BT-Drucksache 18/2884

Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder

Vom 15. Oktober 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2884
18. Wahlperiode 15.10.2014
Antrag
der Abgeordneten Cornelia Möhring, Diana Golze, Jan Korte, Agnes Alpers,
Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Ulla
Jelpke, Katja Kipping, Sabine Leidig, Petra Pau, Harald Petzold, Martina Renner,
Azize Tank, Frank Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg,
Katrin Werner, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann (Zwickau), Pia Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen und
deren Kinder

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Anfang des Jahres veröffentlichte die Agentur der Europäischen Union für Grund-
rechte (FRAU) eine Studie zur Gewalt gegen Frauen. Dafür waren 42 000 Frauen
aus den 28 EU-Mitgliedstaaten befragt worden, welche persönlichen Erfahrungen
sie mit körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt gemacht haben. Die Ergeb-
nisse sind erschreckend. Demnach waren 33 Prozent der Frauen seit ihrem 15. Le-
bensjahr von körperlicher und/oder sexueller Gewalt betroffen. In Deutschland wa-
ren es sogar 35 Prozent.
Alle ausgeübten Formen von Gewalt führen bei den Betroffenen zu erheblichen ge-
sundheitlichen, psychischen und psychosozialen Folgen. Diese verursachen hohe
Kosten und Folgekosten im Gesundheitssystem, für die Polizei, die Justiz, für Un-
ternehmen und den öffentlichen Dienst, bei Einrichtungen der Kinder- und Jugend-
hilfe und vor allem für die vorhandenen Schutz- und Beratungseinrichtungen für die
Opfer und ihre Kinder.
Frauenhäuser und Frauenunterstützungseinrichtungen stellen seit mehr als 30 Jahren
für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder Schutz und Hilfen sicher. In Deutsch-
land gibt es ca. 350 Frauenhäuser und 40 Zufluchtswohnungen mit 6 800 Plätzen.
Jährlich suchen etwa 15 000 bis 17 000 Frauen sowie ihre Kinder (insgesamt ca.
30 000 bis 34 000 Personen) Schutz in Frauenhäusern und Frauenschutzwohnungen.
Im Hilfesystem gibt es ca. 560 Frauenberatungsstellen zu Gewalt gegen Frauen, des
weiteren etwa 130 Interventionsstellen bei häuslicher Gewalt sowie ca. 50 Bera-
tungsstellen für Opfer von Menschenhandel, Zwangsverheiratung, Genitalverstüm-
melung, sexueller Belästigung und Stalking. Hier erhalten die betroffenen Frauen
die notwendige Unterstützung und Beratung zur Überwindung gewaltgeprägter Le-
bensverhältnisse.
Diese Einrichtungen werden aus freiwilligen Leistungen von Ländern und Kommu-
nen, aus Leistungsansprüchen der Frauen aus den Sozialgesetzen (SGB II und SGB
XII) und aus Eigenmitteln der Träger (z. B. Spenden) finanziert. Die Leistungen von

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Ländern und Kommunen sind als freiwillige Leistungen abhängig von der jeweiligen
Haushaltslage. Die Finanzierung von Schutz und Hilfe über Ansprüche der Frauen
zum Beispiel aus dem SGB II (Hilfen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt) ist
nicht nur zweckentfremdet, sondern schließt auch viele von Gewalt betroffene
Frauen ohne Leistungsansprüche von Schutz und Hilfe aus. Für die Leistungserbrin-
gung von Schutz und Hilfe in Frauenhäusern und Fachberatungsstellen gibt es keine
bundesweit gültigen Standards, die personellen und sachlichen Ressourcen sind
nicht ausreichend, die Träger von Frauenhäusern und Fachberatungsstellen haben
keine Planungssicherheit.
Der Bericht der Bundesregierung zur Situation des Hilfesystems für gewaltbe-
troffene Frauen und deren Kinder von 2012 hat dessen desolaten Zustand offen ge-
legt. Gegenwärtig haben nicht alle Opfer von häuslicher und sexualisierter Gewalt
einen freien Zugang zu Schutz- und Hilfseinrichtungen, unabhängig von ihrer Her-
kunft und ihrem sozialen Status. Die gegenwärtig dominierende Finanzierung der
Frauenhäuser durch Tagessätze auf der Grundlage des Sozialgesetzbuchs II bzw. XII
schließt bestimmte Gruppen von Frauen von vornherein aus, so bspw. Studentinnen,
Auszubildende sowie Migrantinnen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Hinzu
kommt, dass der Zugang oft nicht barrierefrei ist und so auch Frauen mit Behinde-
rungen keinen Zugang finden. Jährlich können fast 9 000 Frauen und ihre Kinder
keine Aufnahme finden, da die Frauenhäuser am Rande ihrer Kapazitäten stehen. Es
gibt einen großen Bedarf in den Ballungsräumen und auf dem Land klaffen im Hil-
fesystem riesige Löcher.
Ein spezielles Problem ist die Hilfe und Schutz für Opfer von Menschenhandel, die
mangels eines Aufenthaltsrechts häufig sogar ihre Abschiebung fürchten müssen.
Bei der Finanzierung der entsprechenden Fachberatungsstellen fehlt es an Mitteln
für ein ausreichendes Personal. Eine Folge ist, dass eine aufsuchende Arbeit, die in
diesem Bereich dringend notwendig ist, nicht durchgeführt werden kann. Ebenso ist
die Unterbringung der Opfer von Menschenhandel sehr prekär. Hier fehlen speziali-
sierte Schutzeinrichtungen, die auf die besondere Problemlage der Betroffenen adä-
quat reagieren und helfen können. Gleiches gilt auch für minderjährige Betroffene.
Bereits 2009 hat der CEDAW-Ausschuss (UN Convention on the Elimination of All
Forms Discrimination Against Women – Übereinkommen der Vereinten Nationen
zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau) in seinen abschließenden
Bemerkungen zum 6. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert,
dafür Sorge zu tragen, dass Frauenhäuser in ausreichender Anzahl zur Verfügung
stehen. Diese sollten sicher finanziert werden und zugleich allen Betroffenen offen
stehen, unabhängig vom eigenen Einkommen.
Das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Zeichnung am 11. Mai 2011) verpflichtet die
Mitgliedstaaten u. a. dazu (Kapitel I Artikel 5.2.), „die erforderlichen gesetzgeberi-
schen und sonstigen Maßnahmen (zu treffen), um ihre Sorgfaltspflicht zur Verhü-
tung, Untersuchung und Bestrafung von den in den Geltungsbereich dieses Überein-
kommens fallenden Gewalttaten auszuüben…“ Neben der Prävention werden wei-
terhin der Schutz und die umfassende Hilfe für die Opfer und ihre Kinder eingefor-
dert. Dafür sollen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene die entsprechenden
Hilfs- und Schutzeinrichtungen zur Verfügung stehen. Deutschland gehört zwar zu
den Erstunterzeichnern der Richtlinie, hat diese aber bis heute nicht ratifiziert. Ge-
fordert ist die Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur, die allen Betroffenen zu-
gänglich ist und die eine entsprechende Ausfinanzierung erfährt.
Das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels wurde
bereits von Deutschland ratifiziert. Dieses sieht im Artikel 12 vor, das Betroffene
von Menschenhandel u. a. Beratung und Informationen erhalten sollen. Diese Bera-
tungen sind jedoch nur bei einer ausreichenden Finanzierung der Fachberatungsstel-
len möglich. Zudem schreibt die EU-Richtlinie 2011/36 in Artikel 11 und im Erwä-

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gungsgrund Nummer 18 vor, dass die Mitgliedstaaten die Ressourcen für die Unter-
stützung, die Betreuung und den Schutz der Betroffenen bereitstellen sollen. Die
Frist zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2011/36 ist im April 2013 abgelaufen. Bis-
lang hat die Bundesrepublik Deutschland diese Richtlinie noch nicht umgesetzt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. noch in dieser Wahlperiode das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung
und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu ratifizie-
ren und den bestehenden Vorbehalt zurückzunehmen. Weiterhin die bereits ra-
tifizierte Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels sowie
die EU-Richtlinie 2011/36 entsprechend in deutsches Recht umzusetzen;

2. in dieser Wahlperiode einen Gesetzentwurf vorzulegen, in welchem der Rechts-
anspruch auf sofortigen Schutz und umfassende Hilfe für von Gewalt betroffene
Frauen und deren Kinder geregelt ist und diesen so zu gestalten, dass er unab-
hängig von Einkommen, Aufenthaltstitel, Herkunftsort, gesundheitlicher Ein-
schränkungen oder Behinderungen für die betroffenen Frauen und deren Kinder
gilt. Ziel des Gesetzentwurfs soll die einzelfallunabhängige und bedarfsgerechte
Finanzierung des Schutz- und Hilfesystems bei Gewalt gegen Frauen sein;

3. einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem Rechtsvorschriften, die dem Rechts-
anspruch auf Schutz entgegenstehen – beispielsweise im Sozialrecht
oder Aufenthaltsrecht – mit Inkrafttreten des Gesetzes durch anspruchskon-
forme Regelungen ersetzt werden müssen. Insbesondere das Aufenthaltsrecht
für die Opfer von Menschenhandel muss unabhängig von ihrer Mitwirkung im
Strafverfahren ausgestaltet werden;

4. einen Maßnahmenkatalog vorzulegen, wie dieser zu schaffende Rechtsanspruch
umfassend für alle von Gewalt betroffenen Frauen und deren Kinder umgesetzt
werden soll und wie die erforderlichen personellen und finanziellen Ressourcen
dafür bereitgestellt werden können. Dazu sollte ein Nationaler Aktionsplan III
zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen den notwendigen Rahmen abgeben.

Berlin, den 15. Oktober 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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