BT-Drucksache 18/3728

Bildungsverantwortung gemeinsam wahrnehmen - Konsequenzen aus dem Bildungsbericht ziehen

Vom 13. Januar 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3728
18. Wahlperiode 13.01.2015
Antrag
der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann
(Zwickau), Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke, Katja Kipping, Caren Lay, Ralph
Lenkert, Cornelia Möhring, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland),
Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Bildungsverantwortung gemeinsam wahrnehmen – Konsequenzen aus dem
Bildungsbericht ziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Jeder Mensch soll die Möglichkeit haben, seine Persönlichkeit frei entfalten zu kön-
nen. Umfassende Bildungsteilhabe gehört unbedingt dazu. Darum darf keinem Men-
schen der Zugang zu guter Bildung verwehrt bleiben. Den umfassenden Zugang zu
Bildung zu sichern und die notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bil-
dungsteilnahme zu schaffen sind zentrale gesellschaftliche Aufgaben in öffentlicher
Verantwortung.

Der fünfte Bildungsbericht gibt erneut detaillierte Auskunft über die Erfolge und die
Defizite des bundesdeutschen Bildungssystems. In ihm wird kritisch darauf verwie-
sen, dass es nur leichte Fortschritte gegenüber früheren Berichten gibt und nach wie
vor dringende Handlungsbedarfe bestehen.

Die Autoren mahnen an, dass immer noch drei von zehn Kindern in mindestens einer
Risikolage aufwachsen. Ihr Anteil hat sich in sieben Jahren nur um 3,3 Prozent ver-
ringert.

Zwar habe die Zahl der Kindertageseinrichtungen zugenommen, aber die Zahl der
allgemeinbildenden Schulen sei im gleichen Zeitraum um 19 Prozent gesunken. Da-
mit ist ein wohnortnahes Schulangebot außerhalb der Ballungsräume – insbesondere
im Grundschulbereich – vielerorts nicht mehr zu sichern.

Die Zahl der Absolventen ohne Schulabschluss betrage immer noch im Bundes-
durchschnitt fast 6 Prozent. Sie weisen kritisch darauf hin, dass nur ein Viertel von
ihnen den Übergang in eine berufliche Ausbildung schafft. Die Autoren kritisieren,
dass im Förderschulsystem der meisten Bundesländer kein formaler Schulabschluss
vorgesehen ist.

Gleichzeitig stellen sie einen deutlichen Trend zu höheren Schulabschlüssen fest.

Die Autoren stellen fest, dass der Hochschulzugang nach wie vor von der sozialen
Herkunft der Studienberechtigten abhängt. Obwohl die Zahl des Lehrpersonals sich

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erhöht hat, stagniert der Betreuungsschlüssel an Hochschulen insgesamt. Der er-
höhte Lehrbedarf werde vor allem durch die Ausweitung des befristet eingestellten
Personals und durch drittmittelbeschäftigtes Personal bedient. Lehrpersonal wird
also verstärkt prekär beschäftigt. Der Betreuungsschlüssel an Universitäten ver-
schlechtert sich seit 2010. Studierende mit Beeinträchtigungen haben nach wie vor
schlechtere Chancen, ein Studium zu beenden, da die Hochschulen die benötigten
Unterstützungsbedarfe nicht erfüllen können.

Sie kritisieren darüber hinaus unter anderem,
dass die großen sozialen Disparitäten im Kompetenzerwerb nur teilweise abge-

baut werden,
die Verlängerung individueller Bildungswege, weil höher qualifizierte Ab-

schlüsse erst an beruflichen Schulen erworben werden,
den erheblichen Umfang von Schulartwechseln, wobei weit mehr Schülerinnen

und Schüler das Gymnasium verlassen als zu ihm wechseln und das mit steigen-
der Tendenz,

dass die Ausdifferenzierung der Schulformen in den Ländern einer Vereinheit-
lichung der Schulstrukturen entgegenwirkt,

dass die Abstimmung zwischen den Bildungsbereichen nicht ausreicht, so dass
übergreifende Bildungskonzepte nicht angemessen gestaltet werden können,

den unverändert hohen Personalersatzbedarf im Schulbereich, wobei keine Aus-
sagen zu nicht lehrendem Personal gemacht werden können,

die unverändert schwierige Lage in der Berufsausbildung,
die nach wie vor hohe Ausgrenzung von Lernenden mit Zuwanderungshinter-

grund,
die hohe Spreizung bei der Umsetzung von inklusiver Bildung sowohl zwischen

den einzelnen Bildungsbereichen – wobei die Inklusionsquote mit wachsendem
Bildungsalter erheblich abnimmt – als auch den unterschiedlichen Grad der Um-
setzung inklusiver Bildung in den einzelnen Bundesländern.

Diese und vielfältige weitere Kritikpunkte und Anregungen sind Grund genug, über
die Strategien von Bund und Ländern bei der Sicherung gleichwertiger Bildungsan-
gebote in hoher Qualität in allen Bildungsstufen neu nachzudenken.

Mit der Stellungnahme zum Bildungsbericht 2014 wird die Bundesregierung dieser
Herausforderung nicht gerecht. Vielmehr überhöht sie die mageren Erfolge und re-
flektiert die kritischen Anmerkungen kaum. Die von ihr angekündigten Maßnahmen
sind nicht ausreichend, eine Trendwende bei den wichtigsten bildungspolitischen
Problemfeldern in allen Bildungsbereichen herbeizuführen. Vielmehr verharrt sie in
alten Mustern und Vorhaben, die lediglich weiterentwickelt werden sollen (z. B. Bil-
dungsketten, Transferinitiative Kommunales Bildungsmanagement). Die Finanzaus-
stattung des gesamten Bildungssystems bleibt defizitär. Zwar wird auf zahlreiche
wissenschaftliche Studien und Forschungen verwiesen, doch bleibt offen, welche
Konsequenzen daraus gezogen werden müssen. Zu den Effekten der zahlreichen
Programme der vergangenen Jahre werden gar keine Aussagen gemacht. Zum
Schwerpunktthema des Bildungsberichtes, Inklusion, finden sich bislang nur Ab-
sichtserklärungen, endlich die Forschung zum Gegenstand in Auftrag zu geben. Das
ist fünf Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention entschieden
zu wenig. Andere wichtige Probleme bildungspolitischer Entwicklungen bleiben
wegen vermeintlich oder tatsächlich fehlender Bundeskompetenz ausgeblendet.

Ende des vergangenen Jahres haben Bund und Länder darauf verzichtet, das Grund-
gesetz auch für die Zusammenarbeit im Bereich der (schulischen) Bildung wieder zu
öffnen. Damit wurde eine Chance zu besserer Bildungszusammenarbeit vertan.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3728
Aufgrund fehlender Zuständigkeit muss sich der Bund darum zum Beispiel im Be-
reich der schulischen Bildung auf Programme für die außerschulische Bildung be-
schränken. Damit können aber die großen Defizite gerade im Bereich der schuli-
schen Bildung (soziale Segregation, erfolgreicher Schulabschluss, Kompetenzni-
veau) nicht behoben werden. Vielmehr vergrößert sich die Gefahr, dass Bildungs-
aufgaben zunehmend aus der Schule heraus in außerschulische Bereiche und private
Verantwortung verlegt werden und die Arbeit in den öffentlichen Schulen zuneh-
mend entwertet wird. Auch die Programme zur Berufsorientierung und Programme
zum Übergang von der Schule in den Beruf können daran nichts ändern. Ebenso
kann und will der Bund für die Beseitigung des Fachkräftemangels im Bereich von
Bildung, Erziehung und Pflege bislang über Weiterbildungsangebote hinaus nicht
tätig werden.

Die staatliche Verantwortung für den gesamten Bildungsbereich liegt bei Bund und
Ländern. Nur im Zusammenwirken wird es gelingen, den Herausforderungen, die
mit dem Bildungsbericht an die Politik herangetragen wurden, gerecht zu werden.
Dieser gemeinsamen Verantwortung dürfen sich weder der Bund noch die Länder
entziehen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Rahmen der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Län-
dern sicherzustellen, dass Länder und Kommunen ihren verfassungsrechtlichen
Aufgaben in allen Bildungsbereichen in vollem Umfange nachkommen können;

2. den Ganztagsanspruch auf frühkindliche Bildung und Qualitätsstandards für die
frühkindliche Bildung in einem Kitaqualitätsgesetz gesetzlich festzuschreiben.
Das Betreuungsgeld als kontraproduktives Instrument ist abzuschaffen;

3. die Kultusministerkonferenz zu ermuntern, die strukturellen und inhaltlichen
Rahmenbedingungen schulischer Bildung in den Ländern so zu gestalten, dass
die Vergleichbarkeit und Durchlässigkeit der Bildungswege für junge Menschen
unabhängig von der jeweiligen Schulform und dem jeweiligen Bundesland ge-
währleistet wird. Einmal begonnene Bildungswege müssen ohne Umwege auch
in einem anderen Bundesland fortgesetzt werden können;

4. die untergesetzlichen Möglichkeiten des Bundes in Zusammenarbeit mit den
Ländern zu nutzen, um die Rahmenbedingungen für Bildungsarbeit in den Schu-
len zu verbessern. Dazu gehört u. a. der Ausbau von Ganztagsschulen;

5. einen Gesetzentwurf vorzulegen, um Schulsozialarbeit als eigenständige Auf-
gabe im SGB VIII zu verankern. Schulsozialarbeit benötigt eine gute Vernet-
zung in den Sozialraum mit den vielfältigen außerschulischen Angeboten der
Kinder- und Jugendhilfe sowie eine fachliche Anbindung und Vernetzung mit
den Jugendämtern;

6. initiativ zu werden, um die Rechtsansprüche für die Umsetzung inklusiver Bil-
dung in allen Bildungsbereichen, die jetzt in unterschiedlichen Sozialgesetzbü-
chern verankert sind, zu harmonisieren und in einer gesetzlichen Vorschrift zu-
sammenzuführen;

7. gemeinsam mit den Ländern Kriterien für inklusive Bildung bezüglich der räum-
lichen, sächlichen und personellen Voraussetzungen zu entwickeln;

8. zügig ein Bundesprogramm nach dem Vorbild der Weiterbildungsinitiative
Frühpädagogische Fachkräfte (WIFF) zu entwickeln, in dem pädagogische
Fachkräfte, Lehrkräfte, Ausbilderinnen und Ausbilder die Erfordernisse und
Möglichkeiten inklusiver Bildung kennenlernen können und Unterstützung er-
halten;
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/3728 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
9. gemeinsam mit den Ländern nach dem Muster des Hochschulpaktes ein Son-

derprogramm für die Ausbildung von zusätzlichen Lehrkräften sowie von Er-
zieherinnen und Erziehern aufzulegen;

10. Umschulungen in dreijährigen Berufsausbildungen des Gesundheits-, Erzie-
hungs- und Pflegebereiches wieder drei Jahre zu fördern;

11. einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem ein Rechtsanspruch auf eine berufli-
che Ausbildung, die zu einem anerkannten Berufsabschluss führt, verankert
wird;

12. in Zusammenarbeit mit den Kammern die Möglichkeiten von Verbundausbil-
dungen und überbetrieblichen Ausbildungen auszubauen, um vor allem kleine
Unternehmen zu unterstützen, die sich an Ausbildung beteiligen wollen;

13. gesetzgeberisch initiativ zu werden, um die BAföG-Sätze und die Freibeträge
umgehend um 10 Prozent zu erhöhen, damit der Anteil Studierender aus finan-
ziell schlechter gestellten Familien vergrößert werden kann;

14. im Rahmen der Kooperation mit den Ländern im Hochschulbereich ausreichend
Masterstudienplätze zu sichern, so dass Studierende, die es möchten, zeitnah
nach dem erfolgreichen Bachelorabschluss ein Masterstudium beginnen kön-
nen;

15. die Ausfinanzierung der Hochschulen zu gewährleisten, gerade im Hinblick auf
Anzahl und Qualität der benötigten Studienplätze, die Bedarfe benachteiligter
Studierender sowie die Verbesserung des Betreuungsschlüssels und die Qualität
der Betreuung;

16. die Wirksamkeit und die Effekte der zahlreichen Programme des Bundes in der
außerschulischen Bildung, der Berufsorientierung und beruflichen Bildung zu
analysieren und die Ergebnisse dem Deutschen Bundestag vorzulegen;

17. den Dialog mit den Ländern für eine Grundgesetzänderung im Bildungsbereich
zu führen und zeitnah einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.

Berlin, den 13. Januar 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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