BT-Drucksache 18/1498

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/909, 18/1489 - Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz)

Vom 21. Mai 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1498
18. Wahlperiode 21.05.2014

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Dr. Franziska Brantner, Ekin Deligöz, Katja Dörner, Britta Haßelmann,
Anja Hajduk, Maria Klein-Schmeink, Dr. Tobias Lindner, Brigitte
Pothmer, Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Ulle Schauws,
Dr. Julia Verlinden, Doris Wagner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/909, 18/1489 –

Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen in
der gesetzlichen Rentenversicherung
(RV-Leistungsverbesserungsgesetz)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die gesetzliche Rentenversicherung erlebt momentan eine Phase finanzieller und
demografischer Stabilität. Die gute Konjunktur, ein hoher Beschäftigungsstand und
nicht zuletzt die Dämpfung der Rentenanpassungen in den vergangenen zwölf
Jahren führten sowohl zu niedrigeren Beitragssätzen als auch zu einer Rekordrück-
lage der Rentenversicherung. Gleichwohl steht das System der Alterssicherung in
Deutschland vor großen Herausforderungen: Die steigende Lebenserwartung und
der demografische Wandel führen zu einer deutlich verlängerten Rentenbezugs-
dauer sowie einer immer größeren Zahl an Rentnerinnen und Rentnern, denen im-
mer weniger erwerbstätige Beitragszahlerinnen und -zahler gegenüber stehen.
Auch die Risiken, in Altersarmut zu rutschen, nehmen zukünftig deutlich zu. Das
Wachstum des Niedriglohnsektors, die stärkere Verbreitung atypischer Beschäfti-
gungsverhältnisse, die Abschaffung des Versicherungsschutzes im ALG-II-System
und vor allem die Absenkung des Rentenniveaus werden die Zahl der armen Rent-
nerinnen und Rentner ansteigen lassen wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen
werden. Politisches Handeln ist auch erforderlich, um zu verhindern, dass der An-
stieg der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre zu einer Rentenkürzung für diejenigen
wird, die aus unterschiedlichen Gründen ihren Beruf nicht bis zum regulären Ren-
teneintritt ausüben können. Mit diesen Herausforderungen verbunden bleibt die

Drucksache 18/1498 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Aufgabe, langfristig die finanzielle Stabilität und damit die Sicherheit und Akzep-
tanz der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleisten.
Es ist eine zentrale Frage der Generationengerechtigkeit, dass auch die heutigen
Versicherten eine realistische Aussicht auf ein angemessenes Rentenniveau haben
und vor Altersarmut geschützt werden. Gleichzeitig ist auf einen moderaten Bei-
tragssatzanstieg zu achten, um die Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber abzufedern. Unter den
genannten Voraussetzungen ist es erforderlich, sorgsam mit den mühsam erworbe-
nen finanziellen Spielräumen umzugehen und diese nicht leichtfertig aufs Spiel zu
setzen.
Jede rentenpolitische Initiative muss also vorausschauend die skizzierten Heraus-
forderungen in den Blick nehmen. Das vorliegende so genannte Rentenpaket von
Union und SPD ignoriert die drohende Zunahme von Altersarmut, schafft keine
allgemeine Möglichkeit flexibler Rentenübergänge und gefährdet auch noch in
fahrlässiger Weise die finanzielle Solidität der Rentenversicherung. Darüber hinaus
wirkt es kontraproduktiv im Kampf gegen den Fachkräftemangel und gefährdet die
in den letzten Jahren erreichten Erfolge bei der Beschäftigung Älterer. Zwar erhe-
ben Union und SPD mit dem Rentenpaket den Anspruch, Gerechtigkeitslücken zu
schließen und Lebensleistung besser anzuerkennen. Die Umsetzung dieses Anlie-
gens geht jedoch auf Kosten der Personengruppen, die es eigentlich am nötigsten
haben. Das Vorhaben geht an den sozialpolitisch vordringlichen Aufgaben vorbei.
Es ist zwar in der Tat nicht gerecht, wenn Eltern mit vor 1992 geborenen Kindern
geringere Rentenansprüche erhalten als solche mit nach 1992 geborenen Kindern.
Es ist auch nachvollziehbar, die Lebensleistung von Beschäftigten mit einem be-
sonders langen Erwerbsleben anzuerkennen. Und es ist nicht gerecht, wenn Perso-
nen von Armut bedroht sind, bloß weil sie aus gesundheitlichen Gründen nur noch
eingeschränkt arbeiten können.
Aber es ist mindestens genauso ungerecht, wenn gerade arme Eltern nichts von der
Mütterrente haben, weil sich ihre finanzielle Situation nicht verbessern kann, da
ihnen das zusätzliche Geld voll auf die Grundsicherung im Alter angerechnet wird.
Es ist ungerecht, wenn Personen auf Grund der Belastungen ihres Berufs noch
nicht einmal annähernd bis zum 63. Lebensjahr arbeiten können. Es ist ungerecht,
wenn ihnen der gleitende Übergang in die Rente versagt wird, weil entsprechende
Arbeitszeitmodelle fehlen. Es ist ungerecht, wenn ältere Beschäftigte keine Arbeit
mehr finden, weil nach wie vor Vorbehalte gegen ältere Bewerberinnen und Be-
werber in Betrieben und Unternehmen bestehen. Es ist ungerecht, wenn immer
mehr Menschen auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, weil die Rente
nicht mehr zum Leben reicht. Es ist ungerecht, wenn heutige Versicherte für ihre
Beiträge später immer geringere Renten erhalten. Und es ist ungerecht, wenn voll
erwerbsgeminderte Personen mit Rentenkürzungen bestraft werden, obwohl sie aus
gesundheitlichen Gründen weder den Zeitpunkt ihres Renteneintritts frei wählen
noch ihre Rente aufbessern können.
Auf all diese Ungerechtigkeiten gibt das vorliegende Rentenpaket von Union und
SPD keine Antworten. Im Gegenteil. Die Entscheidung, alle zusätzlichen Leistun-
gen über die Rentenkasse und nicht über Steuern zu finanzieren, engt den Spiel-
raum für weitere Leistungsverbesserungen auf Jahrzehnte hinaus ein. Leidtragende
sind darüber hinaus über ein geringeres Rentenniveau die Rentnerinnen und Rent-
ner sowie über höhere Rentenbeiträge die Beitragszahlerinnen und -zahler – insbe-
sondere in der Zukunft. So reduziert sich im Jahr 2030 die Netto-Standardrente auf
Grund niedrigerer Rentenanpassungen um rund 1,6 Prozent und das Netto-
Arbeitsentgelt durch den höheren Beitragssatz um rund 0,3 Prozent. Unter dem
Gesichtspunkt der Bedarfsgerechtigkeit muss das vorliegende Rentenpaket als
gescheitert angesehen werden. Die Verbesserungen kommen nicht da an, wo sie
besonders dringend gebraucht werden.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/1498

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

den vorliegenden Gesetzentwurf zurückzuziehen und einen Gesetzentwurf vorzu-
legen, der Antworten auf die in der Rentenpolitik vordringlichen Aufgaben gibt.
Hierfür gilt es
1. eine steuerfinanzierte Garantierente einzuführen, die langjährig Versicherte

durch ein Mindestniveau in der Rentenversicherung vor Armut schützt. Hier-
von profitieren insbesondere Frauen, die auf Grund von Zeiten der Kinderer-
ziehung sehr geringe Renten beziehen,

2. die Rahmenbedingungen für eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbsleben und
Elternschaft zu verbessern sowie die Arbeitswelt insbesondere für Frauen ge-
recht und sicher auszugestalten, so dass höhere eigenständige Rentenansprüche
erworben werden können,

3. die Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und -nehmer deutlich
zu verbessern, u. a. durch die Förderung von alterns- und altersgerechten Ar-
beitsbedingungen, z. B. durch die Verminderung von Stress,

4. individuelle Übergangslösungen in den Ruhestand zu ermöglichen, u.a. durch
die Möglichkeit einer Teilrente ab 60 Jahren,

5. auf die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten zu verzichten, wenn der Zu-
gang allein aus gesundheitlichen Gründen erfolgte,

6. die Erhöhung der Regelaltersgrenze von 63 auf 65 Jahre für den abschlagsfrei-
en Bezug einer Erwerbsminderungsrente sowie für schwerbehinderte Men-
schen zurückzunehmen,

7. die Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung bedarfsge-
recht zu finanzieren sowie dynamisch anzupassen sowie

8. die Einnahmeseite der gesetzlichen Rentenversicherung zu stärken, indem
diese mittelfristig zur Bürgerversicherung weiterentwickelt wird, in die alle
Bürgerinnen und Bürger, das heißt auch Beamtinnen und Beamte, Selbständige
und Abgeordnete, auf alle Einkommensarten unabhängig vom Erwerbsstatus
einzahlen.

Berlin, den 20. Mai 2014

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Nummer 1 und 2
Die Intention der Bundesregierung – durch die verbesserte Anrechnung der Erziehungszeiten für vor 1992
geborene Kinder um zwölf Monate – für mehr Gerechtigkeit zu sorgen und die Leistung der Mütter und Vä-
ter stärker anzuerkennen, ist nachvollziehbar.
Oftmals konnten oder können gerade Mütter auf Grund nicht vorhandener Betreuungsplätze keine Erwerbstä-
tigkeit bzw. nur eine geringfügige Erwerbstätigkeit ausüben. Dies hat Folgen für die Rente. Die Renten von
Frauen betragen im Durchschnitt kaum mehr als die Hälfte von denen der Männer. Die Einführung von Ren-
tenanwartschaften für Kindererziehungszeiten im Jahr 1984 war deswegen ein wichtiger Beitrag hin zu einer
Verbesserung der eigenständigen sozialen Sicherung insbesondere von Frauen.

Drucksache 18/1498 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Wenn heute allerdings Frauen mit vor 1992 geborenen Kindern geringere Rentenansprüche für Kindererzie-
hungszeiten erhalten als Frauen und Männer mit nach 1992 geborenen Kindern, so ist das – wie im Übrigen
jede Stichtagsregelung – ungerecht.
In Anbetracht der großen sozialpolitischen Herausforderung einer zunehmenden Altersarmut kann der von
der Bundesregierung vorgelegte Vorschlag allerdings nicht überzeugen. So erhalten zwar auch alle rund
300 000 Frauen mit vor 1992 geborenen Kindern, die auf Leistungen der Grundsicherung im Alter angewie-
sen sind, die sogenannte Mütterrente. Da dieses zusätzliche Geld jedoch voll auf die Grundsicherung ange-
rechnet wird, kann sich die finanzielle Situation dieser Frauen durch die Mütterrente nicht verbessern. Im
Übrigen wird dadurch eine bisher steuerfinanzierte Leistung, die Grundsicherung, durch eine beitragsfinan-
zierte Leistung ersetzt.
Problematisch ist nämlich ferner, dass die Kosten für die verbesserte Anrechnung von Kindererziehungszei-
ten in Höhe von rund 6,7 Mrd. Euro jährlich nahezu komplett aus Beitragsmitteln der gesetzlichen Renten-
versicherung finanziert werden sollen. Somit zahlen alle in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten
über höhere Rentenbeiträge und geringere Renten für die verbesserten Leistungen. Die in berufsständischen
Versorgungswerken versicherten Ärztinnen und Ärzte oder Abgeordnete müssen sich indes nicht an der Fi-
nanzierung beteiligen, erhalten aber, wenn sie Kinder erziehen, ebenfalls Leistungen der Rentenversicherung.
Bislang war es deshalb folgerichtig Auffassung des Gesetzgebers, die Anerkennung von Zeiten der Erziehung
als eine Leistung des Familienlastenausgleichs zu behandeln und somit über Steuern zu finanzieren (Bundes-
tagsdrucksache 10/2677). Die vorgesehene Beteiligung des Bundes an der Finanzierung ab dem Jahr 2019
stellt nicht mehr als einen symbolischen Beitrag dar.
Die nachträgliche Anhebung der Rentenanwartschaften für Kindererziehung führt außerdem dazu, dass die
geschiedenen Ehemänner den durchgeführten Versorgungsausgleich neu berechnen lassen können. Dies kann
den individuellen Anspruch der geschiedenen Mütter verringern und zusätzlichen Verwaltungsaufwand nach
sich ziehen.
Die sozialpolitisch vordringliche Aufgabe ist es, die Erziehungsleistung von eben solchen Frauen und Män-
nern besser anzuerkennen, die auf Grund von Zeiten der Kindererziehung sehr niedrige Renten erwarten. Das
Konzept der steuerfinanzierten Garantierente führt ein Mindestniveau von rund 850 Euro für Versicherte mit
30 oder mehr Versicherungsjahren innerhalb der Rentenversicherung ein (Antrag „Altersarmut bekämpfen -
Mit der Garantierente“ der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestagsdrucksache
17/13493). Indem - bis zum Inkrafttreten des Rechtanspruchs auf eine U3-Kinderbetreuung - Kindererzie-
hung bis zum 10. Lebensjahr des jüngsten Kindes bei den Mitversicherungszeiten mitgezählt werden, profi-
tieren insbesondere Frauen von dieser Rente. Im Gegensatz zur leidigen Debatte um die Anrechnung von
Arbeitslosenzeiten bei der abschlagsfreien Rente ab 63 werden bei der Garantierente Zeiten der Arbeitslosig-
keit, in denen keine Beiträge gezahlt wurden, Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit und Nichterwerbstätigkeit
wegen Schwangerschaft oder Mutterschutz auf die 30 Versicherungsjahre angerechnet. Maßnahmen gegen
Altersarmut müssen frühzeitig ergriffen werden, um langfristig eine Wirkung zu entfalten. Die grüne Garan-
tierente ist konzeptionell ausgereift, nachhaltig finanzierbar und kann sofort umgesetzt werden.
Die Rentenbiographien derjenigen, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, sind schon geschrieben. Prä-
ventive Maßnahmen allein reichen deshalb nicht mehr aus, um ihre Situation zu verbessern. Die Bürgerinnen
und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass sie als langjährige Versicherte der gesetzlichen Ren-
tenversicherung im Alter in der Regel nicht auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sein werden.
Von der Garantierente profitieren auch viele Frauen, die heute auf Leistungen der Grundsicherung im Alter
angewiesen sind. Ein Grundsicherungsbezug könnte in sehr vielen Fällen vermieden werden.
Darüber hinaus bedarf es Vorkehrungen in der Arbeitswelt, um insbesondere Frauen gleichberechtigte Mög-
lichkeiten zu eröffnen, höhere eigenständige Rentenansprüche zu erwerben. Arbeitszeiten und Arbeitsumfang
sind indes wenig flexibel und die Betreuungsinfrastruktur ist nicht ausreichend oder nicht in gewünschter
Qualität vorhanden. Auch sind Frauen in der Arbeitswelt noch immer häufig schlechter gestellt als Männer.
Ungleiche Bezahlung und unsichere Arbeitsverhältnisse sind für viele Frauen Realität. Frauen sind auch häu-
figer von Befristungen betroffen als Männer. Arbeit auf Zeit bedeutet oft geringere Bezahlung, weniger Wei-
terbildung und ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Atypische Arbeitsverhältnisse entwickeln sich viel-
fach zu einer beruflichen Sackgasse und erschweren darüber hinaus die langfristige Lebensplanung und Fa-
miliengründung.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/1498

Nummer 3 und 4
Die steigende Lebenserwartung sowie der demographische Wandel stellen das System der gesetzlichen Al-
tersversorgung vor große Herausforderungen. Einer deutlich verlängerten Rentenbezugsdauer sowie einer
immer größeren Zahl an Rentnerinnen und Rentnern stehen immer weniger erwerbstätige Beitragszahlerin-
nen und -zahler gegenüber. Um die Stabilität und Solidität der gesetzlichen Altersversorgung auch künftig zu
gewährleisten, hat sich der Gesetzgeber für eine schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 bis zum
Jahr 2029 entschieden. Diese Maßnahme dient der Stabilisierung des Beitragsaufkommens und soll die Ren-
tenhöhe sichern.
Die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze ist aber nur dann vertretbar, wenn auch die Beschäftigungs-
situation älterer Arbeitnehmerinnen und -nehmer verbessert wird. Zwar entwickelt sich die Situation Älterer
am Arbeitsmarkt positiv, sie ist jedoch bei weitem nicht zufriedenstellend. Ältere Arbeitnehmerinnen und -
nehmer sind noch immer überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen, weisen geringere Erwerbsbetei-
ligungsquoten als andere Altersgruppen auf und sind in der Weiterbildung unterrepräsentiert. Und obwohl
das übliche Erwerbsaustrittsalter in den letzten Jahren leicht anstieg, - für den Jahrgang 1945 liegt es im Mit-
tel bei 61 Jahren - ist es auch weiterhin weit von der Regelaltersgrenze entfernt. Wie lange Beschäftigte im
Job bleiben, hängt dabei stark vom Beruf und der Qualifikation ab. So zeigt etwa der Altersübergangsreport
1/2014, dass sich Berufsfelder, in denen viele Arbeiterinnen bzw. Arbeiter tätig sind, durch ein eher geringes
mittleres Erwerbsaustrittsalter auszeichnen.
Leider fehlt es bislang an koordinierten und differenzierten Strategien, um Personen das Arbeiten bis zum
Erreichen der Regelaltersgrenze zu ermöglichen. So gibt es zwar eine Vielzahl von Projekten, Initiativen,
Kampagnen und Kontaktpersonen, wenn es etwa um die Unterstützung bei der Ausgestaltung alterns- und
altersgerechter Arbeitsbedingungen geht. Inwiefern diese Stellen aber sinnvoller Weise so miteinander ver-
netzt werden können, dass es insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen leichter wird entsprechende
Ansprechpartnerinnen und -partner zu finden, bleibt offen (siehe Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17/5030).
Es fehlt ebenfalls eine Antwort auf die kontinuierlich steigenden arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen,
die mittlerweile zum Hauptgrund für Frühverrentungen wurden. Verantwortlich sind hierfür in nicht gerin-
gem Maße die Arbeitsbedingungen. Die Arbeitsintensität ist in den vergangenen Jahren nachweislich ange-
stiegen, gleichzeitig haben sich die Arbeitszeiten wieder verlängert. Flexible, nicht planbare Arbeitszeiten
sowie Schicht- und Nachtarbeit nehmen zu und immer mehr Menschen arbeiten auch am Wochenende. Da-
mit die Beschäftigten aber bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können, sind gute und gesunde Arbeitsbedin-
gungen notwendig. Mit einer Anti-Stress-Verordnung erhalten die Betriebe ein Werkzeug an die Hand, mit
dem sie erkennen, wie Stress am Arbeitsplatz entsteht und vor allem, wie er vermieden werden kann (Antrag
„Psychische Gefährdungen mindern - Alters- und alternsgerecht arbeiten“ der Bundestagsfraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN, Bundestagsdrucksache 17/10867).
Auch mangelt es an einer grundsätzlichen Neuausrichtung der betrieblichen Weiterbildung auf das Prinzip
des Lebenslangen Lernens. Nur so wird garantiert, dass die einmal erworbene Qualifikation den sich ändern-
den Arbeitsanforderungen entsprechend entwickelt. Das Bewusstsein sowie die institutionellen Vorausset-
zungen einer Umschulung auch für ältere Arbeitnehmerinnen und -nehmer, wenn aus gesundheitlichen Grün-
den der angestammte Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann, sind zudem kaum vorhanden. Es wird noch zu
wenig getan, um gegen die weiter bestehenden Vorbehalte gegenüber der Leistungsfähigkeit älterer Beschäf-
tigter vorzugehen. Der aktiven Arbeitsmarktpolitik fehlt es an personellen und materiellen Grundlagen, um
ältere Arbeitslose flächendeckend qualitativ hochwertig zu betreuen und zu vermitteln.
Eine weitere Antwort auf die Herausforderungen einer längeren Lebensarbeitszeit ist die Ermöglichung indi-
vidueller Übergangslösungen in den Ruhestand. Muss etwa die Arbeitszeit verkürzt werden, um einen länge-
ren Verbleib in Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, wäre eine Art Lohnersatz in Form einer vorgezogenen Teil-
rente für Menschen ab 60 wünschenswert. Auch hier fehlt es aber bislang an politischem Gestaltungswillen,
entsprechende Konzepte einzuführen.
Gleiches gilt für die Gefahr aufkommender Altersarmut, die durch eine Anhebung der Regelaltersgrenze
verschärft werden kann. Hier deuten Union und SPD im Koalitionsvertrag zwar eine „solidarische Lebens-
leistungsrente“ an, die allerdings mit so rigiden Anspruchsvoraussetzungen versehen ist, dass - wenn sie ob
des Finanzierungsvorbehalts überhaupt kommt - nur rund ein Prozent aller Rentnerinnen und Rentner von ihr
profitieren würden. Ein wirklich umfassendes und ganzheitliches Konzept, dass langjährig Versicherte vor
dem Gang zum Sozialamt schützt, stellt die „solidarische Lebensleistungsrente“ nicht dar.

Drucksache 18/1498 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Sollten Personen trotz allem aus gesundheitlichen Gründen nicht bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze
arbeiten können, benötigen sie eine Rente, die ohne Abschläge auskommt. Die von Union und SPD vorge-
schlagenen Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente gehen zwar in die richtige Richtung, reichen
aber bei weitem nicht aus, um dem hohen Armutsrisiko wirksam entgegenzutreten.
Gerade weil die Antworten auf die Herausforderungen einer längeren Lebensarbeitszeit so ganzheitlich und
differenziert zugleich sein müssen, kann die neue Rentenart einer abschlagsfreien Rente ab 63 für langjährig
Versicherte nicht überzeugen. Im Gegenteil. Die Personen, die in besonderem Maße unter den Herausforde-
rungen eines höheren Renteneintrittsalters leiden, profitieren in keiner Weise von dieser Regelung.
Angestellte in der Holz- und Kunststoffverarbeitung müssen im Durchschnitt bereits mit 59 Jahren aus dem
Erwerbsleben scheiden – oft unfreiwillig. Maurer bereits mit 61 Jahren. Oft müssen Angehörige dieser Be-
rufsgruppe eine Erwerbsminderungsrente beantragen – weit vor der Altersgrenze. Auch der prekär beschäf-
tigte Lagerarbeiter, der, statt eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auszuüben, unfreiwillig in
Scheinwerkverträge gedrängt wird, kommt nicht auf 45 Beitragsjahre. Ebenso geht es vielen Nachwuchsjour-
nalistinnen und -journalisten, die in den ersten Berufsjahren nur auf Honorarbasis arbeiten können. Sie alle
werden nichts von der Rente ab 63 haben, bezahlen die Leistungen des Rentenpakets aber mit höheren Ren-
tenbeiträge sowie geringeren Renten. Der Finanzierungsspielraum, um Leistungen für eben diese Gruppen zu
verbessern, wird durch das Rentenpaket eingeengt. Statt den Bedürfnissen nach Mitsprache beim Zeitpunkt
für den (teilweisen) Eintritt in den Ruhestand für alle Versicherten Rechnung zu tragen, führt die Bundesre-
gierung zudem Sonderaltersgrenzen für einzelne Geburtsjahrgänge ein. So sind von vornherein alle Beschäf-
tigten von der neuen Rentenart ausgeschlossen, die erst ab dem Jahr 1964 zur Welt gekommen sind.
Es ist unzweifelhaft richtig, dass Personen, die auf 45 Beitragsjahre kommen, hart gearbeitet und das System
der gesetzlichen Rente über Jahrzehnte gestützt haben. Ihnen gebührt Respekt und Anerkennung für ihre
Lebensleistung und ihnen sei der vorgezogene und abschlagsfreie Ruhestand individuell gegönnt. Wenn aber
nach Angaben der Bundesregierung künftig Jahr für Jahr 50.000 Personen unabhängig davon mit 63 in den
Ruhestand gehen, ob sie noch arbeiten können oder nicht, so ist dies genau die falsche Antwort auf eine stei-
gende Lebenserwartung und den demographischen Wandel. Die Zahl der Beitragszahlerinnen und -zahler
verringert sich, während die Zahl der Rentnerinnen und Rentner weiter ansteigt. In Zeiten des aufkommenden
Fachkräftemangels und nach jahrelangen erfolgreichen Bemühungen, die Beschäftigungsquoten Älterer zu
erhöhen weist die abschlagsfreie Rente ab 63 in die entgegengesetzte Richtung.
Die abschlagsfreie Rente ist darüber hinaus mit erheblichen verteilungs- und geschlechterpolitischen Effekten
verbunden. So kommt die neue Rentenart ganz überwiegend Frauen nicht zugute, die zudem über relativ
gesehen niedrige Rentenansprüche verfügen.

Nummer 5 bis 7
Wenn eine Person etwa auf Grund einer schweren oder chronischen Krankheit oder in Folge eines Unfalls
nicht bzw. nur noch stundenweise arbeiten kann, zahlt die Rentenversicherung eine Rente wegen voller bzw.
teilweiser Erwerbsminderung. Hierfür müssen entsprechende versicherungsrechtliche Voraussetzungen (in
Form von erbrachten Versicherungszeiten) erfüllt sein. Zudem wird geprüft, ob die Erwerbsfähigkeit nicht
durch medizinische oder berufliche Rehabilitation wieder hergestellt werden kann. Findet sich auf dem Ar-
beitsmarkt keine passende Teilzeitstelle, wird die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung in eine volle
Erwerbsminderungsrente umgewandelt.
Die Erwerbsminderungsrente ist eine sozialpolitische Errungenschaft. Der Anstieg der Rentenzugänge in den
vergangenen Jahren reflektiert (leider) die Realität des Arbeitslebens, die zunehmend durch Stress und Ar-
beitsverdichtung gekennzeichnet ist.
Bei der Berechnung der Rente zählen nicht nur die bisherigen Berufsjahre, sondern auch die Zeiten zwischen
dem Eintritt der Erwerbsminderung und dem vollendeten 60. Lebensjahr (sogenannte Zurechnungszeiten).
Muss die Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden,
wird der Zahlbetrag für jeden „zu früh“ in Rente gegangenen Monat um 0,3 Prozent (höchstens um 10,8 Pro-
zent) gekürzt (sogenannte Abschläge). Anlehnend an die Rente mit 67 Jahre erfolgt auch bei der Er-
werbsminderungsrente eine schrittweise Anhebung der Altersgrenze für den abschlagsfreien Rentenbeginn
von 63 auf 65 Jahre.
Während der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung die Funktion der Einkommensergänzung zukommt,
soll die Rente wegen voller Erwerbsminderung das Einkommen ersetzen. Die Bedingungen auf dem Ar-
beitsmarkt, etwa die Ausweitung des Niedriglohnsektors oder die Zunahme von Erwerbsunterbrechungen,

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/1498

sowie die Einführung von Abschlägen haben jedoch dazu geführt, dass die Zahlbeträge für volle Er-
werbsminderungsrenten seit Jahren sinken. Betrug die Erwerbsminderungsrente im Jahr 2001 im Bundes-
durchschnitt noch 676 Euro monatlich, lag sie im Jahr 2012 nur noch bei 607 Euro. In der Folge ist Er-
werbsminderung mittlerweile eine der Hauptursachen für die steigende Gefahr von Altersarmut. Rund 37
Prozent aller Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner sind von Armut bedroht.
Vor diesem Hintergrund ist eine Verbesserung der rentenrechtlichen Absicherung der Bezieherinnen und
Bezieher einer Erwerbsminderungsrente dringend geboten. Gerade weil die Erwerbsminderungsrente eine
unfreiwillige Form des Rentenzugangs darstellt, ist deren armutsfeste Ausgestaltung notwendig.
Die von der Bundesregierung vorgesehenen Änderungen gehen hierbei zwar in die richtige Richtung, sind in
der Summe aber ungenügend. Die Verlängerung der Zurechnungszeiten um zwei Jahre sowie die veränderte
Einordnung der letzten vier Jahre vor dem Eintritt der Erwerbsminderung stellen angesichts der hohen Ar-
mutsgefährdung eine eher bescheidene Korrektur dar. Zu diesem Urteil kommt selbst die Christlich-
Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA-Vorschlag „Erwerbsminderungsrente verbessern.
Sozialpolitisch wichtige Aufgabe innerhalb des Rentenpakets stärker gewichten“, 26. Februar 2014). In der
Konsequenz kann es nicht verwundern, dass sich die Änderungen bei der Erwerbsminderungsrente im Ver-
gleich zu den gesamten Mehrausgaben des Rentenpakets bescheiden ausnehmen. Schlagen bei der Renten-
versicherung bis zum Jahr 2020 insgesamt 60 Mrd. zu buche, macht der Anteil für Verbesserungen bei er-
werbsgeminderten Personen nur 5 Prozent aus. Dies entspricht 3 Mrd. Euro bis zum Jahr 2020.
Vollkommen zu Recht plädieren die CDU-Sozialausschüsse für eine andere Gewichtung innerhalb der Be-
standteile des Rentenpakets. Die sozialpolitisch vordringlichste Aufgabe, die Absicherung des Erwerbsmin-
derungsrisikos, müsse auch als vordringliche Aufgabe erkannt werden. Und auch die Deutsche Rentenversi-
cherung hielte eine noch weitergehende Verbesserung für sinnvoll (Stellungnahme zum RV-
Leistungsverbesserungsgesetz vom 15. Januar 2014).
Sinnvoll ist es etwa, auf die Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente dann zu verzichten, wenn der Zu-
gang allein aus gesundheitlichen Gründen erfolgte. Es ist nicht plausibel, dass Menschen, die auf Grund ihrer
gesundheitlichen Situation an ihrer Lage nichts ändern können und gezwungen sind einen Antrag auf Rente
zu stellen, mit Abschlägen bestraft werden. Dies gilt selbstverständlich auch für die Anhebung der Alters-
grenze für den abschlagsfreien Rentenbeginn von 63 auf 65 Jahre für erwerbsgeminderte und schwerbehin-
derte Personen. Dieser Schritt sollte rückgängig gemacht werden.
Um dem Grundsatz „Reha vor Rente“ umfassend umzusetzen und deutlich mehr Menschen vor der einge-
schränkten Erwerbsfähigkeit zu bewahren, müssen deutlich mehr Mittel zur Rehabilitation zur Verfügung
stehen. Die von der Bundesregierung vorgesehene Anpassung wird absehbar nicht ausreichen. Nur eine be-
darfsgerechte Finanzierung sowie eine dynamische Anpassung des sogenannten Reha-Budgets der gesetzli-
chen Rentenversicherung sind geeignet, Teilhabe am Arbeitsleben nachhaltig zu sichern.

Nummer 8
Eine gesetzliche Rentenversicherung, die alle einbezieht, auch Politikerinnen und Politiker, Beamte und
Selbständige, ist Ausdruck einer solidarischen und inklusiven Gesellschaft. Es ist eine Frage der sozialen
Gerechtigkeit, dass in der Alterssicherung alle, die sich in der gleichen wirtschaftlichen Situation befinden,
auch gleich behandelt werden. Nur in der gesetzlichen Rentenversicherung sind die Kontinuität des Versiche-
rungsschutzes gewährleistet und die Rentenanwartschaften durch den Generationenvertrag besonders verläss-
lich abgesichert. Gleichzeitig würde die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Rentenversicherung verbreitert.
Dies wäre eine von mehreren Antworten auf ein sinkendendes Rentenniveau sowie auf steigende Rentenbei-
träge.

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