BT-Drucksache 18/4235

Deutschlands Beitrag zur Unterstützung des Transformationsprozesses in Tunesien

Vom 4. März 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4235
18. Wahlperiode 04.03.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Tom Koenigs, Agnieszka Brugger,
Luise Amtsberg, Katja Keul, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen),
Uwe Kekeritz, Dr. Tobias Lindner, Omid Nouripour, Cem Özdemir, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Jürgen Trittin, Doris Wagner,
Volker Beck (Köln), Ulle Schauws, Markus Tressel und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Deutschlands Beitrag zur Unterstützung des Transformationsprozesses
in Tunesien

Mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung, der Durchführung von Wahlen
und der Übernahme der Regierungsverantwortung durch eine demokratisch le-
gitimierte Koalitionsregierung ist eine wichtige Phase der Transformation Tune-
siens in eine Demokratie formal vorläufig abgeschlossen. Allerdings sind die
Risiken eines teilweisen Rückfalls in undemokratische Verhältnisse mit entspre-
chenden Konsequenzen für die Rechtsstaatlichkeit, für die Menschenrechtslage
sowie eine eingeschränkte Partizipation der Bevölkerung unübersehbar. Die
Situation der Wirtschaft ist dramatisch, die Jugendarbeitslosigkeit hoch, der
Wohlstand ungleich verteilt, Regionen im Landesinneren sind von der Teilhabe
abgeschnitten; die Sicherheit ist – nicht zuletzt durch Bürgerkriege und undemo-
kratische Verhältnisse in den Nachbarstaaten, allen voran in Libyen – gefährdet.
Deutschland und die Europäische Union (EU) haben deshalb größtes Interesse
an der Stabilisierung und Fortentwicklung der tunesischen Demokratie.
Deutschland hat durch die Vereinbarung einer „Transformationspartnerschaft“
versucht, einen Beitrag zu leisten und den zivilgesellschaftlichen Austausch
zu fördern. Deutsche Unternehmen sind mit Investitionen im Umfang von ca.
300 Mio. Euro in Tunesien tätig. Einzelne Projekte für die Zusammenarbeit
zwischen Deutschland und Tunesien, so beim Umbau des Rechtssystems sowie
durch eine „Sicherheitspartnerschaft“, sind öffentlich bekannt. Die deutsche
Entwicklungspolitik hat die Mittel nach der Revolution deutlich erhöht und kon-
zentriert sich auf die Schwerpunkte Entwicklung des ländlichen Raumes und
Beschäftigungsförderung. Zukünftig wird Tunesien auch Teil der neu geschaf-
fenen Initiative „Stabilität und Entwicklung in Nordafrika und Nahost“. Auch
vonseiten der EU sind zahlreiche Einzelmaßnahmen im Gang bzw. geplant. Eine
große Anzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen, nicht nur aus Deutschland
bzw. der EU, sondern auch aus anderen Staaten, ist in Tunesien aktiv.
Ein systematischer, ressortübergreifender Ansatz Deutschlands und der EU zur
aktiven Begleitung Tunesiens beim weiteren Aufbau demokratischer und rechts-
staatlicher Strukturen, zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und zur
Stabilisierung der Sicherheitslage ist allerdings bisher nicht bekannt.

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Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche finanziellen und sonstigen materiellen Beiträge zur Unterstützung

des Transformationsprozesses werden
a) seitens der EU,
b) seitens der Bundesrepublik Deutschland

● aus dem Auswärtigen Amt (AA),
● aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und

Entwicklung (BMZ),
● aus anderen Ministerien,

c) nach Kenntnis der Bundesregierung seitens dritter Staaten,
d) nach Kenntnis der Bundesregierung durch Stiftungen und Nichtregie-

rungsorganisationen
geleistet?

2. Welche staatlichen Kooperationsverträge und -vereinbarungen bestehen zwi-
schen Deutschland und Tunesien im Sicherheitssektor, und welche prakti-
schen Maßnahmen zur Unterstützung des Landes setzt die Bundesrepublik
Deutschland um, insbesondere zur
a) Reform des Sicherheitssektors, z. B. bei der Verwirklichung demokra-

tischer Kontrolle und transparenter, geregelter Verfahren, wie sie für eine
Demokratie unverzichtbar sind sowie zur Einhaltung der Menschenrechte,

b) Ausbildung von Polizei und Grenzschutz,
c) Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Sicherheitskräfte, insbesondere

zur Durchführung der Grenzsicherung und bei der Terrorbekämpfung,
d) Ausbildung der tunesischen Streitkräfte,
e) Ausstattung der tunesischen Streitkräfte mit militärischem Material wie

Nachtsichtgeräten, Minenräumgeräten, Schutzwesten etc.?
3. Wieso zählt Tunesien bei der europäischen Strategie „Syrien und Irak: Stra-

tegie für die Terrorismusbekämpfung und das Vorgehen gegen ausländische
Kämpfer“ zu den Ländern mit der geringsten Priorität (3) (vgl. Ratsdok.
14476/14), obgleich nach einem Bericht der Tageszeitung „The Washington
Post“ vom 28. Oktober 2014 die meisten ausländischen Kämpfer der Terror-
organisation ISIS aus Tunesien stammen?

4. Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, um Investitionen zu
fördern und den Aufbau von Infrastrukturen zu unterstützen, insbesondere
a) zur Schaffung von Arbeitsplätzen in bereits etablierten Bereichen wie

Tourismus, Textilwirtschaft bzw. bei der Modernisierung und Umgestal-
tung dieser Sektoren,

b) bei Maßnahmen zum Erhalt bzw. zur Ausweitung der Beschäftigung im
Landwirtschaftssektor sowie zur Verhinderung von Landkauf durch Groß-
investoren zu Lasten von Familienbetrieben,

c) bei Maßnahmen zur Investitionsförderung und Schaffung von Arbeitsplät-
zen in den wirtschaftlich schwachen Regionen und insbesondere in den
Grenzregionen zu Algerien und Libyen,

d) bei Maßnahmen zur Verbesserung der Energieverteilungsinfrastruktur und
der Entwicklung erneuerbarer Energien,

e) bei Maßnahmen zum Aufbau einer nachhaltigen Wasserversorgung und
zur Verbesserung der Wasser- und Sanitärinfrastruktur,

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4235
f) bei Maßnahmen zur Entwicklung von Alternativen zu umweltschä-
digenden Industrien sowie zur umwelt- und gesundheitsschädlichen
Förderung von Bodenschätzen?

5. Welche Aktivitäten sind im Rahmen der Initiative „Stabilität und Entwick-
lung in Nordafrika und Nahost“ für Tunesien geplant, und welchen finan-
ziellen Beitrag wird das Land dadurch zusätzlich erhalten?

6. Welche Beiträge hat die Bundesregierung geleistet, um die tunesischen Un-
ternehmen beim Aufbau von Logistikketten nach international anerkanntem
deutschem Vorbild zu unterstützen?

7. Welche Schritte hat die Bundesregierung zur gezielten Unterstützung tune-
sischer Exporte in die EU unternommen, z. B. durch ein auf mehrere Jahre
befristetes Sonderprogramm zur Ermöglichung zollfreier Importe von in
Tunesien hergestellten Waren in die EU?

8. Inwieweit fördert oder unterstützt die Bundesregierung die regionale
Zusammenarbeit sowie den Handel zwischen Tunesien und seinen Nach-
barstaaten?

9. Welchen Beitrag will die Bundesregierung leisten, um anhand deutscher Er-
fahrungen Tunesien bei als wichtig erachteten Projekten zu unterstützen,
wie
a) einer Reform des Wettbewerbsrechts bzw. einer Lockerung bestehender

Monopolstrukturen,
b) der Dezentralisierung mit dem Ziel einer größeren Autonomie von Re-

gionen und Kommunen?
10. Inwieweit fördert die Bundesregierung den Umbau der tunesischen Wirt-

schaft hin zu mehr Nachhaltigkeit, was
a) generell die Produktion, die Ressourcenschonung und die Müllvermei-

dung bzw.
b) den Energie- und den Tourismussektor
betrifft?

11. In welcher Form unterstützt die Bundesregierung (ggf. über die EU oder an-
dere multilaterale Institutionen) den Aufbau von demokratischen Strukturen
und den Schutz der Menschenrechte, insbesondere
a) durch eine Zusammenarbeit mit dem demokratisch gewählten tunesi-

schen Parlament,
b) durch Vorhaben im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auf na-

tionaler Ebene und in den einzelnen Regionen,
c) durch Programme im Bereich der Übergangsjustiz, etwa durch Experten-

austausch und Unterstützung der tunesischen Wahrheits- und Würde-
kommission,

d) durch Programme der Deutschen Stiftung für internationale rechtliche
Zusammenarbeit (IRZ),

e) durch zivilgesellschaftliche Kooperation, etwa bei der Beratung der Ge-
setzgebung, dem Umbau der Justizverwaltung und der Einhaltung der
Menschenrechte im Justizvollzug,

f) durch Austauschprogramme zwischen Expertinnen und Experten,
g) durch Beratung und Expertinnen- und Expertenaustausch zur Verwirk-

lichung der geplanten Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen, ins-
besondere beim Aufbau demokratisch kontrollierter kommunaler und
regionaler Verwaltungseinheiten?

Drucksache 18/4235 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
12. Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung,
a) um grundsätzlich sicherzustellen, dass die in der tunesischen Verfassung

verankerten Gleichstellungsparagrafen auch tatsächlich umgesetzt wer-
den,

b) um Tunesien bei der gesetzlich festgelegten landesweiten Schaffung von
Gleichstellungsbeauftragten in öffentlichen Behörden zu beraten und zu
unterstützen,

c) um Bemühungen verschiedener Nichtregierungsorganisationen zur Bil-
dung des in der Verfassung festgelegten „Hohen Justizrats“ zu unter-
stützen und darauf hinzuwirken, dass zum ersten Mal in der Geschichte
Tunesiens Richterinnen in einem hohen Justizgremium vertreten sein
können,

d) um die Regierung darin zu unterstützen, der hohen Arbeitslosigkeit von
Frauen in Tunesien entgegenzuwirken,

e) um das Melde- und Passwesen verbessern zu helfen und Frauen dadurch
eine bessere Teilhabe am demokratischen Prozess (Wahlen) sowie in der
Bildung zu ermöglichen,

f) um Frauen, gerade auf dem Land, bessere Foren und Möglichkeiten ein-
zuräumen, um sich selbstorganisiert über Probleme wie Gewalt gegen-
über Frauen oder Bildungschancen auszutauschen?

13. Welche Projekte und Maßnahmen wurden im Rahmen der Transformations-
partnerschaft mit Tunesien durch staatliche Stellen oder nach Kenntnis der
Bundesregierung private Organisationen aus Deutschland durchgeführt
bzw. ermöglicht?

14. Wie häufig und mithilfe welcher Instrumente koordinieren das AA und das
BMZ ihre Aktivitäten in Tunesien?
Liegt ein gemeinsames Strategiepapier vor?

15. Welche Programme und Planungen verfolgt die Bundesregierung zur
Zusammenarbeit und zum Austausch im Bildungssektor, insbesondere
a) zur Unterstützung Tunesiens beim Umbau der beruflichen Bildung,
b) zur Zusammenarbeit und zum Aufbau von Partnerschaften zwischen

tunesischen Bildungsinstitutionen (Universitäten, Fachhochschulen,
höheren Schulen) mit deutschen Einrichtungen?

16. Wie viele Menschen sind nach Kenntnis der Bundesregierung im Rahmen
staatlicher Vorhaben aus Deutschland in Projekten der zivilen Krisenprä-
vention in Tunesien tätig?

17. Beabsichtigt die Bundesregierung, ein ressortübergreifendes und mit der
neuen tunesischen Regierung, den Zivilgesellschaften beider Länder und
mit den Maßnahmen anderer Akteure, insbesondere der EU, abgestimmtes
Konzept zur Unterstützung und Stabilisierung des Transformationsprozes-
ses in Tunesien zu entwickeln und öffentlich zu diskutieren?
Wenn nein, warum nicht?

18. Welche Schritte unternimmt die Bundesregierung zur Sicherung einer wis-
senschaftlichen Evaluierung ihrer Maßnahmen zur zivilen Krisenprävention
in Tunesien?

19. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Stand der Verhandlungen
zwischen der EU und Tunesien für ein Visaerleichterungsabkommen, und
über welche konkreten Schritte der Visaliberalisierung wird verhandelt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/4235
20. Befürwortet die Bundesregierung ein baldiges Zustandekommen eines Ab-
kommens zwischen der EU und Tunesien für weitgehende Erleichterungen
bei der Visavergabe für Tunesierinnen und Tunesier?
a) Wenn ja, wie und in welcher Form setzt sie sich konkret dafür ein?
b) Wenn nein, mit welcher Begründung?

21. Welche konkreten Projekte wurden bisher im Rahmen der EU-Mobilitäts-
partnerschaft mit Tunesien umgesetzt, und in welcher Form beteiligt sich
Deutschland daran?

22. Was ist nach Kenntnis der Bundesregierung das konkrete Verhandlungsziel
bei den Verhandlungen der EU und Tunesien zu einem Rückübernahme-
abkommen (Ratsdok. 12332/14), und welche Personengruppen sollen im
Rahmen dieses Abkommens rückübernommen werden (bitte ausführen)?

23. Verfügt Tunesien nach Kenntnis der Bundesregierung über ein Flüchtlings-
gesetz, das die Rechte von Flüchtlingen gemäß der Genfer Flüchtlings-
konvention in Tunesien flächendeckend gewährleistet?
Wenn nein, mit welcher Begründung führt die EU dennoch Verhandlungen
über die Rückübernahme?

24. Mit welchen Maßnahmen unterstützen Deutschland und die EU nach
Kenntnis der Bundesregierung den Aufbau eines Asylsystems in Tunesien
(bitte einzeln auflisten)?

Berlin, den 3. März 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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