BT-Drucksache 18/1953

Menschenrecht auf gute Pflege verwirklichen - Soziale Pflegeversicherung solidarisch weiterentwickeln

Vom 1. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1953
18. Wahlperiode 01.07.2014

Antrag
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid
Hupach, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Ralph Lenkert, Cornelia Möhring,
Harald Petzold (Havelland), Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Katrin
Werner, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Menschenrecht auf gute Pflege verwirklichen – Soziale Pflegeversicherung
solidarisch weiterentwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Menschen, die auf Pflege und Assistenz angewiesen sind, haben einen Anspruch
darauf, bestmöglich gepflegt, versorgt und unterstützt zu werden. Pflege sollte
entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse erfolgen und nicht nach dem Prinzip
„still, satt und sauber“. Beschäftigte in der Pflege haben ein Recht auf gute Ar-
beitsbedingungen und faire Löhne. Angehörige brauchen die Sicherheit, dass ihre
Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde gut versorgt sind. Sie benötigen
Unterstützung, wenn sie selbst die Pflege ihrer Angehörigen oder Freundinnen und
Freunde übernehmen wollen.

Die Pflege zu stärken heißt, den Handlungs- und Entscheidungsspielraum von
Menschen zu stärken, die auf Pflege angewiesen sind oder diese leisten. Pflegebe-
dürftige Menschen und ihnen nahestehende Personen sind Expertinnen und Exper-
ten für ihre eigenen Bedürfnisse und müssen selbstbestimmt entscheiden können,
wo, von wem und auf welche Weise sie gepflegt werden. Die Leistungen der Pfle-
geabsicherung sind so auszugestalten, dass allen Menschen tatsächlich ermöglicht
wird, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie ambulante, teilstationäre oder stationä-
re Pflege- oder Assistenzleistungen in Anspruch nehmen wollen. Diese Selbstbe-
stimmung verlangt auch die rechtsverbindliche UN-Behindertenrechtskonvention.

Die Erfüllung dieser Ansprüche ist die Messlatte für eine erfolgreiche Pflegepoli-
tik. Eine wirkliche Stärkung der Pflege heißt, die Leistungen umfassend auszuge-
stalten, damit Menschen sich unabhängig von ökonomischen Zwängen für ihr je-
weiliges Pflegearrangement entscheiden können. Dafür ist die Absicherung des
Risikos Pflegebedürftigkeit auf eine solide und solidarische finanzielle Grundlage
zu stellen.

Doch die Bundesregierung zieht eine solche Stärkung der Pflegeversicherung nicht
in Betracht. Statt die pflegerische Verantwortung als gesellschaftliche Aufgabe zu
organisieren und zu finanzieren, muss die Hauptlast der pflegerischen Verantwor-
tung weiterhin privat getragen werden, und das sowohl in finanzieller Hinsicht als
auch in Form von sogenannter informeller (privater) Pflege und Betreuung.

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Gute Pflege darf nicht von den eigenen finanziellen Möglichkeiten abhängig sein.
Solange die Pflegeversicherung nur einen Teil der tatsächlich anfallenden Kosten
abdeckt, ist keine wirkliche Entscheidungsfreiheit gegeben. Daran wird sich auch
mit dem Pflegestärkungsgesetz nichts ändern.

Die Bundesregierung ist durch § 30 SGB XI verpflichtet, alle drei Jahre und erst-
mals 2014 die Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pfle-
geversicherung zu prüfen. Die nun geplanten Erhöhungen können nicht einmal den
unzureichenden Status quo aufrechterhalten. Die immer wieder formulierte Kritik
an den fehlenden Regeln für die Leistungsdynamisierung wird hiermit erneut be-
stätigt. Ohne einen Regelmechanismus bleibt die Sicherung der Werthaltigkeit der
Versicherungsleistungen abhängig von der (haushalts-)politischen Großwetterlage.
Leidtragende dieser Politik nach Kassenlage sind die Pflegebedürftigen und ihre
Angehörigen, die für die immer teurer werdende Pflege aufkommen müssen.

Die Organisation der pflegerischen Versorgung in Deutschland basiert in erster
Linie auf der Pflege durch Angehörige und das heißt wiederum mehrheitlich auf
der Pflege durch Frauen. Es sind vor allem Töchter, Schwiegertöchter oder Partne-
rinnen, die die Hauptlast der Pflege- und Sorgearbeit tragen: Zwei Drittel der rund
sechs Millionen pflegenden Angehörigen sind Frauen. Weibliche Pflegepersonen
sind zudem häufiger als männliche nicht oder geringfügig erwerbstätig. Frauen
geben häufiger als Männer ihre Erwerbstätigkeit für die Pflege von Angehörigen
auf. Solche Unterbrechungen führen zu Nachteilen für die künftige berufliche
Laufbahn und zu geringeren Rentenansprüchen im Alter. Um Altersarmut zu ver-
hindern, müssen Pflegezeiten bei der Berechnung des Rentenanspruches stärker
berücksichtigt werden. Das in der letzten Wahlperiode eingeführte Familienpflege-
zeitgesetz, das für eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sorgen sollte,
ist wirkungslos und hilft den Betroffenen nicht. Grund dafür ist vor allem der feh-
lende Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit.

Die meisten auf Pflege angewiesenen Menschen möchten in ihrer häuslichen Um-
gebung gepflegt werden. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass sie auch von
ihren Angehörigen oder ihnen nahestehenden Personen gepflegt werden wollen.
Oftmals reichen die finanziellen Möglichkeiten für eine professionelle Pflege nicht
aus. Damit eine Neuausrichtung der Pflege gelingt, muss das Leistungsniveau der
Pflegeversicherung deutlich angehoben werden. Das eröffnet die Möglichkeit, in
der häuslichen Umgebung bedarfsgerecht gepflegt zu werden und – wenn ge-
wünscht – stärker auf professionelle Pflege zurückzugreifen.

Der Alltag von Pflegekräften ist von Arbeitsverdichtung, starren Zeitvorgaben und
schlechter Bezahlung geprägt. Darunter leiden alle Beteiligten: das Pflegepersonal
und die zu pflegenden Menschen sowie deren Angehörige. Pflege ist eine schwere
und anspruchsvolle Arbeit, die gesellschaftlich anerkannt werden muss. Für eine
qualitativ hochwertige Pflege braucht es dringend mehr qualifizierte Pflegekräfte,
bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Bezahlung der Pflege(-fach)kräfte.
Die Pflegeberufe und deren Berufsausbildung müssen insgesamt attraktiver wer-
den. Nur so kann auch dem sich bereits abzeichnenden Fachkräftemangel entge-
gengewirkt werden.

Die vorgesehene Erhöhung der Zahl der Betreuungskräfte führt kaum zu einer
Entspannung der Arbeitssituation für Pflegefachkräfte. Denn deren Aufgabenspekt-
rum ist klar geregelt und umfasst keine originären Pflegetätigkeiten. Am Fachkräf-
temangel ändert sich durch mehr Betreuung nichts. Auf der anderen Seite führt die
Aufspaltung der Pflege- und Sorgearbeit in verschiedene Arbeitsprozesse dazu,
Tätigkeiten wie die soziale Betreuung und kommunikative und affektive Aspekte
der Arbeit, aber auch Aufgaben der Grundpflege, wie die Hilfe bei der Körperpfle-
ge oder der Nahrungsaufnahme, als unqualifizierte Arbeit abzuwerten. Sie werden
von der höher qualifizierten Pflegekraft auf weniger qualifizierte Betreuungs- oder

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Hilfspflegekräfte verlagert und erhalten damit nicht zuletzt in Form der Entlohnung
deutlich weniger Anerkennung. Dieser Paradigmenwechsel von einer umfassenden
Pflege hin zur Segmentierung der einzelnen Arbeitsschritte berührt damit nicht nur
unmittelbar das berufliche Selbstverständnis vieler Pflegekräfte, sondern trägt auch
zu einer weiteren Spaltung von Beschäftigtengruppen bei. Eine qualitativ hochwer-
tige, auf individuelle Bedürfnisse und die jeweilige Persönlichkeit der Menschen
mit Pflegebedarf eingehende Pflege bleibt auf der Strecke.

Der von der Bundesregierung geplante kapitalgedeckte kollektive Vorsorgefonds
geht an der Lösung der aktuellen Probleme vorbei. Die umlagefinanzierte Pflege-
versicherung wird geschwächt, weil heute dringend benötigtes Geld dem Umlage-
verfahren entzogen wird. Die Versicherten müssen doppelt zahlen: Zum einen für
den Aufbau des Kapitalstocks, zum anderen für die jetzige soziale Pflegeversiche-
rung. Auch die Probleme der Zukunft werden nicht gelöst. Die Kapitaldeckung
wirft neue Probleme auf und birgt angesichts der nach wie vor ungelösten Wirt-
schafts- und Finanzkrise und der langen Niedrigzinsphase hohe Risiken. Die Kapi-
taldeckung hat die Versprechen der Vergangenheit nicht eingehalten und wird sie
in absehbarer Zeit nicht einlösen. Mit dem Geld der Beitragszahlerinnen und -
zahler darf nicht spekuliert werden. Auch rückwirkend gilt: Wenn 1995 die Pflege-
versicherung mit Kapitaldeckung eingeführt worden wäre, gäbe es bis heute keinen
Rückfluss.

Dazu kommt, dass die Pflege- und Assistenzbedarfe nicht im gleichen Umfang
zunehmen müssen wie der Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft. Denn mit
der gestiegenen Lebenserwartung geht auch eine Verbesserung des Gesundheitszu-
stands älterer Menschen einher. Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, sinkt in
den jeweiligen Alterskohorten. Das bedeutet, Menschen werden gesund älter und
später pflegebedürftig. Zentrale Einflussfaktoren auf die Gesundheit sind in der
Bundesrepublik Deutschland noch immer Bildung, Einkommen und die berufliche
Position. Personen mit niedrigem Sozialstatus sterben in der Regel nicht nur früher
als Personen mit hohem Sozialstatus, sie werden auch deutlich eher pflegebedürf-
tig. Wirkliche Vorsorge muss an den Ursachen sozialer Ungleichheit ansetzen, um
die Gesundheit möglichst lange zu erhalten und um Pflegebedürftigkeit zu vermei-
den.

Damit die Pflegeabsicherung zukunftssicher ausgestaltet wird, müssen die Kosten
von Pflege und Betreuung gerechter verteilt werden. Die Umlagefinanzierung hat
sich bewährt. Nicht der demographische Wandel, sondern Umbrüche in der Er-
werbsarbeit sind ein zentrales Problem bei der Finanzierung: Erwerbslosigkeit und
gebrochene Erwerbsbiographien, ein sich ausweitender Niedriglohnsektor und
ausbleibende Lohnzuwächse führen dazu, dass die Beitragseinnahmen der Pflege-
versicherung langsamer wachsen als die Ausgaben. Zugleich wächst die Bedeutung
anderer Einkommensarten. Auf die relativ schnell wachsenden Kapitalerträge müs-
sen bislang fast keine Beiträge gezahlt werden. Mit der solidarischen Gesundheits-
versicherung (Bürgerinnen- und Bürgerversicherung) in der Pflege würde die Fi-
nanzierung sozial gerecht und zukunftsfest gestaltet. Der finanzielle Spielraum
würde geschaffen, um die großen Herausforderungen auf der Leistungsseite zu
bewältigen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich einen Gesetzentwurf für eine grundlegende Reform der Pflegeabsi-
cherung vorzulegen, der die nachfolgend genannten Punkte umfasst:

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1. Leistungen der Pflegeversicherung ausweiten und deutlich anheben

a) Das Teilkostenprinzip ist abzuschaffen zugunsten einer solidarischen Ausge-
staltung der Leistungen entsprechend der individuellen Bedürfnisse der Men-
schen mit Pflegebedarf. Als Sofortmaßnahme ist der Realwertverlust der Pfle-
geleistungen vollständig auszugleichen. Zusätzlich sind die Sachleistungsbe-
träge für die ambulante, teilstationäre und stationäre Pflege je Kalendermonat
sofort um weitere 25 Prozent zu erhöhen. Zur Sicherung der Werthaltigkeit der
Pflegeleistungen sind die Dynamisierungsregeln in § 30 SGB XI zu ersetzen
durch eine jährliche regelgebundene Leistungsdynamisierung, die sich zu zwei
Dritteln an der allgemeinen Lohnentwicklung und zu einem Drittel an der all-
gemeinen Preisentwicklung orientiert.

b) Für eine Neuausrichtung der Pflege, die sich an den Bedürfnissen der Pflege-
bedürftigen und ihrem individuellen Bedarf orientiert sowie gesellschaftliche
Teilhabe ermöglicht, sind der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue
Begutachtungsverfahren (vgl. Bericht des Beirats zur Überprüfung des Pflege-
bedürftigkeitsbegriffs (2009); Bericht des Expertenbeirats zur konkreten Aus-
gestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs (2013)) zügig gesetzlich zu
verankern und umzusetzen. Hierzu ist ein konkreter Zeitplan vorzulegen. Kog-
nitive und/oder psychische Einschränkungen müssen endlich genauso wie kör-
perliche Beeinträchtigungen mit erfasst werden. Pflege muss sich an den Men-
schen in ihrer jeweiligen Gesamtheit und damit am Grad ihrer individuellen
Selbstständigkeit und individuellen Ressourcen orientieren und nicht an ihren
jeweiligen Defiziten sowie am Zeitfaktor der alltäglichen Verrichtungen. Das
starre Pflegestufenmodell gilt es zu überwinden. Im Vordergrund muss statt-
dessen stehen, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und Alltagskompe-
tenzen zu stärken. Durch einen Bestandsschutz in Höhe des bisherigen Leis-
tungsanspruchs muss sichergestellt werden, dass durch die neue Begutach-
tungspraxis niemand im Vergleich zur bisherigen Einstufungspraxis schlechter
gestellt wird.

c) Die Möglichkeit von geschlechtersensibler und/oder kultursensibler Pflege und
Assistenz ist zu gewährleisten. Ebenso muss das neue Begutachtungsverfahren
eine Methode zur Bestimmung der Pflegebedürftigkeit von Kindern und Ju-
gendlichen enthalten. Rehabilitations-, Präventions- und Hilfsmittelbedarfe
müssen von der neuen Bedarfsermittlung ableitbar sein. Mit der Einführung
eines neuen Begutachtungsverfahrens ist auch das starre Pflegestufenmodell zu
überwinden.

2. Angehörige entlasten

a) Die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehrenamtliche sind zu verbes-
sern: Es ist eine sechswöchige durch die Arbeitgeber bezahlte Pflegezeit für
eine Erwerbstätige oder einen Erwerbstätigen einzuführen, die der Organisati-
on der Pflege und der ersten pflegerischen Versorgung von Angehörigen oder
nahestehenden Personen dient. Für Personen, die die Pflege dauerhaft über-
nehmen wollen, sind Teilzeitvereinbarungen und flexible Arbeitszeitregelun-
gen zu ermöglichen.

b) Die notwendige Infrastruktur ist weiter auszubauen, um eine professionelle,
unabhängige, wohnortnahe und barrierefreie Beratung, Anleitung, Unterstüt-
zung und Supervision auf hohem Niveau flächendeckend sicherzustellen.

c) Alternative Wohn- und Versorgungsformen für Pflegebedürftige sind weiter
auszubauen. Es ist darauf hinzuwirken, dass den Kommunen hierfür in ange-
messenem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/1953

d) Die Rentenversicherungsbeiträge für Zeiten der Pflege von Angehörigen sind
zu verbessern, damit die oft langjährige Pflege nicht zu Rentenlücken und Al-
tersarmut führt.

3. Pflege attraktiver gestalten – Pflegeberufe anerkennen

a) Die solidarische Gesundheitsversicherung in der Pflege eröffnet den finanziel-
len Spielraum, Pflegekräfte besser zu bezahlen. Damit Lohndumping in der
Pflege verhindert wird, ist als unterste Grenze ein flächendeckender gesetzli-
cher Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde einzuführen. Der gesetzliche Pflege-
Mindestlohn für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die überwiegend pfle-
gerische Tätigkeiten in der Grundpflege erbringen, ist in Ost- und West-
deutschland auf 12,50 Euro pro Stunde zu erhöhen. Um die Arbeitsbedingun-
gen attraktiver zu gestalten, sind die Arbeitsgestaltung, das Maß an Selbstbe-
stimmung, der Abbau von Belastungen, soziale Absicherung und Maßnahmen
zur Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf zu verbessern. Mini- und
Midijobs in der Pflege sind in reguläre und tariflich bezahlte Arbeitsplätze um-
zuwandeln.

b) In den ambulanten und stationären Einrichtungen ist eine ausreichende Aus-
stattung mit qualifiziertem Personal zu gewährleisten. Zur Sicherung der Qua-
lität in der Pflege ist ein bundesweit anzustrebender Standard über eine quali-
tätsbezogene Personalbemessung zu entwickeln. Bis dahin hat die Bundesre-
gierung gemeinsam mit den Ländern zu erreichen, dass mindestens die Hälfte
des Personals in stationären Einrichtungen oder ambulanten Pflegediensten aus
Fachkräften besteht.

4. Gerechte und stabile Finanzierung

a) Der Pflegevorsorgefonds ist nicht einzuführen und die steuerliche Förderung
der ergänzenden privaten Pflegeversicherung („Pflege-Bahr“) ist zu beenden.
Für die Versicherten ist in der fünfjährigen Karenzphase ein Rückabwick-
lungsrecht für die vorhandenen geförderten Zusatzverträge vorzusehen.

b) Eine solidarische Gesundheitsversicherung (Bürgerinnen- und Bürgerversiche-
rung) ist einzuführen, um langfristig die solidarische Finanzierung der Pflege-
absicherung zu gewährleisten und bestehende Gerechtigkeitsdefizite zu besei-
tigen. Finanziell starke Schultern müssen mehr tragen. Die anderen werden
entlastet. Die Versicherten zahlen einen festzulegenden Beitrag nach ihrer in-
dividuellen finanziellen Leistungsfähigkeit in die solidarische Gesundheitsver-
sicherung ein. Grundsätzlich werden die Einkommen aus unselbständiger und
selbständiger Arbeit sowie die weiteren Einkommensarten wie Kapital-, Miet-
und Pachterträge bei der Bemessung des Beitrags zur solidarischen Gesund-
heitsversicherung zu Grunde gelegt. Kapitalerträge und Zinsen bis zum Sparer-
Pauschbetrag (§ 20 Absatz 9 des Einkommensteuergesetzes) bleiben beitrags-
frei. Die Beitragsbemessungsgrenze ist abzuschaffen.

c) Die in Deutschland lebenden Menschen werden Mitglieder der solidarischen
Gesundheitsversicherung (Bürgerinnen- und Bürgerversicherung). Die private
Pflegeversicherung ist in die soziale Pflegeversicherung zu integrieren. Bei
Einkommen aus Löhnen und Gehältern hat der Arbeitgeber die Hälfte der Bei-
träge zu zahlen. Der zur Entlastung der Arbeitgeber bei der Einführung der
Pflegeversicherung abgeschaffte Feiertag wird wieder eingeführt oder eine an-
dere Maßnahme ergriffen, welche die Parität zwischen Beschäftigten und Ar-
beitgebern tatsächlich herstellt. Rentnerinnen und Rentner zahlen in der gesetz-
lichen Pflegeversicherung künftig nur den halben Beitragssatz; die andere
Hälfte wird aus der gesetzlichen Rentenversicherung beglichen.

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Berlin, den 1. Juli 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Pflegeversicherung ist unterfinanziert und kann als Teilleistungsversicherung nur einen geringen Teil der
tatsächlich im Pflegefall anfallenden Kosten übernehmen. Die Versorgungslücke zwischen den Leistungen
der Pflegeversicherung und dem tatsächlichen Pflegebedarf vergrößert sich seit der erstmaligen Durchfüh-
rung der Pflegestatistik 1999 stetig. Der monatliche Eigenanteil an den Pflegekosten steigt von Jahr zu Jahr.
Mittlerweile wird von der Pflegeversicherung nur noch deutlich weniger als die Hälfte der Gesamtkosten
übernommen. So beträgt in der stationären Pflege der monatliche Eigenanteil in der Pflegestufe I 1 370 Euro,
in der Pflegestufe II 1 556 Euro und in der Pflegestufe III 1 832 Euro bezogen auf die Gesamtkosten inklusi-
ve Unterkunft, Verpflegung und Investitionskosten. Immer mehr Menschen werden von der Unterstützung
ihrer Angehörigen abhängig. Wenn nicht genügend Einkommen oder Vermögen vorhanden sind, muss Sozi-
alhilfe (Hilfe zur Pflege) beantragt werden. Die zunehmende soziale Ungleichheit in der Versorgung führt zu
einer sozialen Schieflage, die dringend behoben werden muss.

Darüber hinaus liegt der Pflegeversicherung noch immer ein zu enger und vor allem einseitig verrichtungsbe-
zogener Pflegebegriff zugrunde, der schon bei der Einführung 1995 überholt war. Der im SGB XI verankerte
Pflegebedürftigkeitsbegriff kann den Pflege- und Betreuungsbedarf von Menschen mit psychischen und
demenziellen Erkrankungen nicht angemessen erfassen, weshalb sie auch nur sehr begrenzt anspruchsberech-
tigt sind. Bei der Pflege müssen aber selbstbestimmte Teilhabe, Ganzheitlichkeit und Alltagskompetenz im
Vordergrund stehen. Menschen mit psychischen und dementiellen Erkrankungen müssen endlich angemessen
in die Pflegeversicherung einbezogen werden. Perspektivisch müssen sich Pflege und Assistenz am individu-
ellen Bedarf des betroffenen Menschen orientieren.

Die geplante Anhebung des Pflegebeitrags um 0,3 Prozentpunkte reicht bei Weitem nicht aus, um gute und
umfassende Pflegeleistungen – auch für Menschen mit Demenzerkrankungen – zu ermöglichen und eine
echte Wahlfreiheit zwischen professioneller und informeller, zwischen häuslicher Pflege und Pflege in einer
Einrichtung herzustellen.

0,1 Prozent der Beitragserhöhung sollen in einen kapitalgedeckten Vorsorgefonds fließen. Doch kapitalge-
deckte Systeme sind keineswegs „demographiefester“ oder „demographieresistenter“ als das Umlageverfah-
ren. Schließlich müssen die angesammelten Vermögenswerte in ein paar Jahrzehnten wieder verkauft wer-
den. Hierzu bedarf es einer kaufkräftigen Nachfrage, die aus der Wirtschaftsleistung zum Zeitpunkt der Auf-
lösung des Vorsorgefonds finanziert werden muss. Die Kapitaldeckung als Ansparprinzip hat gegenüber dem
Umlageverfahren keinerlei Vorteile, sie schafft neue Risiken. Zudem belastet der Umstieg auf ein kapitalge-
decktes System die Versicherten doppelt: Zum einen müssten sie für den Aufbau des Kapitalstocks zahlen,
zum anderen für die jetzige soziale Pflegeversicherung.

Die solidarische Gesundheitsversicherung (Bürgerinnen- und Bürgerversicherung) in der Pflege sorgt für
soziale Gerechtigkeit und eine stabil finanzierte Pflegeabsicherung. Aufgrund der gleichartigen Ausgestal-
tung von privater und sozialer Pflegeversicherung bei gleichen Leistungen ist eine Zusammenführung in eine
integrierte Pflegeversicherung rechtlich und organisatorisch möglich. Mit einer wissenschaftlichen Studie
konnte nachgewiesen werden, dass der Beitragssatz trotz eingerechnetem Ausgleich des Realwertverlusts und
einer sofortigen Erhöhung der Sachleistungen um 25 Prozent dauerhaft unter 2 Prozent gehalten werden kann
(Bartsch, Klaus: Eine Simulationsstudie zu den kurz-, mittel- und langfristigen Entwicklungen der Beitrags-
sätze zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nach dem Konzept einer solidarischen Gesundheits-
versicherung der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, Neuendorf 2011). Finanzielle Sicherheit und die
Grundlage für eine weiterreichende Pflegereform sind also nachweislich solidarisch gerecht zu erreichen.

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