BT-Drucksache 18/4811

Der Völkermord in Ruanda und die deutsche Politik 1990 bis 1994 - Unabhängige historische Aufarbeitung

Vom 6. Mai 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4811
18. Wahlperiode 06.05.2015
Antrag
der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Tom Koenigs, Peter Meiwald, Omid
Nouripour, Tabea Rößner, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen),
Dr. Franziska Brantner, Agnieszka Brugger, Uwe Kekeritz, Dr. Tobias Lindner, Cem
Özdemir, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Jürgen
Trittin, Doris Wagner, Matthias Gastel, Kai Gehring und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abgeordneten Stefan Liebich, Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar Bartsch, Dr.
Petra Sitte, Caren Lay, Klaus Ernst, Sigrid Hupach, Jan Korte, Dr. Diether Dehm,
Susanna Karawanskij, Katrin Kunert, Michael Leutert, Cornelia Möhring,
Richard Pitterle, Dr. Kirsten Tackmann, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Der Völkermord in Ruanda und die deutsche Politik 1990 bis 1994 –
Unabhängige historische Aufarbeitung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In der Nacht zum 7. April 1994 begann in Ruanda der Völkermord an den Tutsi und
moderaten Hutu. Er zählt zu den verstörendsten Ereignissen der neueren Weltge-
schichte, da er sich lange vorher angekündigt und unvorstellbare Ausmaße angenom-
men hat. Bereits zu Beginn des Bürgerkriegs im Jahre 1990 häuften sich gravierende
Menschenrechtsverletzungen in dem Land. Spätestens 1992 war die Stoßrichtung
der Attacken der ruandischen Regierung und ihr nahestehender extremistischer
Kräfte deutlich erkennbar: Menschenrechtsverletzungen wurden mit dem Ziel vo-
rangetrieben, die Bevölkerungsgruppe der Tutsi auszulöschen und oppositionelle,
moderate Hutu auszuschalten. Das Ergebnis war die Ermordung von über 800.000
Menschen in weniger als 100 Tagen.

Die Vereinten Nationen und einige Länder, die bilateral mit Ruanda zusammenar-
beiteten, haben inzwischen ihre eigene Rolle in den Jahren vor und während des
Völkermords vor 20 Jahren aufgearbeitet. Dies hat erheblich dazu beigetragen, in-
ternationale Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu entwickeln. Besonders
die Responsibility to Protect geht auf die Erfahrungen in Ruanda zurück. Dennoch
bleibt die entscheidende Frage, ob aus diesem Völkermord bereits alle Erfahrungen
aufgearbeitet und alle Konsequenzen gezogen wurden – auf internationaler Ebene
sowie in Deutschland.

Es ist überfällig, die Handlungen der deutschen Entwicklungs-, Verteidigungs-, Au-
ßen- und Innenpolitik in Bezug auf die Situation in Ruanda in den Jahren 1990 –
1994 aufzuarbeiten. Viele staatliche, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen
arbeiteten damals in Ruanda. DED, GTZ, die Deutsche Welle, politische Stiftungen,

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die beiden großen Kirchen und viele Nichtregierungsorganisationen wirkten im
Land. Auch die Bundeswehr war mit Beratern vor Ort. Die enge Partnerschaft zwi-
schen Rheinland-Pfalz und Ruanda bestand in den 1990er-Jahren aus über 650 Pro-
jekten.

Eine systematische und gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung der Rolle
Deutschlands vor und während des Völkermords in Ruanda wäre ein wichtiger Bei-
trag zur Diskussion über die zukünftige deutsche Außenpolitik und die Rolle
Deutschlands bei der internationalen Prävention und Konfliktlösung, insbesondere
bei der Verhinderung schwerster Menschenrechtsverbrechen wie Völkermord, Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen.
Auf der Basis der Erfahrungen in Ruanda kann das Agieren deutscher Politik kritisch
beleuchtet werden mit dem Ziel, Schlussfolgerungen für eine kohärentere und kon-
fliktsensitive Zusammenarbeit zu ziehen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine unabhängige interdisziplinäre historische Kommission einzurichten und
diese mit der systematischen wissenschaftlichen Aufarbeitung aller Aktivitäten
von deutscher Seite im Zusammenhang mit der politischen Situation in Ruanda
zu beauftragen, und zwar mit besonderem Schwerpunkt auf die Jahre 1990 bis
1994. Diese Kommission soll bis 2017 einen Bericht erstellen, der darlegt, wel-
che Informationen wann und wem vorlagen, wie sie von welcher Stelle bewertet
und welche Konsequenzen seitens der Verantwortlichen daraus gezogen wur-
den.

Besonderes Augenmerk soll dabei gelegt werden
a) auf die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Ruanda

und in diesem Zusammenhang
auf den internationalen Kontext, insbesondere in Bezug auf die Ver-

einten Nationen und den UNAMIR-Einsatz (einschl. der Auswertung
der Sicherheitsratsprotokolle der Vereinten Nationen),

auf den europäischen und bilateralen Kontext (insbesondere im Ver-
hältnis zu Frankreich, Belgien, den USA, Großbritannien und im Ver-
gleich zu deren Vorgehen), auch unter Berücksichtigung bereits veröf-
fentlichter Berichte zur Aufarbeitung (z. B. Frankreich, Schweiz, Aust-
ralien),

auf die Rolle der deutschen Botschaft in Ruanda,
b) auf die Entwicklungspolitik, insbesondere die Reaktionen und Konsequen-

zen auf Frühwarnungen aus Entwicklungsprojekten und die Arbeit der
durchführenden Organisationen,

c) auf den Einsatz der Bundeswehrberatergruppe,
d) auf die Innenpolitik, insbesondere die genauen Hintergründe für die Ableh-

nung des Visaantrags für die 47 Ruander, die das Bundesland Rheinland-
Pfalz auf eigene Kosten aufnehmen wollte,

e) auf die Abstimmung zwischen den Ministerien zur Lage in Ruanda und zu
einer kohärenten Reaktion darauf,

f) auf andere Akteure wie die Partnerschaft von Rheinland-Pfalz, die christli-
chen Kirchen und die deutschen Nichtregierungsorganisationen;

2. zum Zwecke der historischen Aufarbeitung die Akten aus dem Kanzleramt, dem
Außen-, Entwicklungs-, Verteidigungs- und Innenministerium zu deklassifizie-
ren und bereitzustellen sowie die unbeschränkte Anhörung von Zeitzeugen

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durch die Kommission zu ermöglichen. Die Anhörung von Zeugen wird insbe-
sondere in den Fällen unerlässlich sein, in denen Akten nicht geführt oder bereits
vernichtet wurden;

3. anhand der Ergebnisse der historischen Kommission in einem offenen Diskurs
mit der Zivilgesellschaft die nationalen und internationalen Instrumentarien der
Prävention von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weiter-
zuentwickeln;

4. sich im Interesse der weltweiten juristischen Aufarbeitung von Verbrechen ge-
gen die Menschlichkeit für die Errichtung eines internationalen Rechtsschutz-
fonds zur Begleitung und Unterstützung von Zeugen einzusetzen.

Berlin, den 5. Mai 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Prävention von Völkermorden bedarf der Entschiedenheit der Vereinten Nationen. Diese Entschiedenheit
wird jedoch immer auch geprägt von der Initiative und Einsatzbereitschaft einzelner Nationen. Angesichts der
„Parteilichkeit“ verschiedener westlicher Länder in Ruanda und der bis in die Kolonialzeit zurückreichenden
Verantwortung stellt sich die Frage, inwieweit Deutschland eine aktivere Vermittlerrolle hätte übernehmen
können. Warum Deutschland diese, eventuell sogar trotz ausdrücklicher Bitten der Bürgerkriegsparteien oder
anderer Länder, nicht annahm und wie sich die Bundesrepublik Deutschland als zweitgrößter Geldgeber Ru-
andas in den 20 Jahren vor dem Völkermord stärker an seiner Verhinderung hätte beteiligen können, ist bis
heute weitgehend ungeklärt. Vor dem Hintergrund der sich hinziehenden Friedensverhandlungen zwischen
damaliger Regierung und Rebellen in Arusha häuften sich ab 1992 immer mehr und immer präzisere Informa-
tionen über Trainingscamps von Milizen, Waffenverteilung, Todeslisten mit Namen von Tutsi und oppositio-
nellen Hutu und über Massaker an der Bevölkerung. Sie wurden von Mitarbeitern der Entwicklungszusam-
menarbeit, der in Ruanda wirkenden Kirchen und der Bundeswehr an Botschaft und vorgesetzte Dienststellen
in Deutschland weitergegeben. Viele der damaligen Informanten fragen sich, warum seitens der deutschen
Politik darauf kaum politisch und diplomatisch reagiert wurde.

Aus heutiger Sicht ist es nicht nachvollziehbar, wieso der Fülle an Informationen über die extrem bedrohliche
Lage in Ruanda keine entschiedenen Taten der Bundesrepublik Deutschland folgten. Ob die Bundesregierung
die Informationen vollumfänglich erhielt, politisch auswertete und jemals erwog, sich für die Verhinderung
von Massenmorden an der Zivilbevölkerung einzusetzen, kann ohne eine gründliche historische Aufarbeitung
nicht festgestellt werden.

Der Völkermord in Ruanda wurde in anderen europäischen Ländern, die damals maßgeblich in die Gescheh-
nisse involviert waren, wie Frankreich und Belgien, durch Untersuchungskommissionen und Berichte des Par-
laments offiziell aufgearbeitet, wenn auch noch unzureichend. Im Gegensatz dazu sind die offiziellen Stellen
in Deutschland bislang nicht tätig geworden.

Dabei waren die Verbindungen der Bundesrepublik Deutschland mit dem afrikanischen Land vielfältiger und
enger, als dies der Öffentlichkeit bewusst ist. Diese Erkenntnisse wurden gerade in jüngster Zeit von Wissen-
schaftlern und Journalisten aufbereitet. Dabei geht es nicht nur um die entwicklungspolitische Zusammenarbeit
mit Ruanda. Sie war 1994, also zum Zeitpunkt des Völkermords, schon seit Jahrzehnten fest etabliert und
intensiver als zu vielen anderen afrikanischen Ländern. Es geht bei der Verflechtung der Bundesrepublik
Deutschland mit Ruanda auch um militärische Kooperationen zwischen der Bundeswehr und der damaligen
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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ruandischen Armee, die seit 1978 bestanden und bis April 1994 andauerten. Die enge Verbindung und vielfäl-
tige Verflechtung ermöglichte deutschen Einrichtungen, eine große Zahl von kritischen Informationen zu sam-
meln, die in Berichten an die Botschaft und nach Deutschland weitergegeben wurden. Trotzdem sind sämtliche
Warnsignale für eine heraufziehende Katastrophe, die von deutschen Stellen in Ruanda an die Bundesrepublik
Deutschland gesandt wurden, offensichtlich fehlgedeutet worden und wurden aus bis heute unaufgeklärten und
unverständlichen Gründen nicht weiter verfolgt. Die Entwicklungshilfe für Ruanda wurde trotz entsprechender
Vorschläge im internationalen Raum nicht eingestellt, sondern erhöht.

Das konkrete Verhalten der Bundesrepublik Deutschland vor und während des Völkermords zeichnete sich
durch Passivität und die Nichtübernahme von Verantwortung aus. Nach der Evakuierung der deutschen Staats-
bürger wurden alle Anfragen der Vereinten Nationen nach deutscher Unterstützung abgelehnt, Flüchtlinge aus
Ruanda - selbst nach Anfragen des Landes Rheinland-Pfalz – nicht aufgenommen.

Wie die vielfältigen Berichte von Zeitzeugen, Betroffenen und Analysen von Wissenschaftlern 20 Jahre nach
dem Genozid in Ruanda zeigen, gibt es viele Anhaltspunkte und Erkenntnisse, die Haltung Deutschlands zu
hinterfragen. Vor allen Dingen muss geklärt werden, welche Lehren aus dem Völkermord in Ruanda für die
Zukunft gezogen werden können. Konkret geht es hier um das Erkennen von Warnsignalen von Völkermord
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um eine klare Positionierung bei der Unterstützung der Vereinten
Nationen und um eine bessere und proaktive Einschätzung eigener politischer Handlungsmöglichkeiten in Zu-
sammenarbeit mit gleichdenkenden Staaten. Diese Erkenntnisse können in politisch handlungsleitende Richt-
linien für die Annahme von Verantwortung in der Weltgemeinschaft eingehen.

Sie können für die aktuelle Neubestimmung und Weiterentwicklung einer verantwortungsvollen deutschen Po-
litik jedoch nur dann genutzt werden, wenn die Bundesrepublik Deutschland zeitnah eine seriöse Aufarbeitung
aller vorhandenen Akten und Informationen einleitet, aus denen die entsprechenden Lehren heute und nicht
erst in vielen Jahren gezogen werden können.

Darum soll eine interdisziplinäre unabhängige historische Kommission eingerichtet werden, die, mit umfas-
sendem Zugang zu den Archiven ausgestattet, sowohl die staatliche und zivilgesellschaftliche Geschichte auf-
arbeitet als auch Empfehlungen für die deutsche Politik im nationalen, bilateralen, europäischen und multila-
teralen Kontext erarbeitet.

Ruanda ist heute, 20 Jahre nach dem Völkermord, trotz zahlreicher Fortschritte und positiver Entwicklungen
ein Land, das von Fragen nach Schuld und Verantwortung geprägt bleibt. Vor allem angesichts der noch nicht
abgeschlossenen Gerichtsverfahren bedürfen die Überlebenden des Völkermords einer stärkeren Unterstützung
durch die internationale Gemeinschaft. Auch künftig wird die Verurteilung der Verantwortlichen für schwerste
Menschenrechtsverletzungen nur durch Beteiligung der Überlebenden als Zeugen oder Zivilkläger an diesen
Gerichtsverfahren möglich sein. Ein Fonds für internationale Rechtshilfe ist notwendig, um diesen Zeitzeugen
einen verlässlichen Zugang zu Verfahrensberatung, Rechtshilfe und Betreuung zu ermöglichen (z. B. finanzi-
elle Hilfen, Traumaverarbeitung).

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