BT-Drucksache 18/2875

Solidarität im Rahmen der Tarifpluralität ermöglichen - Tarifeinheit nicht gesetzlich regeln

Vom 15. Oktober 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2875
18. Wahlperiode 15.10.2014
Antrag
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Markus Kurth, Corinna Rüffer, Britta Haßelmann, Dr. Thomas
Gambke, Matthias Gastel, Katja Keul, Sven-Christian Kindler, Lisa Paus und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Solidarität im Rahmen der Tarifpluralität ermöglichen – Tarifeinheit nicht
gesetzlich regeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Tarifpolitik der Gewerkschaften lebt von Solidarität. Starke Gewerkschaften
müssen ihre Durchsetzungsmacht auch für schwache Gruppen nutzen, um für die
gesamte Belegschaft Verbesserungen zu erkämpfen. Der solidarische Interessenaus-
gleich zwischen den verschiedenen Berufsgruppen hat aber Grenzen. Einige Berufs-
gruppen haben sich nicht ausreichend vertreten gefühlt und begonnen, eigene Tarif-
verhandlungen zu führen. Diese Tarifpluralität ist schon lange Realität und gehört
zu den Grundprinzipien einer Demokratie, denn alle Beschäftigten haben das Recht,
sich zu organisieren. Tarifpluralität erfordert aber auch Kooperationen, um gemein-
sam für faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Nur solidarisch kön-
nen alle Beschäftigten angemessen vertreten und in ihren Anliegen unterstützt wer-
den.
Solidarität lässt sich nicht verordnen und schon gar nicht gesetzlich erzwingen. So-
lidarität kann aber beschädigt werden. Und dies ist der Fall, denn seitdem das Bun-
desarbeitsgericht (BAG) vor vier Jahren im Juni 2010 den Grundsatz „ein Betrieb –
ein Tarifvertrag“ revidiert und die Rechtsprechung an die längst existierende Tarif-
pluralität angepasst hat, befeuert die andauernde Diskussion über eine gesetzliche
Tarifeinheit die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften. Es wird zwar immer
suggeriert, dass eine gesetzliche Tarifeinheit zu Ruhe in den Betrieben führt, doch
das Gegenteil ist der Fall. Eine gesetzlich normierte Tarifeinheit würde die Konkur-
renzsituation während des parlamentarischen Verfahrens und insbesondere nach In-
krafttreten weiter verschärfen. Der Kampf um die Mehrheit im Betrieb würde die
innerbetriebliche Solidarität erschweren, denn eine gesetzliche Tarifeinheit stellt ele-
mentar die Existenzberechtigung von Gewerkschaften in Frage.
Aus diesem Grund warnen namhafte Rechtswissenschaftler immer wieder vor einer
gesetzlichen Tarifeinheit. Erst kürzlich schrieb Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, Direktor
des Instituts für Öffentliches Recht der Universität Bonn und ehemaliger Richter des
Bundesverfassungsgerichts, in einem Gutachten „Wenn sich Arbeitnehmer eines be-
stimmten Berufs als Koalition zusammenschließen, um Tarifverträge auszuhandeln
und notfalls zu streiken, ist dies genau dasjenige Recht, das der Wortlaut des Art. 9
Abs. 3 GG garantiert.“ Die geplante gesetzliche Tarifeinheit ist somit ein Eingriff in
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die Koalitionsfreiheit und die ist ein verfassungsrechtlich garantiertes Grundrecht
und ein wesentlicher Grundpfeiler des Minderheitenschutzes. Vor allem tangiert eine
gesetzliche Tarifeinheit auch das Streikrecht. Würde der Tarifvertrag einer Minder-
heitengewerkschaft zukünftig keine Anwendung finden, dann könnte auch für ihn
nicht legal gestreikt werden, denn das Bundesarbeitsgericht fordert für jeden Streik
„ein tariflich regelbares Ziel“. Damit wäre die gesetzliche Tarifeinheit im Kern ein
Angriff auf das Streikrecht.
Solch ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Koalitionsfreiheit ist auch nicht not-
wendig. In den vergangenen vier Jahren nach dem BAG-Urteil sind weder neue re-
levante Berufsgewerkschaften entstanden noch haben die Arbeitskämpfe durch
Streiks von Berufsgewerkschaften zugenommen. Es sind keine negativen Folgen zu
beobachten, die einen solchen Schritt rechtfertigen würden. Vielmehr zeigt sich im-
mer wieder, dass funktionierende gerichtliche Kontrollmechanismen bestehen,
durch die unverhältnismäßige Streiks unterbunden werden.
Die zunehmende Zersplitterung der Tariflandschaft ist dennoch ein Problem. Ver-
antwortlich für die Erosion des Tarifsystems ist aber nicht die bestehende Tarifplu-
ralität, sondern vielmehr das Aufweichen von Flächentarifverträgen, Tarifflucht,
Mitgliedschaften ohne Tarifbindung, Ausgliederungen und das Ausweichen auf
Werkverträge. In Zeiten, in denen die Gestaltungsspielräume der Gewerkschaften
kleiner werden und die Durchsetzungsfähigkeit abnimmt, sind deshalb nicht eine
gesetzliche Tarifeinheit die logische Konsequenz, sondern soziale Leitplanken in der
Arbeitswelt. Gute politische Rahmenbedingungen stärken die Sozialpartner. Nur so
können im Rahmen der Tarifpluralität Kooperationen zwischen den Gewerkschaften
und schlussendlich Solidarität entstehen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

von ihren Plänen zur gesetzlich normierten Tarifeinheit Abstand zu nehmen.

Berlin, den 14. Oktober 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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