BT-Drucksache 18/3549

Gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV

Vom 17. Dezember 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3549
18. Wahlperiode 17.12.2014
Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Kerstin Kassner,
Cornelia Möhring, Harald Petzold (Havelland), Azize Tank, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich, Pia Zimmermann und der
Fraktion DIE LINKE.

Gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Seit dem 1. Januar 2005 ist Hartz IV geltendes Recht. Nach zehn Jahren Erfah-
rung mit dem Gesetz ist es Zeit für eine kritische Bilanz und eine grundlegende
politische Neuausrichtung. Mit Hartz IV – der Einführung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB II) – wurde als zentrale Maßnahme die Arbeitslosen-
hilfe abgeschafft. Parallel wurde im Rahmen der Hartz-Reformen die Leistungs-
dauer für das Arbeitslosengeld massiv verkürzt. Die Sicherung gegen das soziale
Risiko Erwerbslosigkeit wurde weitgehend an die nunmehr in Arbeitslosengeld
II umbenannte Fürsorge delegiert. Fürsorge bedeutet: weniger als das Existenz-
minimum statt Lebensstandardsicherung, Bedarfsgemeinschaft und Bedürftig-
keitsprüfung statt individueller Ansprüche, sukzessive Abschaffung der Bei-
träge zur Rentenversicherung und damit garantierte Altersarmut, „Ein-Euro-
Jobs“ und kurzfristige Maßnahmen statt öffentlicher Beschäftigung und nach-
haltiger Ausbildung und Qualifizierung sowie verschärfte Zumutbarkeitsregeln
und Sanktionen. Armut, Ausgrenzung und ein Sonderrechtssystem sind die
Kennzeichen der Hartz-IV-Reform. Für mehr als 6 Millionen Menschen ist ak-
tuell das Fürsorgesystem Hartz IV die zentrale Institution zur sozialen Siche-
rung.

2. Hartz IV liegt der sog. Aktivierungsansatz zu Grunde. Demnach seien nicht das
kapitalistische Wirtschaftssystem und die neoliberale Wirtschafts- und Arbeits-
marktpolitik für die Massenerwerbslosigkeit verantwortlich, sondern die man-
gelnde Motivation der Erwerbslosen. Unter dem Motto „Fördern und Fordern“
werden die Opfer des Arbeitsmarktes zu den Schuldigen der Arbeitsmarktkrise
umgedeutet. Soziale Sicherheit gilt in dem neoliberalen Aktivierungsdenken als
Fehlanreiz für die Aufnahme einer Beschäftigung. „Wir werden Leistungen des
Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem
Einzelnen abfordern müssen“, so kündigte der damalige Bundeskanzler Gerhard
Schröder in seiner Agenda 2010 die Grundlinien der Reform an (Plenarprotokoll
15/32). Das eigentliche Ziel der Hartz-Reformen war die Durchsetzung und
Ausweitung des Niedriglohnsektors. Dies teilte der frühere Bundeskanzler

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Gerhard Schröder 2005 in Davos in aller Offenheit mit: „Wir haben einen funk-
tionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstüt-
zungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vorder-
grund gestellt.“

3. Die Hartz-IV-Reform genügt weder den normativen Ansprüchen an eine grund-
rechtlich fundierte soziale Absicherung noch ist sie in Bezug auf die selbst for-
mulierten Ziele (Bundestagsdrucksache 15/1516, S. 44) als erfolgreich einzu-
schätzen. Beispielhaft seien zu den beiden Hauptzielen – bessere Vermittlung
und materielle Sicherung – die wichtigsten Aspekte aufgeführt (für empirische
Belege u. a.: Christoph Butterwegge: Hartz IV und die Folgen, Auf dem Weg in
einen andere Republik?, Weinheim und Basel 2015; Klaus Dörre: Das deutsche
Jobwunder, Vorbild für Europa? Brüssel 2014; Klaus Dörre u. a.: Bewährungs-
proben für die Unterschicht. Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik,
Frankfurt a. M. / New York 2013; Matthias Knuth: Rosige Zeiten am Arbeits-
markt. Strukturreformen und „Beschäftigungswunder“, Berlin 2014; Daten nach
der BA Statistik).
a) In zeitlicher Perspektive ist nach der Einführung der Hartz-Reformen zwar

die Anzahl der Erwerbstätigen angestiegen und die offizielle Zahl der Er-
werbslosen gesunken. Mehr Beschäftigung wurde aber nicht geschaffen.
Das Gesamtvolumen der Arbeitsstunden ist im Vergleich zum Jahr 2000
nahezu konstant geblieben. Gewachsen sind dagegen der Niedriglohnsektor
– 1,3 Mio. Menschen müssen trotz Erwerbsarbeit zusätzlich Hartz-IV-Leis-
tungen beantragen, um ihre Existenz zu sichern – und die Anzahl der pre-
kären Beschäftigungsverhältnisse wie Teilzeitbeschäftigung (insbesondere
Minijobs), Leiharbeit und (prekäre) Selbstständigkeit. Soweit nach 2005 be-
schäftigungspolitische Zuwächse zu verzeichnen sind, sind diese auf die
gute Konjunktur in Deutschland und Maßnahmen der betriebsinternen Fle-
xibilität zur Abfederung der Finanzmarktkrise 2008/09 zurückzuführen und
nicht auf die arbeitsmarktpolitischen Strukturreformen.

b) Durch das Hartz-IV-System werden Erwerbslose nicht schneller in Er-
werbsarbeit vermittelt. Fast 80 % aller erwerbsfähigen Leistungsberechtig-
ten sind nach offiziellen Angaben der Bundesagentur für Arbeit länger als
ein Jahr im Leistungsbezug. Fast die Hälfte aller erwerbsfähigen Leistungs-
berechtigten ist bereits länger als 4 Jahre im SGB-II-Leistungsbezug. Die
Ergebnisse unter Hartz IV haben sich gegenüber den so heftig kritisierten
Vorgängersystemen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verschlechtert statt
verbessert. Der Abgang in Existenz sichernde Erwerbsarbeit ist die Aus-
nahme. Von einer nachhaltigen Integration ist nichts zu spüren. Vielmehr
ist ein Drehtüreffekt zu erkennen. Die Hälfte aller Neuzugänge ins Hartz-
IV-System war bereits im Vorjahr hilfebedürftig. Ein Viertel aller Abgänge
kehrt bereits nach drei Monaten wieder in den Leistungsbezug zurück. Die-
ses schlechte Ergebnis hängt mit dem finanziellen Kahlschlag bei der Ar-
beitsförderung und der Konzentration auf schnelle Vermittlung sowie kurz-
fristig ausgerichteten, billigen Maßnahmen statt Vermittlung in gute Arbeit
und nachhaltigen Qualifikationen zusammen.

c) Von einer ausreichenden materiellen Sicherung bei Arbeitslosigkeit kann
keine Rede sein. Arbeitslosengeld bekommt nur noch eine Minderheit der
Erwerbslosen. Jede/r vierte neu Erwerbslose landet direkt im Hartz-IV-Sys-
tem. Die Regelleistungen bei Hartz IV sind politisch kleingerechnet worden,
damit keine zusätzlichen Kosten und keine arbeitsmarktpolitischen „Fehl-
anreize“ entstehen. In einer aktuellen Entscheidung dokumentiert das Bun-
desverfassungsgericht, wie die Leistungen kleingerechnet wurden. Das
Bundesverfassungsgericht führt aus, dass beispielsweise bei Alleinstehen-
den 132 Euro der Konsumausgaben der Referenzgruppe als nicht regelsatz-

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relevant anerkannt wurden; damit wurden lediglich 75 % der Konsumaus-
gaben anerkannt. Das Bundesverfassungsgericht bewertet dieses Vorgehen
wie folgt: „Wenn in diesem Umfang herausgerechnet wird, kommt der Ge-
setzgeber jedoch an die Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzmi-
nimums verfassungsrechtlich gefordert ist“ (BVerfG, Beschluss vom 23.
Juli 2014 – 1 BvL 10/12, Rn. 121). Expertisen der Armutsforscherin Irene
Becker zeigen, dass bei einer aus ihrer Perspektive sachgerechten Umset-
zung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar
2010 (BVerfG, 1BvL1/09) der Regelbedarf 2014 bei 424 Euro statt 391
Euro liegen müsste. Bei einer sachgerechten und vollständigen Anwendung
des sog. Statistikmodells müsste der Regelbedarf bei mindestens 500 Euro
liegen. Hartz IV ist nicht armutsfest. Dies steht auch im Widerspruch zu
Entschließungen des Europäischen Parlaments, wonach „ein angemessenes
Mindesteinkommen bei mindestens 60 % des Medianeinkommens des je-
weiligen Mitgliedstaats liegen muss“ (Entschließung des Europäischen Par-
laments vom 20. Oktober 2010 über die Bedeutung des Mindesteinkom-
mens für die Bekämpfung der Armut und die Förderung einer integrativen
Gesellschaft in Europa (2010/2039(INI), Rz. 15), bzw. „oberhalb der Ar-
mutsgefährdetheitsschwelle“ liegen sollen (Entschließung des Europäi-
schen Parlaments vom 9. Oktober 2008 über die Förderung der sozialen In-
tegration und die Bekämpfung der Armut, einschließlich der Kinderarmut,
in der EU (2008/2034(INI), Rz. 8 und 12). Die Armutsquote unter Erwerbs-
losen hat massiv zugenommen. Nach den Angaben der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe (EVS) waren 2008 fast drei Viertel aller Erwerbslo-
sen als arm einzustufen. 2003 war es noch etwa die Hälfte der Erwerbslosen.
Besonders dramatisch: Armut verfestigt sich. Der Sozialstaat in Deutsch-
land wurde also durch die Reformen nicht wie angekündigt zu einem
„Trampolin“, sondern zu einer Sackgasse. Wer einmal arm ist, wird abge-
hängt. Soziale Mobilität ist zurückgegangen, soziale Aufstiege sind seltener
geworden. Die unzureichenden Teilhabechancen durch Hartz IV manifes-
tieren sich auch im Gesundheitszustand. Mehr als 40 Prozent der Hartz-IV-
Beziehenden weisen nach eigener Einschätzung schwerwiegende gesund-
heitliche Einschränkungen auf. Der schlechte Gesundheitszustand begrün-
det sich dabei vor allem durch die soziale Situation selbst und kann nur zu
einem kleinen Teil durch gesundheitsbezogenes Verhalten erklärt werden
(IAB Kurzbericht 23/2014).

d) Hartz IV ist das Gegenteil von einer effizienten und bürgerfreundlichen
Verwaltung. Von der Schwächung der Rechtsposition der Leistungsberech-
tigten (Beispiele: nahezu vollständige Umsetzung des Prinzips „jede Arbeit
ist zumutbar“ (§ 10 SGB II) oder Einschränkung der aufschiebenden Wir-
kung von Widersprüchen und Klagen (§ 39 SGB II) über aufgenötigte Ein-
gliederungsvereinbarungen und sinnlose Maßnahmen bis hin zur allgegen-
wärtigen Sanktionsdrohung reicht die Palette der Instrumente zur Maßrege-
lung der Hilfe bedürftigen Bürgerinnen und Bürger. Das Steuerungssystem
im SGB II ist über die Zielvereinbarungen und haushaltspolitische Vorga-
ben auf die Begrenzung von Leistungsansprüchen und auf schnelle Vermitt-
lung ausgerichtet und nicht auf die Erkennung und Sicherstellung der
Rechtsansprüche sowie nachhaltige soziale Stabilisierung und berufliches
Weiterkommen. Selbst die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidungen
ist nicht generell gewährleistet. Von den Beratungsstellen werden regelmä-
ßig Probleme bei der Durchsetzung von Leistungsansprüchen berichtet. Für
September 2014 wird von der Bundesagentur für Arbeit ein Bestand von
etwa 190.000 Widersprüchen und knapp über 200.000 Klagen gegen Be-
scheide der Jobcenter angegeben. Einem erheblichen Teil der Klagen wird
teilweise oder vollständig stattgegeben (4 von 10 Klagen).

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4. Die schwarz-rote Regierungskoalition ignoriert ausweislich ihres Koalitionsver-

trags die grundlegenden Mängel des Hartz-IV-Systems: Eine Anhebung der Re-
gelsätze ist ebenso wenig eine Erwähnung wert wie die Überprüfung der Be-
darfsgemeinschaftskonstruktion oder der Zumutbarkeitskriterien. Die Absicht,
im Vorjahr nicht verausgabte Gelder in Höhe von 350 Mio. Euro der Arbeits-
förderung zur Verfügung zu stellen, ist angesichts des Kahlschlags bei der Ar-
beitsförderung ein Tropfen auf den heißen Stein. Die jüngst von der Bundesmi-
nisterin Andrea Nahles vorgestellten Ideen zur Bekämpfung der Langzeiter-
werbslosigkeit (Bundestagsausschussdrucksache 18(11)234) sind angesichts
fehlender finanzieller Unterfütterung unzureichend. Bei der grundsätzlich zu be-
grüßenden Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns werden ausgerechnet
Langzeiterwerbslose für eine Dauer von 6 Monaten von dem Mindestlohn aus-
genommen. Angekündigt wird in der Koalitionsvereinbarung die evtl. Umset-
zung der Ergebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des
Leistungsrechts im SGB II. Für die Regierungskoalition steht damit die mög-
lichst reibungslose administrative Umsetzung des Hartz-IV-Systems als Prob-
lem auf der Agenda, nicht aber die Korrektur des Systems selbst. Die Vorschläge
der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vom 2. Juli 2014 beinhalten teilweise wiede-
rum Einschränkungen und Verschlechterungen für die Betroffenen. Allerdings
sind die Vorschläge zur Abschwächung des Sanktionsrechts – und hier insbe-
sondere die Abschaffung des Sanktionssonderrechts für junge Erwachsene und
der Ausschluss der Kürzung der Kosten der Unterkunft und Heizung– ausdrück-
lich zu begrüßen, wenn auch nicht ausreichend.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen und weitere Maßnahmen zu ergreifen, um noch in-
nerhalb der laufenden Legislaturperiode die Voraussetzungen für einen grundlegen-
den politischen Kurswechsel zu einer Politik der Armutsbekämpfung, der Gewähr-
leistung des soziokulturellen Existenzminimums sowie der Förderung guter Arbeit
und sozialer Sicherheit zu schaffen. Dabei sind die folgenden Grundsätze zu beach-
ten:
1. Mit einer politischen Strategie wird Erwerbslosigkeit, Dumping- und Niedrig-

löhnen und der Ausweitung von prekärer Beschäftigung entgegengetreten und
Existenz sichernde und sozial abgesicherte gute Arbeit gefördert. In einem ers-
ten Schritt sind in der Arbeitsmarktpolitik folgende Maßnahmen umzusetzen:
Der gesetzliche Mindestlohn wird auf 10 Euro angehoben, da unterhalb die-

ser Höhe eine Existenzsicherung nicht gewährleistet ist; Ausnahmen wie für
junge Menschen und Langzeiterwerbslose werden abgeschafft; höhere ta-
rifliche Mindestlöhne werden in den betreffenden Branchen für allgemein-
verbindlich erklärt.

Gute Erwerbsarbeit wird wieder zur zentralen Norm der Arbeitspolitik, d. h.
die Durchsetzung von gut bezahlter, sozial abgesicherter und unbefristeter
(reduzierter) Vollzeitarbeit wird zur Richtschnur der Politik von Regierung
und Arbeitsverwaltung.

Der Schutz durch die Arbeitslosenversicherung wird nachhaltig verbessert,
indem der Zugang zum Arbeitslosengeld I durch die Ausweitung der Rah-
menfrist von zwei auf drei Jahre erweitert und die Dauer des Arbeitslosen-
geldanspruches verbessert wird, indem für jedes Jahr Beitragszahlung ein
Anspruch auf einen Monat Arbeitslosengeld entsteht. Für Erwerbslose unter
55 Jahren beträgt die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I mindestens zwölf
Monate, für Menschen mit Behinderungen und über 55 Jahre mindestens 24
Monate und für Menschen über 60 Jahre mindestens 30 Monate. Die Sperr-
zeiten werden abgeschafft. Es wird bei Bedarf ein Mindestarbeitslosengeld

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/3549

in Höhe der SGB-II-Leistungen eingeführt, damit ein ergänzender Hartz-
IV-Leistungsbezug und Verwaltungsaufwand auf allen Seiten vermieden
wird; die Erhöhung des Arbeitslosengeldanspruchs auf das Grundsiche-
rungsniveau wird vom Bundeshaushalt über Steuern finanziert.

Die Vermittlung in Erwerbsarbeit ist Aufgabe der öffentlichen Arbeitsver-
waltung, die durch fachlich gut qualifiziertes und festangestelltes Personal
erfolgt. Eine Vermittlung erfolgt nur in Beschäftigung, die den Standards
guter Arbeit genügt. Eine Vermittlung in Arbeit unterhalb des gesetzlichen
Mindestlohns wird ausgeschlossen.

Für alle Erwerbslosen bzw. Arbeitsuchenden ist der Zugang zu arbeits-
marktpolitischen Integrationsleistungen herzustellen, deren Teilnahme auf
Freiwilligkeit beruht. Qualifikations- und Weiterbildungsmaßnahmen sind
als Instrumente wieder stärker zu nutzen.

Es wird ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor in der Größenord-
nung von 200.000 Stellen geschaffen. Statt Ein-Euro-Jobs werden in dem
öffentlich geförderten Beschäftigungssektor sozialversicherungspflichtige,
tariflich bezahlte Arbeitsverhältnisse angeboten. Es wird mindestens ein
Mindestlohn von 10 Euro gezahlt.

2. Das Hartz-IV-System muss weg. Stattdessen soll mittelfristig eine bedarfsde-
ckende, sanktionsfreie Mindestsicherung eingeführt werden. Unter 1.050 Euro
netto im Monat droht Armut. Mit der Mindestsicherung muss die Verarmung
und Entwürdigung von allen Erwerbslosen und Menschen mit geringem Ein-
kommen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, beendet werden. Bis zur
Verabschiedung eines Bundesteilhabegesetzes müssen Mehrbedarfe, die sich
aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben, z. B. für Menschen mit Be-
hinderungen oder chronischen Erkrankungen, die über die Leistungen des SGB
V bis XI hinausgehen, gewährt werden. Die Höhe der Mindestsicherung orien-
tiert sich an der jeweiligen Armutsrisikogrenze und wird durch Warenkorberhe-
bungen überprüft. Einen Rechtsanspruch auf die Mindestsicherung haben alle
Menschen, die über kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügen,
um ihren soziokulturellen Mindestbedarf zu decken und die in der Bundesrepub-
lik Deutschland leben. Das diskriminierende Sondersystem Asylbewerberleis-
tungsgesetz wird abgeschafft.

Nachfolgende Leistungen müssen als maßgebliche Schritte zur individuellen,
sanktionsfreien Mindestsicherung gewährleistet werden:
Eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums ist grund-

sätzlich auszuschließen. Die Sanktionsparagrafen im Zweiten Buch Sozial-
gesetzbuch sind daher ersatzlos zu streichen. Ebenso ist eine Unterschrei-
tung des Existenzminimums durch eine Aufrechnung während des SGB-II-
Leistungsbezugs auszuschließen.

Das Arbeitslosengeld II ist kurzfristig für alle Erwachsenen im Leistungs-
bezug auf mindestens 500 Euro pro Monat festzulegen. Die Regelleistung
ist jährlich zumindest in dem Maße anzuheben, wie die Lebenshaltungskos-
ten steigen.

Die rechtliche Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft ist abzuschaffen, um
die ökonomische Abhängigkeit und Entwürdigung von Erwerbslosen und
Menschen mit geringem Einkommen sowie deren Familienmitgliedern zu
beenden. Es wird sich am Individualprinzip orientiert, d. h. jeder bedürftige
Mensch hat einen eigenen Anspruch unter Berücksichtigung der Unterhalts-
verpflichtungen nach dem BGB.

Die Sonderregeln für die Gruppe der jungen Erwachsenen bis 25 Jahre (ins-
besondere Vorbehalt der Auszugsgenehmigung, reduzierte Regelleistung)

Drucksache 18/3549 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

sind abzuschaffen; der Status als erwachsene Person mit eigenständigen so-
zialen Rechten ist ab der Volljährigkeit anzuerkennen.

Angemessene Wohnkosten sind zu ersetzen (Maßstab Mietkosten: Mittel-
wert der ortsüblichen Vergleichsmiete; Bruttowarmmiete, d. h. ein wechsel-
seitiger Ausgleich von Kaltmiete, Heiz- und Nebenkosten ist bei Über-
schreitung der Angemessenheitsgrenze möglich). Heizkosten sind in Höhe
der tatsächlichen Aufwendungen zu finanzieren. Ein Umzug ist unzumut-
bar, wenn er eine soziale Härte darstellt oder die zuständige Stelle keine
angemessene Ersatzwohnung nachweisen kann. Grundsätzlich gilt eine
Übergangsfrist von einem Jahr, damit die Hilfeberechtigten im ersten Jahr
des Leistungsbezugs ihre Bemühungen vollständig auf die Überwindung
der Hilfebedürftigkeit konzentrieren können. Die Kosten der Unterkunft
und Heizung sind auch nach nicht genehmigten Umzügen im Rahmen der
Angemessenheitsgrenzen zu finanzieren. Die Entstehung von Wohnungslo-
sigkeit ist ebenso wie Stromsperren durch die Energieversorgungsunterneh-
men durch geeignete Maßnahmen grundsätzlich zu verhindern.

Bei den Verhandlungen über die bis 2019 anstehende Neuordnung der Fi-
nanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Ländern muss eine Regelung
gefunden werden, wonach der Bund den Ländern die Nettoausgaben, die
den zuständigen Trägern für die Kosten der Unterkunft entstehen, komplett
erstattet. Kurzfristig muss die Beteiligung des Bundes an den Kosten der
Unterkunft und Heizung nach § 22 Absatz 1 SGB II deutlich erhöht werden,
um die Kommunen zu entlasten, bis im Wege der Neuordnung der Finanz-
beziehungen zwischen dem Bund und den Ländern eine neue Regelung in
Kraft tritt.

Die Beiträge zu den Sozialversicherungssystemen für Leistungsbeziehende
sind deutlich anzuheben. Der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung
muss spürbar angehoben werden, damit mit dem SGB-II-Leistungsbezug
keine Altersarmut programmiert ist. Die Beiträge zu den gesetzlichen Kran-
kenkassen müssen für das Gesundheitssystem kostendeckend sein.

Nachweisbare Sonderbedarfe werden zusätzlich übernommen. Insbeson-
dere wird ein Sonderbedarf zur Finanzierung langlebiger Konsumgüter wie
beispielsweise für Waschmaschinen und Kühlschränke oder Brillen einge-
führt. Die bisherigen Anteilssätze für Mehrbedarfszuschläge gelten bis auf
weiteres fort.

Mehrbedarfe, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben,
werden soweit und solange sie nicht von anderen Leistungssystemen ge-
deckt werden, übernommen.

Die allgemeinen Vermögensfreigrenzen sind auf 20.000 Euro pro Person
anzuheben.

Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten sind anrech-
nungsfrei.

Das Rückgriffsrecht des Staates gegenüber den Erben der Leistungsbezie-
herinnen und -bezieher ist abzuschaffen.

Die pauschalen Leistungsausschlüsse von Ausländerinnen und Ausländern
nach dem § 7 Abs. 1 SGB II werden abgeschafft.

3. Die mit der Einführung von Hartz IV betriebene Entrechtung der Grundsiche-
rungsbeziehenden ist zu stoppen und rückgängig zu machen. Die Rechtsposition
der Leistungsberechtigten ist zu stärken.
Widersprüche der Leistungsbeziehenden gegen belastende Verwaltungs-

akte der Sozialbehörden müssen stets aufschiebende Wirkung haben. Insge-
samt sind die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen rechtswidriges Behörden-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/3549

handeln zu verbessern. Die Beratungshilfe ist auszubauen; unabhängige Be-
ratungsstellen werden stärker gefördert. Zudem ist ein transparentes Ver-
waltungsverfahren zu gewährleisten. Die Prozessführung muss kostenfrei
bleiben.

Die Regelungen über die Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender
Verwaltungsakte der Jobcenter ist wieder an das allgemeine Sozialverwal-
tungsverfahrensrecht anzupassen (§ 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II).

Die entwürdigende Praxis von Hausbesuchen mit ihrer expliziten Miss-
brauchsunterstellung ist sofort einzustellen; die gesetzliche Vorgabe, dass
die Träger der Mindestsicherung einen Außendienst mit dieser Funktion
einzurichten haben, ist abzuschaffen.

Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist zu gewährleisten.

Berlin, den 16. Dezember 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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