BT-Drucksache 18/3454

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/3124, 18/3157, 18/3449 - Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf

Vom 3. Dezember 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3454
18. Wahlperiode 03.12.2014
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias
W. Birkwald, Sigrid Hupach, Katja Kipping, Norbert Müller (Potsdam), Harald
Petzold (Havelland), Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Katrin
Werner, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/3124, 18/3157, 18/3449 –

Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit 1998 steigt die Zahl erwerbstätiger pflegender Angehöriger deutlich, aber
nur jede und jeder zweite pflegende erwerbstätige Angehörige setzt neben der
Pflege die Erwerbstätigkeit unverändert fort. Viele reduzieren ihre Erwerbstä-
tigkeit für die Pflege einer nahestehenden Person oder geben sie völlig auf.
Frauen tun dies wesentlich häufiger als Männer. Insgesamt werden von den 2,63
Millionen pflegebedürftigen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland 1,85
Millionen ambulant und von diesen mehr als 1,2 Millionen ausschließlich durch
Angehörige versorgt.

Viele pflegende Angehörige müssen durch die Reduzierung oder Aufgabe ihrer
Erwerbsarbeit finanziell deutlich zurückstecken und landen in akuter und vor-
programmierter Armut im Alter. Die überwiegende Mehrheit der pflegenden
Frauen und Männer erlebt die Pflege von Angehörigen als körperlich und emo-
tional belastend. Viele geraten in eine berufliche und private Krise. Der Anteil
an depressiven Erkrankungen bei Pflegenden ist um das Doppelte höher als bei
der Bevölkerung insgesamt.

Der vorliegende Gesetzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege
und Beruf löst weder die Probleme, die pflegende Angehörige in dieser Hinsicht
haben, noch verbessert er die Qualität der Pflegesituation. Das Gesetz hat zum
Ziel, Anreize zu schaffen, damit die Pflege weiterhin mehrheitlich privat und
damit kostengünstig geleistet wird. Das entlastet mittelfristig die soziale Pflege-
versicherung, nicht aber die Personen, die die Pflege von ihnen nahestehenden
Personen übernehmen.

Drucksache 18/3454 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Noch immer wird die Übernahme der Sorgeverantwortung durch die Familie als
selbstverständlich vorausgesetzt. Viele Menschen wünschen sich, bei Eintritt
von Pflegebedürftigkeit in ihrer vertrauen Umgebung bleiben zu können. Das
bedeutet aber nicht, dass sie unbedingt von ihren Angehörigen gepflegt werden
wollen. Die Pflegeversicherung begünstigt jedoch als Teilkostenversicherung
privat geleistete Pflege. Angehörige – meist Frauen – springen oftmals notge-
drungen in die Bresche, denn die Leistungen der Pflegeversicherung reichen
nicht aus, um die notwendigen Pflegekosten zu decken. Daran ändert die Bun-
desregierung mit dem Gesetzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf nichts. Anstatt die soziale Pflegeversicherung zukunftsfest zu
machen und den Ausbau der öffentlichen Verantwortung voranzutreiben – durch
Stärkung der professionellen Pflege und Ausbau der pflegerischen Infrastruktur
– setzt die Bundesregierung auf die Bereitschaft der Angehörigen und verfestigt
die Delegation der Verantwortung für Sorgearbeit an die Familie.

Darüber hinaus vertieft der Gesetzentwurf die soziale Spaltung: Eine unbezahlte
Reduzierung der Arbeitszeit ist für Geringverdienende und Beschäftigte in Teil-
zeit – und das sind überwiegend Frauen – in der Regel aus finanziellen Gründen
kaum möglich. Bei Empfängerinnen und Empfängern von Sozialleistungen,
bzw. Aufstockenden gilt der Vorrang des Darlehens, also der persönlichen Ver-
schuldung, vor dem Anspruch auf Sozialleistungen. Außerdem sind mehr als 7
Millionen Beschäftigte in Kleinunternehmen vom Rechtsanspruch auf Familien-
pflegezeit ausgeschlossen. Eine (Familien)-Pflegezeitregelung muss aber für alle
gelten – auch für Beschäftigte in Unternehmen mit 25 oder weniger Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern, auch für Bezieherinnen und Bezieher von Sozialleis-
tungen. Sie muss auch für Geringverdienende und prekär Beschäftigte möglich
sein.

Gute Pflege durch erwerbstätige wie auch durch nicht erwerbstätige Angehörige
ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deren Lasten und Risiken werden
jedoch weiterhin den einzelnen Pflegenden aufgebürdet.

Das im Koalitionsvertrag formulierte Ziel, die beiden Gesetze zur Pflegezeit und
zur Familienpflegezeit in einem Gesetz zusammenzuführen, wird verfehlt.
Dadurch wird das Verständnis über die Regelungen und Ansprüche erheblich
erschwert. In existenziellen Fragen, zum Beispiel beim Kündigungsschutz, ist es
unklar oder nicht weitreichend genug. Der Zeitaufwand für die Organisation der
pflegerischen Versorgung ist mit 10 Tagen viel zu kurz bemessen. Die wachsen-
de Intransparenz durch die zwei nebeneinander existierenden Gesetze bedeutet
Antragstellungen bei drei Stellen. Das stiehlt Pflege- und Lebenszeit.

Eine echte Entlastung von Angehörigen und Pflegebedürftigen wäre es, die pro-
fessionelle Pflege zu stärken und qualitativ weiter zu entwickeln. Eine wirklich
selbstbestimmte Entscheidung für oder gegen die Übernahme (ergänzender)
Pflege und Betreuung durch nahe Angehörige ist nur auf der Grundlage einer
gesicherten professionellen pflegerischen Versorgung der Menschen mit Pflege-
bedarf möglich. Im Kern geht es um gute Pflege und gute Arbeit in der Pflege
und in den Unternehmen und nicht lediglich um individuelle Freistellungsrege-
lungen. Die Pflegepolitik muss so ausgerichtet werden, dass sie die individuelle
Teilhabe und Selbstbestimmung für die zu Pflegenden und für die Pflegenden
ermöglicht, den dafür erforderlichen Pflegebedarf zum Maßstab macht und soli-
darisch finanziert. Dazu sind eine umfassende Pflegereform und die zügige Um-
setzung eines neuen Pflegebegriffs dringend geboten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Rechtsanspruch auf bezahlte Freistellung für die Dauer von bis zu
sechs Wochen zur Organisation der neu eingetretenen Pflegesituation und

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3454

der ersten pflegerischen Versorgung von Angehörigen oder nahestehenden
Personen einzuführen und durch einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung
durch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu finanzieren. Analog des
Entgeltfortzahlungsgesetzes im Krankheitsfall soll die Freistellung als ge-
setzlicher Ausschlusstatbestand der Pflicht zur Arbeitsleistung geregelt
werden, die finanzielle Absicherung erfolgt durch die Arbeitgeberinnen
und Arbeitgeber und durch ein Umlagesystem zur Entlastung kleinerer Be-
triebe (Arbeitsgeberausgleichsgesetz). Voller Kündigungsschutz und das
Rückkehrrecht der freigestellten Beschäftigten auf denselben Arbeitsplatz
zu den bisherigen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen und Arbeitszei-
ten sind sicherzustellen. Die Möglichkeit einer bezahlten Pflegezeit soll für
Betriebe unabhängig von der Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
gelten. Der Ersatz der freigestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist
mit befristeter Beschäftigung zu den in der jeweiligen Branche geltenden
tariflichen Bedingungen möglich;

2. die Möglichkeit der selbstbestimmten Entscheidung des zu pflegenden
Menschen, von wem sie oder er als „nahen Angehörigen“ gepflegt werden
möchte, auch ohne verwandtschaftliche Beziehungen, zu schaffen. Die De-
finition „nahe Angehörige“ ist weitergehend an die realen Lebensverhält-
nisse der Pflegenden und der zu Pflegenden anzupassen;

3. darüber hinaus sind die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung anzu-
heben, damit eine wirkliche Entlastung der Pflegenden im häuslichen Um-
feld durch professionelle Pflegeleistungen ermöglicht wird:

a) Der neue Pflegebegriff und das neue Begutachtungsverfahren sind zü-
gig einzuführen, ein Zeitplan zur Umsetzung ist unverzüglich vorzule-
gen. Volle gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung sind zu
gewährleisten. Für Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltags-
kompetenz muss eine engmaschige Betreuung und Begleitung gewähr-
leistet werden. Der derzeitige enge, verrichtungsbezogene Pflegebegriff
ist zu überwinden. Pflege muss sich an der Gesamtheit der Bedürfnisse
des Menschen und damit am Grad der individuellen Selbstständigkeit
und individuellen Ressourcen orientieren und nicht an den jeweiligen
Defiziten sowie am Zeitfaktor der alltäglichen Verrichtungen.

b) Der seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 zu verzeich-
nende Realwertverlust der Pflegeleistungen ist vollständig auszuglei-
chen. Außerdem sind die Sachleistungsbeträge für die ambulante, teil-
stationäre und stationäre Pflege anzuheben. Die Leistungen der Pflege-
versicherung sind darüber hinaus ab sofort jährlich regelgebunden zu
dynamisieren, um den Werterhalt zu garantieren.

c) Die notwendige Infrastruktur ist weiter auszubauen, um eine professio-
nelle, unabhängige und wohnortnahe Beratung, Anleitung, Betreuung
und Supervision auf hohem Niveau flächendeckend und barrierefrei si-
cherzustellen. Alternative Wohn- und Versorgungsformen sind weiter
auszubauen. Es ist darauf hinzuwirken, dass hierfür in angemessenem
Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.

d) Die Anerkennung von Zeiten der Pflege von Angehörigen in der Rente
ist zu verbessern, damit die oft langjährige Pflege nicht zu Rentenlücken
und Altersarmut führt.

e) Eine flexible Inanspruchnahme der Freistellungs- und Pflegezeiten ent-
sprechend dem Pflegebedarf und der Pflegesituation ist zu ermöglichen.
Für Personen, die die Pflege dauerhaft übernehmen wollen, sind Teil-
zeitmöglichkeiten und flexible Arbeitsorganisations- und Arbeitszeitre-
gelungen zu ermöglichen. Das Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbe-
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/3454 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

dingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeiten ist zu verbessern
(Flexi II-Gesetz).

f) Die notwendigen Mittel für bessere Pflegeleistungen, für eine höhere
Pflegequalität und die tatsächliche Entlastung pflegender Angehöriger
sowie die wirkliche Vereinbarkeit von persönlicher Pflege und Erwerbs-
tätigkeit sind durch die Einführung der solidarischen Pflegeversicherung
(Bürgerinnen- und Bürgerversicherung) dauerhaft bereitzustellen. Die
private Pflegeversicherung ist in die soziale Pflegeversicherung zu in-
tegrieren. Die Beitragsbemessungsgrenze ist abzuschaffen. Einkommen
aus unselbständiger und selbständiger Arbeit sowie die weiteren Ein-
kommensarten wie Kapital-, Miet- und Pachterträge werden bei der
Bemessung des Beitrags zugrunde gelegt.

Berlin, den 2. Dezember 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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