BT-Drucksache 18/2878

Schluss mit den Sonderwelten - Die inklusive Gesellschaft gemeinsam gestalten

Vom 15. Oktober 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2878
18. Wahlperiode 15.10.2014
Antrag
der Abgeordneten Corinna Rüffer, Beate Müller-Gemmeke, Doris Wagner,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Christian Kühn, Özcan Mutlu, Markus Kurth,
Brigitte Pothmer, Katja Dörner, Sven-Christian Kindler, Dr. Tobias Lindner, Lisa
Paus, Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, Markus Tressel,
Claudia Roth (Augsburg), Beate Walter-Rosenheimer und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schluss mit Sonderwelten – Die inklusive Gesellschaft gemeinsam gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Eine inklusive Gesellschaft, die Menschen mit und ohne Behinderungen die gleichen
Chancen und Rechte garantiert, scheint wenig umstritten. Auch im Koalitionsvertrag
wird Inklusion zur Leitidee erklärt: „In allen Bereichen des Lebens sollen Menschen
mit Behinderung selbstverständlich dazugehören (…)“ (S. 77). Eine inklusive Ge-
sellschaft spiegelt die Vielfalt der Menschen wider. Sie zu gestalten, ist eine Aufgabe
für alle gesellschaftlichen Gruppen, alle Generationen und alle politischen Ebenen.
Derzeit leben, arbeiten und lernen jedoch viele Menschen mit Behinderung in Son-
dereinrichtungen wie Wohnheimen, Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)
oder Förderschulen. Seit dem Jahr 2000 nimmt die absolute Zahl der Kinder und
Jugendlichen zu, für die ein Förderbedarf diagnostiziert wird. Das führt zu dem
scheinbar paradoxen Effekt, dass gleichzeitig immer mehr Kinder und Jugendliche
mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine inklusive Regelschule besuchen,
gleichzeitig der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die eine Förderschule besu-
chen, konstant bei knapp 5 Prozent verharrt. Des Weiteren arbeiten immer mehr
Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und auch im
Bereich Wohnen dominieren nach wie vor stationäre Angebote. So bleibt Menschen
mit sog. geistigen Beeinträchtigungen, die im Erwachsenenalter nicht mehr bei ihren
Eltern leben möchten, meist nur der Umzug in ein Wohnheim (vgl. Teilhabebericht
der Bundesregierung 2013, S.187). Auch wenn es mittlerweile eine Reihe von Pro-
jekten gibt, die erfolgreich inklusives Arbeiten oder Wohnen ermöglichen und im-
mer mehr Regelschulen, die inklusiv unterrichten: Die „Sonderwelten“ für Men-
schen mit Behinderung halten sich entgegen aller politischen Bekenntnisse zum Auf-
bau einer inklusiven Gesellschaft hartnäckig.
Das zeigt, wie dringend und notwendig der gesellschaftliche wie politische Einsatz
für eine inklusive Gesellschaft ist. Zumal es immer mehr empirische Belege dafür
gibt, dass Teilhabeleistungen, die Menschen mit Behinderungen für eine bestimmte
Lebensphase von nichtbehinderten Menschen trennen, um sie danach wieder zu „in-
tegrieren“, nicht dazu führen, dass Deutschland inklusiver wird. So erreichen drei
Viertel aller Absolventinnen und Absolventen von Förderschulen keinen regulären

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Schulabschluss. Von den Förderschulabgängerinnen und -abgängern, die einen
Schulabschluss erlangen, erreichen nur gut zehn Prozent die mittlere Reife oder
Hochschulreife. Dagegen erreichen fast 80 Prozent der Kinder, die eine Regelschule
besuchen, diese Abschlüsse. Eine Ursache hierfür ist, dass die Schulgesetze der Län-
der zum Teil nicht vorsehen, dass Förderschulen überhaupt die Möglichkeit zu ei-
nem qualifizierten Schulabschluss anbieten. Wenn Förderschulen einen Abschluss
ermöglichen, ist es in der Regel ein Hauptschulabschluss. Im schlimmsten Fall folgt
aus einer Schulwahl im Alter von 10 Jahren schon zwingend, dass beim Ende der
Schulpflicht kein Schulabschluss erreicht werden kann. Eine mögliche Folge dieser
strukturellen Benachteiligung ist, dass nur wenige junge Menschen mit Behinderun-
gen direkt eine Lehrstelle finden. Noch schwieriger sind damit der Abschluss der
Sekundarstufe II und der Hochschulzugang. Die weitaus meisten Schülerinnen und
Schüler von Förderschulen wechseln nach Ende der Schulpflicht in weitere Sonder-
einrichtungen, seien es WfbM oder spezielle Einrichtungen des Übergangsbereichs.
Wer erst einmal in einer WfbM arbeitet, bleibt dort mit an Sicherheit grenzendender
Wahrscheinlichkeit bis zur Verrentung und verdient trotz einer wöchentlichen Ar-
beitszeit von 35 bis 40 Stunden im Durchschnitt weniger als 200 Euro im Monat.
Wird nach Abschluss des Eingangsverfahrens oder des Berufsbildungsbereichs einer
WfbM festgestellt, dass ein Mensch nicht in der Lage sein wird, „ein Mindestmaß
an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit zu erbringen“ (§ 136 Abs. 2 SGB IX), bleibt
im Regelfall nur die Betreuung in speziellen Tagesförderstätten bzw. -gruppen.
Selbst innerhalb des Sondersystems, das die bestmögliche Förderung sicherstellen
soll, werden also diejenigen, die eigentlich die meiste Unterstützung brauchen, auf-
grund der Schwere ihrer Beeinträchtigungen von den anderen getrennt und faktisch
als „nicht integrierbar“ abgeschrieben.
Wer im Alltag jenseits der Arbeit Unterstützung benötigt, ist ebenfalls mit der Do-
minanz stationärer Angebote konfrontiert. So wohnen insgesamt mehr Menschen,
die Unterstützung beim Wohnen benötigen, in einem Wohnheim, als in einer ambu-
lant betreuten Wohngruppe oder einer eigenen Wohnung. Die aktuellen Zahlen des
Statistischen Bundesamtes bilden ab, dass 2011 rund 316 000 Menschen Leistungen
im Bereich Wohnen erhalten haben, davon knapp 182 000 in Wohnheimen. Nur gut
ein Drittel (rund 121 000 Personen) erhielt die Leistungen in der eigenen Wohnung
und etwa 14 000 Personen in Wohngruppen. Ursache hierfür sind unter anderem der
Mehrkostenvorbehalt in § 13 SGB XII, das erschreckend geringe Angebot an barri-
erefreiem und mit niedrigem Einkommen bezahlbarem Wohnraum sowie die Tatsa-
che, dass nicht überall in ausreichendem Maß Unterstützungsangebote im Quartier
vorhanden sind. Zusätzlich setzt der Mehrkostenvorbehalt den Sozialhilfeträgern
den fatalen Fehlanreiz, insbesondere Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf
eine passende ambulante Unterstützung zu verweigern und so in ein Wohnheim
mehr oder weniger zu „zwingen“. Außerdem stehen schlicht nicht genug barriere-
freie Wohnmöglichkeiten zur Verfügung. Gerade mit Blick auf den steigenden Be-
darf an barrierearmen bzw. altersgerechten Wohnraum wird das deutlich. So stellt
eine 2011 vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung veröf-
fentlichte Studie einen zusätzlichen Bedarf von 3 Millionen altersgerechten Woh-
nungen bis 2030 fest. Zwar steigt erfreulicherweise seit einigen Jahren die Zahl der-
jenigen, die außerhalb von Einrichtungen leben. Diejenigen, die besonders viel Un-
terstützung brauchen, profitieren davon allerdings kaum. Für sie bleibt häufig nur
das Wohnheim.
Die getrennten Lebenswelten, die durch große Wohneinrichtungen entstehen, setzen
sich auch in der Freizeitgestaltung fort. Die Leistungsträger finanzieren keine Un-
terstützungsleistungen jenseits der stationären Wohneinrichtung. Denn sie gehen da-
von aus, dass diese auch für die Freizeitgestaltung zuständig und dazu umfassend
bzw. ausreichend in der Lage seien. Die Wohneinrichtungen können die Bewohne-
rinnen und Bewohner bei individuellen Vorhaben aber selten unterstützen. Darüber

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hinaus fehlen vielerorts Assistenzleistungen für eine selbstbestimmte Lebensführung
jenseits von Wohneinrichtungen (vgl. Teilhabebericht der Bundesregierung, S. 79).
Der größte Teil der finanziellen Mittel für Rehabilitationsmaßnahmen und zur Un-
terstützung von Menschen mit Behinderungen fließt gegenwärtig in Sondereinrich-
tungen wie Förderschulen, Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und
Wohnheime.
Unsere Gesellschaft wird nicht inklusiv, wenn von Veränderung nur gesprochen
wird. Darüber hinaus müssen zum einen die Bereiche inklusiv gestalten werden, von
denen Menschen mit Behinderungen gegenwärtig ausgeschlossen sind. Zum anderen
müssen die Strukturen und Einrichtungen, in denen ausschließlich Menschen mit
Behinderungen leben, lernen und arbeiten, gemeinsam mit allen Beteiligten geöffnet
und umgestaltet werden.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt alle Anstrengungen, die unternommen wer-
den, um der Ausgrenzung behinderter Menschen entgegenzuwirken. Er spricht
Dank und Anerkennung all denjenigen Menschen aus, die sich für eine inklu-
sive Gesellschaft stark machen – unabhängig davon, ob sie es ehrenamtlich
oder beruflich, innerhalb oder außerhalb von Einrichtungen tun. So hat schon
eine Reihe von Initiativen, von kleinen Projekten bis hin zu großen Einrichtun-
gen gezeigt, dass der Aufbruch hin zu gemeinsamen Lebenswelten möglich ist.
Stellvertretend seien hier die Schulen genannt, die seit Jahrzehnten den gemein-
samen Unterricht praktizieren. Sie zeigen eindrücklich, welche Chancen im ge-
meinsamen Unterricht liegen. Die Länder und die Träger der Eingliederungs-
hilfe, die das „Budget für Arbeit“ erproben, machen deutlich, wie die Selbstbe-
stimmung auch von Menschen mit hohem Assistenzbedarf gestärkt werden
kann. Schließlich seien auch die Organisationen genannt, die sich von Wohn-
heimträgern zu Anbietern ambulanter Unterstützungsdienste gewandelt haben.
Es ist möglich, sich weiterzuentwickeln, ohne den Anspruch auf die Unterstüt-
zung derjenigen aufzugeben, die darauf angewiesen sind. Unsere Gesellschaft
wird nur inklusiv, wenn sich alle gemeinsam für eine Veränderung stark ma-
chen, die Menschen mit und ohne Behinderungen gleiche Rechte und Chancen
ermöglicht.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in das angekündigte Bundesteilhabegesetz insbesondere folgende Elemente auf-
zunehmen:

Für alle Teilhabeleistungen:

a) Die Bedarfe müssen nach einem bundesweit einheitlichen Verfahren ermit-
telt werden, das sich an der International Classification of Functioning,
Disability and Health (ICF) orientiert.

b) Die Leistungsberechtigten müssen ein echtes Wunsch- und Wahlrecht er-
halten. Das bezieht sich sowohl auf die Art der Leistung als auch den Ort
der Leistungserbringung.

c) Es darf keine Mehrkostenvorbehalte geben, die Menschen mit besonders
hohem oder komplexem Unterstützungsbedarf faktisch dazu zwingen, Leis-
tungen in bestimmen Einrichtungen in Anspruch zu nehmen.

d) Die Leistungsansprüche müssen sich am tatsächlichen Bedarf des jeweili-
gen Menschen mit Behinderung orientieren und dürfen nicht an einen Leis-
tungsort bzw. eine bestimmte Einrichtung gebunden sein (Personen-
zentrierte Leistungen). Leistungserbringer müssen Menschen mit Behinde-
rungen auch außerhalb ihrer Einrichtungen unterstützen können.

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e) Leistungen zur Teilhabe dürfen nicht auf das Einkommen und Vermögen
der Leistungsberechtigten angerechnet werden.

f) Es muss einfacher werden, Leistungen als Persönliches Budget nach § 17
SGB IX zu erhalten. Hierzu muss insbesondere die Begrenzung der Höhe
des Budgets auf die Höhe der bisherigen Sachleistungen abgeschafft und ein
Anspruch auf Budgetassistenz eingeführt werden.

g) Leistungen mehrerer Träger sind im Regelfall so zu erbringen, dass die Leis-
tungsberechtigten nur einen Träger als Ansprechpartner haben (Komplex-
leistung). Der bzw. die Leistungsberechtigte hat dabei die Wahl, welchen
Träger er/sie mit der Koordinierung beauftragt.

h) Mehrere Leistungsberechtigte müssen das Recht erhalten, ihre individuellen
Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe zu poolen.

i) Das Vergütungsrecht hat alle Leistungserbringer gleich zu behandeln.
j) Die Aufgaben der kommunalen und regionalen Planung von Teilhabeleis-

tungen sind gesetzlich zu verankern.
k) Eckpunkte für ein einheitliche gesetzliche Leistungs- und Unterstützungs-

system für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung (sog. Große
Lösung SGB VIII) sind vorzulegen. Dabei ist sicherzustellen, dass die ho-
hen fachlichen Standards der Eingliederungshilfe und der Jugendhilfe ein-
gehalten und weiterentwickelt werden.

Speziell für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben:

l) Der Wechsel von Beschäftigten einer WfbM in den allgemeinen Arbeits-
markt muss deutlich stärker als bisher gefördert werden. Dazu ist zum einen
gesetzlich die Möglichkeit dauerhafter Lohnzuschüsse („Budget für Ar-
beit“) zu schaffen. Darüber hinaus müssen alternative Leistungsanbieter zu-
gelassen werden. Die Beschäftigten in WfbM müssen auch nach Abschluss
des Berufsbildungsbereichs einen Anspruch auf berufliche (Weiter-)Bil-
dung haben. Die Notwendigkeit der Leistungsgewährung in einer WfbM
muss in regelmäßigen Abständen extern überprüft werden.

m) Die Unterstützte Beschäftigung muss gestärkt werden, indem ihre zeitliche
Beschränkung aufgehoben wird.

n) Auch Menschen, die aufgrund einer Behinderung nicht in der Lage sind, ein
„Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ (§ 136 Abs. 2
SGB IX) zu erbringen, müssen die Möglichkeit erhalten, in einer WfbM
oder bei einem alternativen Leistungsanbieter zu arbeiten.

Speziell für Leistungen zur sozialen Teilhabe:

o) Es ist klarzustellen, dass Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemein-
schaft gleichrangig mit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind. Un-
terstützung in der Freizeit muss sowohl ergänzend zur als auch statt der Un-
terstützung im Arbeitsleben möglich sein.

p) Die Regeln für die Erstattung von Leistungen zwischen den Leistungsträ-
gern müssen vereinheitlicht werden, da es gegenwärtig einen Fehlanreiz für
Sozialhilfeträger gibt, neu in die Region ziehende Leistungsberechtigte zum
Wohnen in einem Wohnheim zu „zwingen“.

Speziell für Leistungen zur Teilhabe an Bildung:

q) Leistungen zur Teilhabe müssen in jeder Phase allgemeiner und beruflicher
Bildung, auch für eine freiwillige berufliche Neuorientierung, gewährt wer-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/2878

den. Nur so kann sichergestellt werden, dass Menschen mit Unterstützungs-
bedarf die Vielfalt der Bildungsgänge und -wege gleichberechtigt wahrneh-
men können.

2. ergänzend dazu folgende Maßnahmen einzuleiten:
a) Die Möglichkeit abzuschaffen, WfbM und Wohnheime für Menschen mit

Behinderungen aus Mitteln der Ausgleichsabgabe zu fördern.
b) Bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass diese statt stationären Einrich-

tungen der Behindertenhilfe inklusive Unterstützungsangebote im Sozial-
raum fördern.

c) Bestehende Hürden für die Einstellung von Menschen mit Behinderungen
müssen konsequent abgebaut werden. Um bei Arbeitgeberinnen und Arbeit-
gebern die Motivation zu erhöhen, Menschen mit Behinderung zu beschäf-
tigen, bedarf es zum einen weiterer Informationsangebote. Darüber hinaus
müssen einstellungswillige Unternehmen auch von Seite der Bundesagentur
für Arbeit mehr Hilfestellung bekommen. Benötigte spezielle Ausstattung
der Arbeitsplätze muss schneller und unbürokratischer zur Verfügung ge-
stellt werden.

d) Das Kooperationsverbot für die schulische Bildung ist abzuschaffen, um
den Wandel zu einem inklusiven Bildungssystem zu unterstützen.

e) Die Bundesregierung muss endlich einen Gesetzentwurf zur Förderung der
Aus-, Fort- und Weiterbildung („Weiterbildungs-BAföG“) vorlegen, der
das lebenslange Lernen gezielt unterstützt. Für Menschen mit Behinderun-
gen müssen darin ihre besonderen Bedarfe bei der Festlegung des Verhält-
nisses von Zuschuss und Darlehen berücksichtigt werden.

f) Bei den Ländern ist darauf hinzuwirken, auch ihre Ausbildungsordnungen
entsprechend zu überarbeiten und ihre Schulgesetze so auszugestalten, dass
an allen Förderschulen auch ein Hauptschulabschluss erreicht werden kann.

g) Gemeinsam mit den Ländern und der Bundesagentur für Arbeit sowie unter
Einbeziehung maßgeblicher Selbstvertretungsorganisationen im Rahmen
der Allianz für Aus- und Weiterbildung sind die Angebote zur Unterstüt-
zung des Übergangs von der Schule ins Berufsleben zu verbessern.

h) Das Berufsbildungsgesetz (BBiG), die Handwerksordnung (HWO) sowie
weitere Vorschriften über die Ausbildungsgänge zu bestimmten Berufen
sind dahingehend zu ändern, dass eine individuelle zeitliche Gestaltung der
Ausbildungen möglich wird.

i) Bei den Ländern ist darauf hinzuwirken, dass diese die ihnen obliegende
Wohnraumförderung und das Bauordnungsrecht nutzen, um schnellstmög-
lich ausreichend barrierefreie Wohnungen zu schaffen.

j) Im Rahmen der Städtebauförderung ist die Entwicklung des inklusiven Ge-
meinwesens durch integrierte sozialplanerische Aktivitäten zu fördern.

Berlin, den 14. Oktober 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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Begründung

Zu 1.: Das für diese Wahlperiode angekündigte Bundesteilhabegesetz bietet die ideale Gelegenheit, bestehende
Hemmnisse für echte Teilhabe im Teilhaberecht zu beseitigen.

Zu 1a: Gegenwärtig existieren bundesweit über 100 verschiedene Verfahren, um bei Anspruch auf Leistungen
der Eingliederungshilfe den Bedarf zu ermitteln. Das hat unter anderem zur Folge, dass sich der Umfang der
bewilligten Leistungen verändern kann, wenn die/der Leistungsberechtigte umzieht – obwohl sich in den sel-
tensten Fällen der Bedarf ändert. Da für ambulante Leistungen häufig die örtlichen, für stationäre dagegen die
überörtlichen Sozialhilfeträger zuständig sind, ist die Unsicherheit über eine Veränderung der bewilligten Leis-
tungen größer, wenn Leistungen außerhalb von Einrichtungen erbracht werden, da hier eine größere Zahl an
Trägern involviert ist. Dadurch werden ambulante Angebote benachteiligt. Darüber hinaus beeinflussen die
bestehenden Strukturen und Formen des Hilfesystems die Planung der Unterstützung oft stärker, als der indi-
viduelle Bedarf.

Ein bundesweit einheitliches Verfahren zur Bedarfsermittlung würde auch Menschen mit Unterstützungsbedarf
ermöglichen umzuziehen, ohne dass sie befürchten müssen, Leistungen zu verlieren. Dabei ist klar, dass die
Bedarfsermittlung nur unter Beteiligung der Leistungsberechtigten erfolgen kann und unabhängig von den
ökonomischen Interessen der Leistungserbringer und Leistungsträger gestaltet werden muss.

Zu 1b und 1c: Das in § 9 SGB IX verankerte Wunsch- und Wahlrecht wird bisher gleich mehrfach einge-
schränkt. Die bekannteste Beschränkung besteht in dem in § 9 Abs. 2 und § 13 Abs. 1 SGB XII verankerten
Mehrkostenvorbehalt für ambulante Leistungen. Leistungsträger können Wünsche von Leistungsberechtigten
ablehnen, wenn deren Berücksichtigung die öffentlichen Kassen unverhältnismäßig belasten würde. Relevant
wird das in der Praxis insbesondere, wenn Menschen mit Behinderungen nicht in einem Wohnheim, sondern
in einer eigenen Wohnung leben möchten. Im Ergebnis bestimmt der Sozialhilfeträger und nicht der Mensch
mit Unterstützungsbedarf den Wohn- und Lebensort. Im Extremfall werden junge Menschen dann in Pflege-
heime nach dem Sozialgesetzbuch XI gedrängt, die nicht dafür bezahlt werden, die soziale Teilhabe zu fördern.
Das verletzt eklatant Art. 19 BRK, der bestimmt, dass niemand gegen seinen Willen gezwungen werden darf,
in einer besonderen Wohnform zu leben. Das Bundesteilhabegesetz muss daher ausschließen, dass Menschen
mit Behinderungen gegen ihren Willen in einer bestimmten Wohnform untergebracht werden können.

Das Wunsch- und Wahlrecht wird auch dadurch eingeschränkt, dass die Leistungen zur Teilhabe am Arbeits-
leben für voll erwerbsgeminderte Menschen mit Behinderungen auf WfbM bzw. Tagesförderstätten beschränkt
sind. Darüber hinaus engt die Beschränkung des Spektrums möglicher Leistungserbringer auf Vertragspartner
der Leistungsträger (z. B. bestimmte ambulante Dienste oder Lieferanten von Hilfsmitteln) in Verbindung mit
einer restriktiven Vertragspraxis der Träger das Wahlrecht ein. Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Das
Bundesteilhabegesetz muss daher vorschreiben, dass berechtigten Wünschen uneingeschränkt Folge zu leisten
ist. Dabei sind in einigen Fällen Mehrkosten zu erwarten, die jedoch durch Einsparungen in anderen Fällen
ausgeglichen, möglicherweise auch überkompensiert werden.

Zu 1d: Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen sind gegenwärtig dem Grundsatz der in-
dividuellen Bedarfsdeckung verpflichtet. Dieser muss im Bundesteilhabegesetz uneingeschränkt erhalten blei-
ben und darf nicht durch Pauschalierungen – etwa durch einen vorab festgesetzten Betrag für Fahrdienstleis-
tungen oder ein festes Zeitkontingent für Assistenz bei der Freizeitgestaltung – verwässert werden.

Anders als bisher müssen die Leistungen allerdings durchgängig personenzentriert erbracht werden. Insbeson-
dere darf es keine Beschränkung auf bestimmte Leistungsorte geben. Denn gegenwärtig stoßen stationäre Ein-
richtungen, wenn sie behinderte Menschen (auch) in inklusiven Settings unterstützen, an leistungsrechtliche
Grenzen. So bieten immer mehr Berufsbildungswerke sog. verzahnte Ausbildungen mit Betrieben des allge-
meinen Arbeitsmarkts an: Die Fachkräfte der BBW betreuen hier die Auszubildenden auch im Betrieb. Dies
ist jedoch bisher nur möglich, wenn der überwiegende Teil der Ausbildung in den Räumen des BBW stattfindet,
da der Leistungskatalog des SGB III und die Vergütungsvereinbarungen der Bundesagentur für Arbeit keine
Betreuung durch Fachkräfte eines BBW während einer Ausbildung im allgemeinen Arbeitsmarkt vorsehen.
Ähnliches gilt für WfbM.

Eine Personenzentrierung würde bewirken, dass nicht mehr zwischen ambulanten und (teil-)stationären Leis-
tungen unterschieden würde.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/2878
Zu 1e: Leistungen zum Ausgleich behinderungsbedingter Mehrbedarfe sollen im Sinne eines Nachteilsaus-
gleichs ohne Anrechnung von Vermögen und Einkommen der Leistungsbeziehenden und ihrer Ehe- bzw. Le-
benspartner gestaltet werden. Der Verzicht auf Heranziehung der Betroffenen zum Ausgleich behinderungsbe-
dingter Mehrbedarfe ergibt sich aus den Benachteiligungsverboten des Grundgesetzes und der BRK. Der fi-
nanzielle Ausgleich von Nachteilen, die aufgrund einer Behinderung entstehen, soll nicht individuell (mit)fi-
nanziert werden. Es ist vielmehr Teil der Infrastruktur einer inklusiven Gesellschaft. Sofern nur behinderungs-
bedingte Bedarfe finanziert werden, ist auch nicht mit hohen Mehrkosten zu rechnen. Durch einen geringeren
Verwaltungsaufwand ergeben sich zudem Einsparungen, die nach Einschätzung einiger Expertinnen und Ex-
perten die Mehrausgaben überkompensieren. Im Rahmen der Debatte um die Anrechnung von Einkommen
und Vermögen wird auch eine Erhöhung der Freibeträge diskutiert. Das stellt keine zufriedenstellende Lösung
dar: Erstens wären die Leistungsberechtigten immer noch verpflichtet, dem Leistungsträger ihr ganzes Leben
offenzulegen. Zweitens bliebe der Verwaltungsaufwand der Träger bei sinkenden Einnahmen unverändert.

Auf die Bedürftigkeitsprüfung zu verzichten, ist auch deshalb geboten, weil sie in ihrer jetzigen Form stationäre
Leistungen fördert: § 92 SGB XII privilegiert einige Leistungen zur Teilhabe, indem er sie von der Pflicht zum
Einsatz eigener finanzieller Mittel freistellt oder diese stark einschränkt. Der Katalog der privilegierten Leis-
tungen umfasst überwiegend solche, die in Sondereinrichtungen erbracht werden, was eine Entscheidung zwi-
schen mehreren möglichen Leistungen bzw. Leistungsorten verzerrt.

Zu 1f: Seit dem 1. Januar 2008 besteht ein Rechtsanspruch auf Leistungen in Form des Persönlichen Budgets.
Das war ein bedeutender Schritt zu mehr Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen.
Sie haben nun ein Wahlrecht auf die gebündelte Auszahlung der ihnen zustehenden Sozialleistungen. Mit dem
Budget können sie eigenverantwortlich ihre notwendigen Dienstleistungen einkaufen.

Nach wie vor nehmen allerdings verhältnismäßig wenig Leistungsberechtigte das Persönliche Budget in An-
spruch. Das gilt insbesondere für das trägerübergreifende Persönliche Budget. Ein Grund dafür liegt in der
mangelnden Koordinierung und Kooperation der Rehabilitationsträger. Sie werden damit den Ansprüchen des
SGB IX nicht gerecht.

Probleme entstehen weiterhin, weil es für Leistungsberechtigte eine große Herausforderung sein kann, ein
trägerübergreifendes Budget zu beantragen und zu verwalten. So müssen unter anderem sozialversicherungs-
rechtliche, steuerliche und arbeitsrechtliche Vorgaben beachtet werden. Diese große Aufgabenvielfalt kann die
Budgetnehmerinnen bzw. Budgetnehmer überfordern. Dies betrifft insbesondere Menschen mit geistiger Be-
hinderung bzw. seelischer Erkrankung. Eine unabhängige Budgetassistenz ist für diesen Personenkreis vielfach
eine notwendige Voraussetzung, um das Persönliches Budget in Anspruch zu nehmen. Doch die Vorgaben zur
Kostenübernahme einer solchen Budgetassistenz sind unklar und es gibt nicht genügend unabhängige Budget-
beratungsstellen. Das verstärkt die geringe Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets.

Schließlich verhindern bestimmte rechtliche Regelungen, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, die
in einer stationären Einrichtung leben, aus dieser ausziehen können: In § 17 Abs. 3 Satz 3 SGB IX ist geregelt,
dass das Persönliche Budget nicht höher sein darf als die Gesamtkosten aller bisher individuell festgestellten
Leistungen. Aufgrund der Mischkalkulationen vieler stationärer Einrichtungen sind die Kosten der stationären
Unterbringung in diesen Fällen teilweise deutlich niedriger als die Kosten, die nötig sind, um den Unterstüt-
zungsbedarfs außerhalb einer Einrichtung zu decken.

Zu 1g: Auch Menschen, die ihre Leistungen zur Teilhabe nicht als Persönliches Budget bekommen möchten,
sollen Leistungen verschiedener Träger einfach kombinieren können. Bisher ist es jedoch oft sehr aufwändig,
Sachleistungen verschiedener Leistungsträger in Anspruch zu nehmen. Jeder Träger erwartet einen gesonderten
Antrag und entsprechende Nachweise, die oft unterschiedlich aussehen müssen. Noch viel zu selten übertragen
Leistungsträger die Verfahrensweisen für das trägerübergreifende Persönliche Budget auf die Gewährung von
Sachleistungen. Daher sollte das Bundesteilhabegesetz die Möglichkeit schaffen, den benötigten Unterstüt-
zungsbedarf auch als Sachleistung bei einem Träger zu beantragen, der dann im Auftrag des Leistungsberech-
tigten die anderen zuständigen Träger koordiniert.

Zu 1h: Inklusive Strukturen sind so gestaltet, dass prinzipiell jede Person sie nutzen kann. Ressourcen zum
Ausgleich von Nachteilen oder zur Überwindung von Barrieren müssen nicht mehr individuell organisiert wer-
den, sondern sind – sofern möglich – in den Strukturen bereits vorhanden. In keinem Fall dürfen dadurch aber
individuelle Ansprüche ersetzt oder beschränkt werden: Auch in einer inklusiv gestalteten Umgebung wird es
Bedarfe geben, die am besten durch individuell gestaltete Unterstützung gedeckt werden.

Drucksache 18/2878 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Das Potenzial, dass in der Zusammenlegung individueller Leistungsansprüche durch die Leistungsberechtigten
liegt, ist im Bildungsbereich offensichtlich: An inklusiven Schulen tritt vermehrt das Phänomen auf, dass sich
in einer Klasse mehrere Integrationshelferinnen bzw. -helfer aufhalten, die aus leistungsrechtlichen Gründen
jeweils nur eine Schülerin bzw. einen Schüler unterstützen dürfen. Soweit es die Qualifikation und Kapazität
der Helferinnen und Helfer zulässt, muss es daher möglich werden, dass eine Helferin bzw. ein Helfer mehrere
Kinder und Jugendliche unterstützt. Zu prüfen ist, inwieweit dies auf andere Lebensbereiche übertragbar ist.

Zu 1i: Die bisherige Einrichtungszentrierung der Leistungen zur Teilhabe zeigt sich auch im Vergütungsrecht.
Während Anbieter ambulanter Leistungen nur die erbrachten und nachgewiesenen Leistungen bezahlt bekom-
men, erhalten stationäre Einrichtungen in der Regel pauschalierte Tagessätze, zum Teil auch für Tage, an denen
keine Leistungen erbracht werden. Stationäre Einrichtungen erhalten meist zusätzliche Pauschalen zur Refi-
nanzierung von Investitionen und für Leistungen, die bei ambulanter Leistungserbringung dem Lebensunterhalt
zugerechnet werden. Hier muss eine einheitliche Vergütungssystematik ohne Pauschalierungen geschaffen
werden. Investitionen müssen dann von allen Leistungserbringern in die Vergütungssätze eingerechnet und
Elemente des Lebensunterhalts dürfen nicht mehr als Leistung zur Teilhabe berechnet werden.

Zu 1j: Die negativen Folgen des seit langem kritisierten zersplitterten Rehabilitationssystems konnten ganz
offensichtlich seit Inkrafttreten des SGB IX nur wenig gemildert werden. Die Potenziale kommunaler Gestal-
tung – als die gesellschaftliche und politische Ebene, die den Bürgerinnen und Bürgern am nächsten liegt –
werden im Rehabilitationssystem bei weitem nicht ausgeschöpft. Wenn flexible und inklusionsorientierte Un-
terstützungsdienste für Menschen mit Behinderungen im Kontext barrierefreier Infrastruktur vor Ort entstehen
sollen, müssen diese kommunal geplant werden. Teilhabe muss zur übergreifenden Perspektive verschiedener
Planungsressorts werden.

Das Teilhabegesetz eröffnet die Chance, den lokalen Planungsauftrag für das Angebot an Diensten und Ein-
richtungen für Menschen mit Behinderungen gesetzlich zu stärken und ihn mit den sich aus der UN-Behinder-
tenrechtskonvention ergebenden Aufgaben der Kommunen zu verknüpfen. Darin liegt ein zukunftsweisender
Schritt zur Überwindung der Zuständigkeitsprobleme im Rehabilitationsbereich.

Zu 1l: Die Zahl der Menschen, die aus der WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln, ist verschwin-
dend gering. Im Zuge der Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes sind insbesondere vier Aspekte zu berück-
sichtigen, um den Wechsel aus der WfbM zu vereinfachen:

Erstens erhöht das sogenannte Budget für Arbeit die Chancen für einen Wechsel. Der behinderte Mensch ent-
scheidet dabei auf Wunsch selbst, wie das Geld, das sonst für seinen Werkstattaufenthalt gezahlt würde, ein-
gesetzt werden soll, um ihm einen Platz im Arbeitsleben zu schaffen und zu sichern. So eröffnen zum Beispiel
dauerhafte Lohnzuschüsse Menschen mit Behinderung Alternativen zur WfbM auf dem allgemeinen Arbeits-
markt in Form einer sozialversicherungspflichtigen und tariflich entlohnten Beschäftigung. Das Budget für
Arbeit hat für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf das Potenzial, den Automatismus aus Förderschule
und Werkstatt zu überwinden. Neben dem Wunsch- und Wahlrecht gilt auch hier das Wirtschaftlichkeitsgebot.
Das Budget soll im Regelfall etwa dem Betrag entsprechen, den der Träger der Eingliederungshilfe für einen
Platz in einer WfbM aufwenden muss, und auf Dauer angelegt sein. Das Budget für Arbeit ist damit keine neue
Leistungsart, sondern nur eine neue Form der Leistung. Indem sich die BA, der SGB-II-Träger und die Inte-
grationsämter mit den Mitteln der Ausgleichsabgabe am Budget für Arbeit beteiligen, sollen die Träger der
Eingliederungshilfe finanziell entlastet werden und eine gemeinsame Verantwortung für einen inklusiven Ar-
beitsmarkt sichergestellt werden. Die positiven Erfahrungen, die Niedersachsen und Rheinland-Pfalz mit dem
Budget für Arbeit machen, zeigen, welche Vorteile diese gemeinsame Verantwortung bietet und dass sie bun-
desweit eingeführt werden sollte.

Zweitens müssen die Leistungsberechtigten im Zuge der Schaffung des Bundesteilhabegesetzes die Wahl zwi-
schen verschiedenen Leistungserbringern erhalten, die je nach dem Unterstützungsbedarf auch unterschiedli-
che Angebotsspektren haben können. Dabei muss sichergestellt werden, dass kein Unterbietungswettbewerb
stattfindet, der sich negativ auf die Qualität der Leistung und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten nie-
derschlägt. Auch die Bundesregierung erklärte bereits im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Be-
hindertenrechtskonvention (NAP), die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Weiterentwicklung der Eingliederungs-
hilfe“ diskutiere, ob eine Möglichkeit geschaffen werden könne, bestimmte Leistungen auch bei Anbietern
jenseits der Werkstatt in Anspruch zu nehmen. Um dem allseits begrüßten und geforderten Grundsatz der Per-
sonenzentrierung gerecht zu werden, darf der Bezug von Leistungen nicht ausschließlich an die Institution
„Werkstatt für behinderte Menschen“ gebunden sein.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9 – Drucksache 18/2878
Drittens soll der gesetzliche Anspruch auf Weiterbildung, der bisher nur für den Berufsbildungsbereichs ga-
rantiert ist, auch nach Eintritt in den Arbeitsbereich einer WfbM weiterbestehen. Die Rehaträger sollen viertens
Leistungen in einer Werkstatt immer nur für einige Jahre befristet bewilligen und deren Notwendigkeit mithilfe
von nicht in einer WfbM arbeitenden Expertinnen und Experten regelmäßig überprüfen. Beide Maßnahmen
betonen den Charakter der Werkstätten als Einrichtungen zur Unterstützung und Qualifizierung von derzeit
nicht erwerbsfähigen Menschen mit Behinderungen.

Zu 1n: Derzeit haben voll erwerbsgeminderte behinderte Menschen nur dann einen Anspruch auf Aufnahme
in den Arbeitsbereich einer WfbM, wenn sie spätestens nach Abschluss der zwei, in Ausnahmefällen drei Jahre
im Berufsbildungsbereich ein „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ erbringen können
(§ 136 Abs. 2 SGB IX). Andernfalls besteht lediglich ein Anspruch auf Betreuung in Tagesförderstätten bzw.
-gruppen, die in Nordrhein-Westfalen in die WfbM integriert, in den übrigen Ländern jedoch in der Regel von
diesen getrennte Einrichtungen sind Dies ist in mehrfacher Hinsicht diskriminierend: Zum einen hängt der
Zugang entscheidend von der Ausrichtung der jeweiligen Werkstatt und – da für jeden Wohnort meist nur eine
WfbM zuständig ist (§ 137 SGB IX) – vom Wohnort ab. Auch wenn jede WfbM ein möglichst breites Spektrum
von Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bieten soll, zeigt der Blick in die Praxis deutliche Unterschiede. Dies
hat zur Folge, dass besonders außerhalb von Ballungsräumen Menschen nur deshalb in Tagesförderstätten bzw.
-gruppen untergebracht werden, weil die örtliche Werkstatt nicht den passenden Bildungsgang oder Arbeits-
platz bietet. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger erhalten 20 Pro-
zent der Menschen zwischen 18 und 65 Jahren, die im Rahmen der Eingliederungshilfe Leistungen zur Teilhabe
erhalten, diese in Tagesförderstätten bzw. -gruppen. Weiterhin ist die Frist von (einschließlich Eingangsver-
fahren) maximal drei Jahren und drei Monaten, innerhalb derer entschieden wird, ob eine Person im Arbeits-
bereich einer WfbM arbeiten wird, zu starr. Es ist mittlerweile belegt, dass Menschen mit bestimmten intellek-
tuellen Beeinträchtigungen nicht generell unfähig sind, bestimmte Tätigkeiten zu erlernen und auszuführen,
sondern entweder (deutlich) mehr Zeit dafür benötigen oder es erst in einem späteren Lebensabschnitt können.
In der Praxis ist ein späterer Wechsel von der Tagesförderstätte zurück in die Werkstatt insbesondere bei ge-
trennten Einrichtungen kaum möglich. Kritikerinnen und Kritiker sehen derartige Einrichtungen daher als Ab-
stellgleis und bloße Verwahranstalten.

Zu 1o: Seit Jahrzehnten machen viele Menschen mit Behinderungen die Erfahrung, dass es sehr schwierig ist,
im Rahmen der Eingliederungshilfe Leistungen zur sozialen Teilhabe zu erhalten. Teils wird argumentiert, die
Betroffenen seien durch den Besuch einer Werkstatt bereits in die Gesellschaft integriert, teils wird ein Vorrang
von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gegenüber Leistungen zur Teilhabe an der Gesellschaft behaup-
tet, der zum Besuch einer Werkstatt verpflichte. Das führt insbesondere für Personen, die gegenwärtig Leis-
tungen in Tagesförderstätten erhalten, zu Problemen: Auch Menschen, die tatsächlich nur in sehr geringem
Umfang oder gar nicht arbeiten können, müssen von einer Öffnung der WfbM für alle voll erwerbsgeminderten
Menschen profitieren. Für diese Personengruppe kann eine dem Bereich „Freizeitgestaltung“ zuzuordnende
Tagesstrukturierung wesentlich sinnvoller sein, wenn es darum geht, sie in ihrer Teilhabe zu stärken und zu
unterstützen. Daher muss leistungsrechtlich klargestellt werden, dass Leistungen zur sozialen Teilhabe gleich-
ranging mit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind.

Dass Leistungen zur sozialen Teilhabe vielfach verweigert werden, betrifft darüber hinaus einen weitaus grö-
ßeren Personenkreis. Assistenz, Unterstützung oder Gebärdensprachdolmetscher bei der Freizeitgestaltung
oder für ehrenamtliches oder politisches Engagement werden häufig mit der Begründung abgelehnt, dass die
in Frage stehenden Aktivitäten nicht notwendig seien. Bei erwerbstätigen behinderten Menschen wird wiede-
rum darauf verwiesen, dass die Kontakte am Arbeitsplatz ausreichend soziale Teilhabe böten. Und nicht er-
werbstätige behinderte Menschen bekommen beispielsweise häufig kein angepasstes Auto, wenn sie aufgrund
ihrer Behinderung zur Bewältigung ihres Alltags darauf angewiesen sind – die zuständigen Träger erklären,
ein entsprechender Anspruch existiere nur für Erwerbstätige.

Zu 1p: Zieht ein Mensch mit behinderungsbedingtem Unterstützungsbedarf vom Zuständigkeitsbereich eines
Sozialhilfeträgers in den eines anderen und nimmt Leistungen in der eigenen Wohnung in Anspruch, wechselt
die Zuständigkeit sofort. Es besteht lediglich ein Erstattungsanspruch für zwei Jahre gegenüber dem bisher
zuständigen Träger. Zieht derselbe Mensch jedoch in eine stationäre Wohneinrichtung, bleibt die Zuständigkeit
beim für den Herkunftsort zuständigen Träger (§ 98 Abs. 2 SGB XII). Dies schafft zusätzliche Anreize zur
Verweigerung ambulanter Leistungen beim neuen räumlich zuständigen Sozialhilfeträger.

Drucksache 18/2878 – 10 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Zu 1q: Die Leitbilder des Lebenslangen Lernens und der beruflichen Flexibilität sind inzwischen breit in der
Gesellschaft verankert. Der Anteil der Menschen, die während ihres gesamten Erwerbslebens denselben Beruf
ausüben, nimmt stetig ab. Die berufliche Weiterentwicklung wird auf vielfältige Weise, wenn auch noch lange
nicht ausreichend, gefördert.

Für Menschen mit behinderungsbedingtem Unterstützungsbedarf gilt dies nicht. Sie erhalten die entsprechende
Unterstützung nur bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss und lediglich in eng definierten Ausnah-
mefällen für eine inhaltlich und zeitlich direkt daran anschließende weitere Ausbildung. Eine berufliche Neu-
orientierung ist diesen Menschen nur dann möglich, wenn sie den bisherigen Beruf aus gesundheitlichen Grün-
den nicht mehr ausüben können. Selbst dann darf der neue Beruf nur auf derselben Qualifikationsstufe sein wie
der bisher ausgeübte. Diese Beschränkungen basieren fast ausschließlich auf verwaltungsinternen Richtlinien
der Leistungsträger und müssen durch eine gesetzliche Klarstellung beseitigt werden, da sie die davon betroffe-
nen Menschen mit Behinderungen unzumutbar benachteiligen. Allgemeinen Kursgebühren u. Ä. sind in diesem
Zusammenhang keine Leistungen zur Teilhabe.

Zu 2: Um die Gesellschaft inklusiv zu gestalten, sind über die bisher genannten leistungsrechtlichen Änderun-
gen weitere Maßnahmen nötig.

Zu 2a und 2b: WfbM und Wohnheime werden bisher aus Mitteln der Ausgleichsabgabe und verschiedener
Landesprogramme gefördert, dies gilt vor allem für Investitionen. Eine solche Förderung ist weder mit dem
Ziel der Inklusion noch mit dem Grundsatz der personenzentrierten Leistungserbringung vereinbar. Aus Mit-
teln der Ausgleichsabgabe sollen nur noch Maßnahmen und Projekte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, ein-
schließlich Integrationsbetriebe, gefördert werden. Die entsprechenden Landesmittel sind besser zur Förderung
des Aufbaus inklusiver Unterstützungsstrukturen im Quartier eingesetzt.

Zu 2d: Die großen bildungspolitischen Herausforderungen lassen sich nur in gemeinsamer gesamtstaatlicher
Verantwortung bewältigen. Gute Bildungspolitik ist immer auch Sozial-, Wirtschafts- und Integrationspolitik.
In der Bildung müssen Kooperationswege geöffnet werden, um mehr Teilhabe- und Aufstiegschancen zu er-
reichen sowie die Qualität und Leistungsfähigkeit unseres Bildungswesens zu steigern. Der flächendeckende
Ausbau guter und barrierefreier Ganztagsschulen, in denen alle Schülerinnen und Schüler ganztägig miteinan-
der und voneinander lernen, Wissen vertiefen und ihre Kreativität entfalten können, ist ein zentrales Instrument
für mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit und damit auch für eine inklusive Gesellschaft mit einem inklu-
siven Bildungssystem.

Zu 2e: Die berufliche Weiterentwicklung wird auf vielfältige Weise, aber noch lange nicht ausreichend geför-
dert. Zur Förderung des lebenslangen Lernens muss ein Gesetz zur Förderung der Aus-, Fort- und Weiterbil-
dung („Weiterbildungs-BAföG“) geschaffen werden. Darin muss für Menschen mit Behinderungen sicherge-
stellt sein, dass bei der Festlegung des Verhältnisses von Zuschuss und Darlehen ihre besonderen Bedarfe be-
rücksichtigt werden.

Zu 2f: Kurzfristig muss allen Schülerinnen und Schülern an Förderschulen die Chance gegeben werden, einen
regulären Schulabschluss zu erreichen. Dazu müssen die Länder die Grundlagen schaffen, dass alle Förder-
schulen die Möglichkeit zu einem qualifizierten Schulabschluss bieten. Nur so kann sichergestellt werden, dass
die Chancengerechtigkeit für Kinder mit Behinderungen nicht durch eine Schulwahl im Alter von 10 Jahren
endet, weil durch diese zum Ende der Schulpflicht kein Schulabschluss erreicht werden kann.

Zu 2g: Zu viele Jugendliche mit Behinderungen wechseln von der Förderschule direkt in die WfbM oder eine
Maßnahme des Übergangsbereichs. Die Gründe für diesen Automatismus sind vielfältig: Eine einseitige Be-
rufsberatung, zu wenig Unterstützung im Suchprozess und andere mehr. Die Beratung beim Übergang nach
dem Schulabschluss muss unter Einbeziehung aller Beteiligten verbessert werden.

Zu 2h: Das derzeitige Recht der Berufsausbildung ermöglicht die Gestaltung angepasster Ausbildungsgänge in
inhaltlicher Hinsicht. Ergänzend dazu muss es für Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit geben, jede
berufliche Ausbildung nicht nur zeitlich gestreckt, sondern auch in mehreren Etappen zu absolvieren. Hierzu
sind auch die Rahmenbedingungen für Lohnzuschüsse anzupassen.

Zu 2i: Um die in der Behindertenrechtskonvention verbriefte freie Wahl des Wohnorts für Menschen mit einer
Beeinträchtigung tatsächlich zu verwirklichen, bedarf es einer ausreichenden Zahl an Angeboten jenseits von
Heimen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass es ausreichend barrierefreien und rollstuhlgerechten Wohnraum
gibt. Bislang aber liegt das Angebot an entsprechendem Wohnraum in Deutschland weit unter dem Bedarf.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11 – Drucksache 18/2878
Ältere Menschen und Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung haben häufig Schwierigkeiten, be-
darfsgerechten Wohnraum zu finden. Nicht zuletzt der demographische Wandel mit der steigenden Anzahl
älterer Menschen, die um den bedarfsgerecht gestalteten Wohnraum konkurrieren, erfordert weitreichende An-
passungen des Wohngebäudebestandes.

Zu 2j: Inklusive Sozialräume und Quartiere können wesentlich dazu beitragen, niedrigschwellige Unterstüt-
zungsarrangements im selbst bestimmten Wohnumfeld zu schaffen und ggf. auch den Bedarf an individuellen
Unterstützungsleistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe reduzieren.

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