einer Überbetonung von individuellen Ent-
scheidungen in spezifischen Lebensphasen. Damit werden strukturelle Faktoren von
sozialer Ungleichheit ausgeblendet. Im Ergebnis werden soziale Risiken nicht als
gesellschaftlich bedingt erkannt – als Ausfluss des kapitalistischen Produktions- und
Verteilungsprozesses, als Resultat der patriarchalisch strukturierten geschlechtsspe-
zifischen Arbeitsteilung, als Ausfluss rassistischer oder anderweitig begründeter
Diskriminierung sowie als Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen des Sozi-
alabbaus (etwa: Deregulierung des Arbeitsmarktes und Sozialabbau durch Hartz IV,
Absenkung des Rentenniveaus oder Privatisierung von Gesundheitskosten) – son-
dern individualisiert. Die Verantwortung der Politik für die Herstellung gerechter
gesellschaftlicher Verhältnisse wird dadurch weitgehend ausgeblendet. Die politi-
sche Verantwortung wird zudem auf die Herstellung vergleichbarer Ausgangsposi-
tionen für die Menschen beschränkt und erstreckt sich nicht auf egalitäre soziale
Verhältnisse im Ergebnis. Die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit verschwindet
damit als politisches Ziel.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/5109
Die skizzierten konzeptionellen Mängel und normativen Engführungen müssen in
kommenden Berichten vermieden werden. Darüber hinaus kündigt die Bundesregie-
rung drei Schwerpunktthemen an (Antworten der Bundesregierung auf die Schriftli-
chen Fragen der Abgeordneten Kipping und Strengmann-Kuhn, Bundestagsdruck-
sache 18/3960)
Auswirkungen atypischer Beschäftigungsformen auf die berufliche Entwicklung

und Erwerbseinkommen im Lebensverlauf;
Relevanz sozialräumlicher Segregation und
Reichtum.

Während diese Schwerpunktsetzungen zu begrüßen sind, bleibt abzuwarten, ob die
Analysen auch die zentralen Fragen nach den gesellschaftlichen und politischen Ur-
sachen der Zunahme von atypischer Beschäftigung und Reichtum und deren Aus-
wirkungen auf die wachsende soziale Spaltung stellen.
5. Die bisherigen Berichte blieben politisch folgenlos. Insofern zeigen sich im Kern
der Berichterstattung neben Erkenntnis- vor allem Umsetzungsdefizite. Es gab bis-
lang von keiner Regierung einen erkennbaren politischen Willen, soziale Ungleich-
heit und Armut als politisches Problem zu sehen und mit einem Aktionsprogramm
zu bekämpfen.

Auch in dem jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht fehlt ein eigenständiges Kapi-
tel mit Maßnahmen gegen soziale Ungleichheit und Armut. Es gibt in dieser Hinsicht
keine Ziele, keine Indikatoren zur Überprüfung der Zielerreichung und auch keine
Strategie.

Auch von der schwarz-roten Koalition ist kein grundsätzlicher Kurswechsel zu er-
warten. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist zwar grundsätzlich zu
begrüßen. Die Höhe des Mindestlohns ist mit 8,50 Euro/Stunde aber zu gering, um
verlässlich gegen Armut und Altersarmut zu schützen. Die Regelungen sind zudem
mit zahlreichen Ausnahmetatbeständen für junge Menschen unter 18 Jahren, Lang-
zeiterwerbslose, Zeitungaustragende sowie Saisonarbeitende lückenhaft. Das Schei-
tern eines flächendeckenden Mindestlohns ist ein Desaster für das Niedriglohnland
Deutschland. Darüber hinaus findet sich die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit
und Armut aber nicht im Koalitionsvertrag als politisches Ziel oder gar Priorität ver-
ankert. Auf steuerpolitische Maßnahmen zur Umverteilung von Einkommen und
Vermögen verzichtet die Regierung. Sowohl Wirtschaftsminister Gabriel als auch
Sozialministerin Nahles haben etwa die Sinnhaftigkeit einer Vermögensteuer öffent-
lich bezweifelt (etwa: dpa vom 09.03.2015). Ohne einen steuerpolitischen Kurs-
wechsels ist aber keine umfassende Strategie gegen soziale Ungleichheit und Armut
möglich. Gleichzeitig polemisiert die zuständige Bundesministerin Nahles gegen
den etablierten und EU-weit anerkannten Armutsbegriff (60 % des äquivalenzge-
wichteten Nettomedianeinkommens) (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 27.03.2015).
Die Ministerin will offensichtlich das soziale Problem wegdefinieren, statt es mit
geeigneten Maßnahmen zu bekämpfen. Dazu passt das Verhalten der Bundesregie-
rung auf europäischer Ebene. In der Strategie „Europa 2020“ hat sich die EU zum
Ziel gesetzt, die Anzahl der Menschen in Armut bis 2020 um ein Viertel zu senken.
Um dieses Ziel zu erreichen, müsste auch Deutschland die Armut im Land spürbar
verringern. Die schwarz-rote Bundesregierung verweigert aber unverändert die Be-
nennung eines konkreten Ziels zur Reduktion von Armut in Deutschland (vgl. Stra-
tegische Sozialberichterstattung 2015, Deutschland, Bundestagsdrucksache
18/4500). Stattdessen führt sie die Umdeutung von Armut in Langzeiterwerbslosig-
keit durch die schwarz-gelbe Regierung bruchlos fort.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Erarbeitung des 5. Armuts- und Reichtumsberichts einer unabhängigen Kom-
mission zu übertragen und dabei folgende Grundsätze zu beachten und umzusetzen:
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/5109 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
a. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales beruft nach Konsultation mit dem
Deutschen Bundestag eine Kommission aus unabhängiger Wissenschaft, Gewerk-
schaften, Verbänden sowie Interessenvertretungen der von Armut und sozialer Aus-
grenzung betroffenen Personen ein, um den 5. sowie folgende Armuts- und Reich-
tumsberichte zu erarbeiten. Die notwendigen Mittel werden aus dem Etat des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales aufgebracht.
b. Die Kommission konzentriert sich in ihrem Bericht auf die strukturellen Gründe
für soziale Ungleichheit und Armut. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums
wird in das Zentrum der Berichterstattung gerückt. Die politischen, sozialen und öko-
nomischen Ursachen für die ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen
werden ebenso analysiert wie die Entwicklung der funktionalen Verteilung des Wohl-
standes zwischen Kapital und Lohnarbeit und die Umverteilung des gesellschaftlichen
Reichtums durch das Steuer-, Abgaben- und Sozialsystem. Die Verteilungswirkungen
ungleichen Zugangs zu Bildung und Arbeitsmarkt – etwa für Menschen mit Migrati-
onshintergrund – werden untersucht und mit Indikatoren messbar gemacht. In diesem
Zusammenhang werden die Verteilungseffekte der geschlechtsspezifischen Arbeits-
teilung gesondert erörtert. Ergebnisse laufender Forschungsaufträge werden insbeson-
dere unter diesen Perspektiven ausgewertet. Soweit bei Einzelaspekten sinnvoll und
nötig, kann die Kommission Expertisen und Gutachten in Auftrag geben. Die norma-
tive Engführung auf Aspekte der „Chancengerechtigkeit“ wird vermieden.

Die Kernindikatoren zu Armut und Reichtum werden auch in zukünftigen Berichten
beibehalten und bei Bedarf ergänzt, um die langfristige Entwicklung darzustellen.
Die gängige Konvention zur Definition von Armut als relativer Einkommensposition
wird beibehalten und durch Informationen zur sog. materiellen Deprivation ergänzt.
Des Weiteren werden insbesondere folgende Indikatoren zusätzlich aufgenommen
und analysiert:
Indikatoren zu Betriebsvermögen der Unternehmen und ihrer Konzentration,
Indikatoren zur Verteilung zwischen Kapital und Lohnarbeit,
Indikatoren zu Umfang und Versteuerung von Erbschaften und Schenkungen,
Indikatoren zur Messung der Verteilungswirkung des Sozialstaats (Finanzierung,

Leistungen, Gesamteffekt) und zur Nichtinanspruchnahme von sozialen Leistun-
gen.

c. Die Kommission schlägt auf der Grundlage der Analyse der sozialen Ungleichheit
konkrete Maßnahmen zur Reduktion der gesellschaftlichen Ungleichheit und zur Ver-
meidung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung vor.
d. Alle Dokumente werden zeitnah öffentlich gemacht.
e. Der bereits eingesetzte Beirat unterstützt die Kommission beratend in ihrer Arbeit.
2. Die Bundesregierung legt dem Deutschen Bundestag auf der Grundlage der Emp-
fehlungen der Kommission ein Programm zur Bekämpfung von sozialer Ungleich-
heit, Armut und sozialer Ausgrenzung vor. In dem Programm werden verbindliche
und nachprüfbare Ziele zur Reduktion von sozialer Ungleichheit und Armut definiert
und konkrete Maßnahmen zur Erreichung der Ziele beschrieben. Die nachhaltige
Reduktion des Armutsrisikos und damit der Armutsrisikoquote wird als ein zentraler
Indikator für den Erfolg der Strategie herangezogen. Ein weiterer Indikator ist der
gesicherte Zugang zu öffentlicher sozialer Infrastruktur und Dienstleistung.

Berlin, den 10. Juni 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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