BT-Drucksache 18/1949

Bundesteilhabegesetz zügig vorlegen - Volle Teilhabe ohne Armut garantieren

Vom 1. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1949
18. Wahlperiode 01.07.2014

Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Katja
Kipping, Cornelia Möhring, Harald Petzold (Havelland), Azize Tank, Kathrin
Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich, Pia Zimmermann und
der Fraktion DIE LINKE.

Bundesteilhabegesetz zügig vorlegen – Volle Teilhabe ohne Armut garantieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Ein berufstätiger Mensch mit Behinderung, der beispielsweise auf persönliche
Assistenz angewiesen ist, aber Einkommen bezieht oder Vermögen besitzt, wird
gegenüber berufstätigen Menschen ohne Behinderungen diskriminiert. Lebt diese
auf Assistenz angewiesene Person allein, darf sie nur über 2 600 Euro Vermögen
verfügen, wenn sie nicht für die Assistenz eigenständig aufkommen will. Das An-
sparen für größere Ausgaben wie Urlaube oder Reparaturen ist damit unmöglich
ohne den Anspruch auf die Unterstützungsleistung zu verlieren. Zusätzlich wird
das erarbeitete Einkommen auch zu einem großen Teil für die Assistenzleistung
herangezogen. So werden diese Menschen lebenslang auf ein Level nur knapp über
dem Sozialhilfeniveau verwiesen. Diese verordnete Armut per Gesetz greift bei
Ehegatten, Lebenspartnerinnen bzw. Lebenspartnern und unterhaltsverpflichteten
Familienangehörigen ebenso. Sie dürfen gemeinsam mit dem Betroffenen nur über
3 214 Euro Vermögen verfügen. Menschen mit Behinderungen berichten auch von
viel zu langen Bearbeitungszeiten ihrer Anträge, von Zuständigkeitsgerangel sowie
von menschenunwürdigen Begutachtungsverfahren und unsensiblen Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern.

Für die gleichberechtigte und volle Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Leben
von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen besteht in der
Bundesrepublik Deutschland daher erheblicher Handlungsbedarf. Dies zeigt die
alltägliche Lebenssituation der betroffenen Menschen. Diese sind immer noch mit
erheblichen Benachteiligungen und strukturellen Diskriminierungen konfrontiert.
Darauf weisen Vertreterinnen und Vertreter von Verbänden, aus der Wissenschaft
und den Medien seit Jahren hin.

Im Gegensatz dazu schreibt die seit fünf Jahren rechtsverbindliche UN-
Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) menschenrechtliche Ansprüche für Men-
schen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen fest. Diese Rechte
werden jedoch unzureichend umgesetzt. Es fehlen sowohl angemessene Vorkeh-
rungen im Einzelfall als auch gesamtgesellschaftlich geeignete Maßnahmen. Teil-
weise sind sogar Rückschritte zu beobachten.

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Als geeignete Maßnahme zur Verbesserung der Situation fordern Verbände und
Betroffene seit fast acht Jahren ein Bundesteilhabegesetz (BTHG), dessen Eck-
punkte in der „Gemeinsamen Positionierung des Deutschen Behindertenrates, der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und der Fachverbände für
Menschen mit Behinderung zur Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes“ zusam-
mengefasst werden.

Der Koalitionsvertrag zwischen den Parteien von CDU, CSU und SPD kündigt nun
ein Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen an, das – auch Bun-
desteilhabegesetz genannt – im Jahr 2016 verabschiedet und noch in dieser Wahl-
periode in Kraft treten soll. Es ist unverständlich, warum die Vorlage dieses Geset-
zes angesichts so vieler Vorarbeiten weiter verzögert wird.

Ein zentraler Widerspruch ist schon jetzt offenkundig. Einerseits stellt die Bundes-
regierung die Regelungen dieses Gesetzes unter einen offenen Kostenvorbehalt
(siehe Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE. „Vorlage eines Bun-
desleistungsgesetzes zur vollen und wirksamen Teilhabe von Menschen mit Behin-
derungen“ – Bundestagsdrucksache 18/1121, S. 2 bis 3). Andererseits kündigten
einige Abgeordnete der SPD- und der CDU-Fraktion in der Bundestagsdebatte am
11.04.2014 sowie die Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller in einer Presse-
mitteilung vom 04.04.2014 Teilhabeleistungen außerhalb des Fürsorgesystems und
unabhängig von Einkommen und Vermögen an oder fordern diese. Gleichlautend
fordert auch die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Bentele, wie zuvor
die Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder in ihrer Düsseldorfer Er-
klärung vom 11. Juni 2013, Einkommen und Vermögen nicht anzurechnen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

zunächst ihre Eckpunkte für die Erarbeitung des Gesetzentwurfs unverzüglich
öffentlich vorzustellen und anschließend schnellstmöglich einen Gesetzentwurf für
ein Bundesteilhabegesetz vorzulegen, das noch in dieser Wahlperiode in Kraft tritt.
Der Gesetzentwurf sollte folgende wesentliche Grundsätze umfassen:

1. Zielstellung, strukturelle Verankerung und inhaltliche Ausgestaltung

a) Ziel muss die Gewährleistung der vollen und wirksamen Teilhabe aller
Menschen mit Behinderungen sein, gemäß der UN-BRK mit gleichen
Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben,
ohne dass ihnen eine Lebensform – zum Beispiel im Heim – aufgezwun-
gen wird.

b) Dafür muss flächendeckend eine soziale, inklusiv ausgestaltete Infrastruk-
tur und umfassende Barrierefreiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen
geschaffen sowie der Rechtsanspruch auf bedarfsgerechte, einkommens-
und vermögensunabhängige Teilhabeleistungen festgeschrieben werden.
Werden den Kommunen solche Aufgaben übertragen, müssen die entspre-
chenden finanziellen Mittel auch durch den Bund bereitgestellt werden.

c) Die Bedürftigkeitsprüfungen sind abzuschaffen. Behinderungsbedingte
Nachteilsausgleiche dürfen somit steuerrechtlich nicht als Einkommen der
Leistungsberechtigten bewertet werden.

d) Die gesetzliche Verankerung der Regelungen des BTHG sollte im Neun-
ten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) erfolgen. Die Normen zur Eingliede-
rungshilfe sind dazu an die Anforderungen der UN-BRK anzupassen und
aus dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) vollständig heraus-
zulösen. Der Behinderungsbegriff im SGB IX und im Behindertengleich-
stellungsgesetz (BGG) ist entsprechend der UN-BRK und der Internatio-

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nalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
(ICF) neu zu fassen.

e) Die Verantwortlichkeit für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ist
in der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII anzusiedeln (sogenannte
„große Lösung“). Dafür ist diese finanziell, personell und strukturell ent-
sprechend auszustatten.

f) Die Schnittstellenprobleme zu anderen Teilen des Sozialgesetzbuches,
zum Beispiel zu Regelungen im Fünften, Siebten und Elften Buch (SGB
V, SGB VII und SGB XI), sind im Sinne der Leistungsberechtigten prak-
tikabel zu lösen. Dafür ist im SGB V sicherzustellen, dass die Leistungen
sowie Hilfsmittel umfassend bereitgestellt werden. Das SGB XI muss teil-
habesichernd ausgebaut werden. Dazu ist eine grundlegende und umfas-
sende Reform der Pflegeversicherung nötig mit dem Ziel, die volle gesell-
schaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung zu gewährleisten. Leistungen
zur Teilhabe und Leistungen zur Pflege sind gleichrangig und ergänzen
sich gegenseitig.

g) Anspruch auf Leistungen sollten alle behinderten Menschen und von Be-
hinderung bedrohte Menschen haben, wie es in Artikel 1 Satz 2 der UN-
BRK definiert ist. Daraus folgt, dass die Leistungen unabhängig von Art
und Ursache der Behinderung gewährt werden und Benachteiligungen we-
gen Alters oder Herkunft ausgeschlossen sind.

h) Die Leistungen sind personen- und nicht ortsgebunden. Teilhabeansprüche
von Menschen mit Behinderung haben das Geschlecht, den Migrationshin-
tergrund und die sexuelle Vielfalt der Betroffenen ohne Benachteiligung
zu berücksichtigen.

i) Ansprüche und Bedarf müssen nach bundesweit einheitlichen Kriterien auf
Grundlage der ICF festgestellt werden. Verantwortliche Entscheidungs-
stellen sind einzurichten. Diese sind bundesweit einheitlich zuständig für
die Antragsannahme, Anspruchsprüfung und -feststellung sowie die Be-
darfsermittlung. Sie bewilligen die Leistungen und sichern die Leistungs-
verpflichtung der Rehaträger. Dieses Verfahren muss unter aktiver Betei-
ligung der Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen
diskriminierungsfrei ausgestaltet werden.

j) Die Leistungsgewährung erfolgt über die Entscheidungsstelle. Die festge-
stellten Ansprüche werden fiskalisch in Teilhabekonten dokumentiert und
die Leistungserbringung nach dem jeweiligen Sozialgesetzbuch von die-
ser Stelle organisiert. Mögliche Konflikte zwischen Leistungsträgern hin-
sichtlich Zuständigkeit und Finanzierung sind von der Entscheidungsstelle
zu lösen.

k) Beitragsfreie, wohnortnahe und von den Interessen der Leistungsträger
und Leistungserbringer unabhängige Beratung muss Teil des Leistungsan-
spruches sein. Diese sollte im Sinne „Betroffene beraten Betroffene“
(Prinzip des Peer Counseling) ausgestaltet werden. Die Beratungspflicht
der Leistungsträger bleibt davon unberührt. Die gemeinsamen Servicestel-
len nach § 23 SGB IX sind durch diese unabhängigen Beratungsstellen zu
ersetzen und wie die Beratungsleistungen aus Steuermitteln zu finanzieren.

2. Umfang der Leistungen

a) Im Zentrum der Teilhabeleistungen steht die bedarfsgerechte persönliche
Assistenz in jeder Lebenslage und -phase sowie in jedem gesellschaftli-
chen Bereich. Assistenz muss von der Kindertagesstätte über die Schulen
und Hochschulen bis hin zu Weiter- und Fortbildungen gewährleistet wer-
den. Der Assistenzanspruch gilt auch bei ehrenamtlicher Tätigkeit sowie

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für kulturelle Aktivitäten. Soweit notwendig, muss Rund-um-die-Uhr-
Assistenz ermöglicht werden.

b) Die Teilhabeleistungen sind so zu bemessen, dass die Assistenzkräfte fai-
re, gute und gesunde Arbeitsbedingungen vorfinden sowie ihre tarifliche
Entlohnung und Eingruppierung garantiert wird. Um Lohndumping zu
verhindern, ist als Untergrenze ein Mindestlohn festzusetzen. Ein Berufs-
bild Assistenz ist zu entwickeln und es sind Weiter- beziehungsweise
Fortbildungen nach bundesweit einheitlichen Standards zu ermöglichen.

c) Teilhabeleistungen können sich zusammensetzen aus einer Pauschale
(Teilhabegeld) und/oder aus Personal- und Sachkosten. Die beiden letzte-
ren müssen detailliert nachgewiesen werden. Andere, nicht behinderungs-
bedingte soziale Leistungen dürfen nicht angerechnet werden.

d) Behinderungsbedingte Sachkosten sind zu übernehmen. Das gilt für tech-
nische Ausstattung, Heil- und Hilfsmittel, Fahrt- und Reisekosten,
barrierefreie Gestaltung von Wohnraum sowie die behinderungsadäquate
Ausstattung von Personenkraftwagen. Die Entscheidung, welche einzelnen
Tätigkeiten oder Verrichtungen mittels Assistenz oder mithilfe technischer
Ausstattung ausgeführt werden sollen, obliegt grundsätzlich den An-
spruchsberechtigten.

e) Teilhabeleistungen im beruflichen Bereich sind weiterzuentwickeln. As-
sistenz- und Hilfsmittelansprüche gelten auch für Praktika und Arbeitsver-
hältnisse mit weniger als 15 Wochenstunden. Das Budget für Arbeit ist als
gesetzlicher Leistungsanspruch auszugestalten. Werkstätten für behinderte
Menschen müssen Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes ohne Diskriminie-
rung sein. Dies schließt besondere Nachteilsausgleiche ein: Ausschluss
von Kündigungen für die Dauer des Reha-Anspruchs und unbegrenztes
Rückkehrrecht in die geschützte Beschäftigung ohne den Verlust erworbe-
ner Rentenansprüche.

f) Finanzierung

Bisherige Leistungen nach verschiedenen Sozialgesetzbüchern und zivil-
rechtliche Ansprüche bleiben erhalten. Darüber hinausgehende Mittel zur
Teilhabesicherung werden aus Steuereinnahmen des Bundes finanziert.
Die zusätzlichen finanziellen Mittel können durch eine höhere Besteue-
rung von Reichen, Vermögenden und Konzernen erzielt werden. Bei der
Überführung bereits bestehender Nachteilsausgleiche für Menschen mit
Behinderungen in Teilhabeleistungen darf niemand schlechter gestellt
werden. Dies betrifft vorrangig das Blinden-, Sehbehinderten- und
Gehörlosengeld der Länder, Leistungen der Eingliederungshilfe und den
Behindertenpauschbetrag (Einkommensteuer).

Unabhängig davon sind Sozialversicherungen im Sinne der UN-BRK wei-
terzuentwickeln. Beispielsweise sind das SGB V und das SGB XI für eine
zukunftsfähige Finanzierung bedarfsdeckender Leistungen in eine solidari-
sche Bürgerinnen- und Bürgerversicherung zu überführen.

3. Aktive Beteiligung von Menschen mit Behinderungen

An der Ausarbeitung des Entwurfs des BTHG, an dem Gesetzgebungsverfahren
sowie an der Umsetzung und Kontrolle der zu schaffenden Regelungen sind Men-
schen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen und ihre Interessen-
verbände aktiv und öffentlich zu beteiligen.

Berlin, den 1. Juli 2014

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/1949

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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