BT-Drucksache 18/12804

Freiwilligendienste ausbauen und weiterentwickeln, Engagement anerkennen und attraktiver machen

Vom 21. Juni 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/12804
18. Wahlperiode 21.06.2017
Antrag
der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Dr. Konstantin von Notz, Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Britta Haßelmann, Dr. Tobias
Lindner, Brigitte Pothmer, Sven-Christian Kindler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Freiwilligendienste ausbauen und weiterentwickeln, Engagement anerkennen
und attraktiver machen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Freiwilliges Engagement ist der Kern einer lebendigen Zivilgesellschaft und stärkt das
Rückgrat unserer Demokratie. Freiwilligendienste sind eine besondere vertraglich ge-
bundene und zeitlich befristete Form des Engagements. Sie dienen nicht nur dem Ge-
meinwohl, sondern fungieren auch als Bildungs- und Orientierungszeit für die Frei-
willigen. Freiwilligendienste führen zu Begegnungen zwischen Menschen, die sich
sonst nie treffen würden und schaffen neue Horizonte, die sich sonst nie eröffnen wür-
den. Sie ermöglichen es auch, dass junge Menschen ins Ausland gehen (Outgoing)
oder aus dem Ausland zu uns kommen (Incoming) und verstärken dadurch den Effekt
des Voneinanderlernens, des interkulturellen Austausches und des Zusammenwach-
sens in einer weltoffenen und toleranten Gesellschaft. Gerade in Zeiten zunehmender
nationalistischer und fremdenfeindlicher Tendenzen leisten weltweite Freiwilligen-
dienste einen wertvollen Beitrag zur Völkerverständigung. Doch die Energie viel zu
vieler junger Menschen wird ausgebremst – zwei von drei BewerberInnen auf einen
Freiwilligendienstplatz bekommen eine Absage. Für das Freiwillige Ökologische Jahr
bewerben sich sogar sechs Personen auf einen Platz. Wir wollen, dass jeder junge
Mensch die Chance auf einen Freiwilligendienst in dem Bereich seiner Wahl hat. Sei
es im Sport, im Naturschutz, in der Kita, der Pflege oder im Kulturzentrum. In der
Heimat, am anderen Ende Deutschlands oder auf der anderen Erdhalbkugel. Engage-
ment lohnt sich überall und soll überall möglich sein. Dafür ist ein massiver Platzauf-
wuchs mitsamt entsprechender Finanzierung notwendig.
Angebote zum freiwilligen Engagement sollen allen gesellschaftlichen Gruppen of-
fenstehen. Freiwilligendienste müssen inklusiver werden. Hierzu gehören Teilzeit-
möglichkeiten genauso wie passgenaue Begleitprogramme; insbesomdere für Men-
schen mit besonderem Unterstützungsbedarf. Bisher werden Menschen mit Behinde-
rungen, die Freiwilligendienste absolvieren möchten, auch durch die Vorgaben des
Bundesteilhabegesetzes daran gehindert. Wir wollen mit gezielter Information, An-
sprache und finanzieller Förderung dafür sorgen, dass jeder seine Chance ergreifen
kann. Denn ein freiwilliges Jahr, an dem sich eine Vielzahl der jungen Menschen in

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unserem Land engagiert, schafft auch wieder Räume, Menschen mit verschiedener re-
gionaler, kultureller und sozialer Identität zusammenzubringen. Die Freiwilligen-
dienste bieten dazu eine einzigartige Chance.
Den Freiwilligendienst nach der Schule oder der Ausbildung nutzen viele junge Men-
schen, um sich zu orientieren, sich auszuprobieren und eine Idee für den weiteren Le-
bensweg zu bekommen. Um den Orientierungscharakter zu stärken und jeden Einzel-
nen bei der weiteren Lebensplanung zu unterstützen, soll das begleitende Bildungs-
programm qualitativ aufgewertet und durch zusätzlich finanzierte Bildungstage für ein
freiwilliges Coaching ergänzt werden. Hierzu gehören Angebote zur Berufsfindung,
Ausbildungs- und Studienplanung.
Im Rahmen eines Runden Tisches sollte der Bund gemeinsam mit den Ländern, Kom-
munen, Vertretern der Hochschulrektorenkonferenz und dem Bundesinstitut für Be-
rufsbildung sowie Vertretern der Träger, der Freiwilligen und der Zivilgesellschaft
Maßnahmen zur Stärkung der sozialen sowie inklusiven Öffnung der Freiwilligen-
dienste und der Anerkennungskultur erarbeiten. Ab sofort soll darüber hinaus jeder
junge Mensch, der nach der Schule oder der Ausbildung ein freiwilliges Jahr geleistet
hat, im Anschluss eine Starthilfe von 1500 € für den weiteren Weg ins Leben bekom-
men. Auch denjenigen, die sich bereits neben der Schule oder der Ausbildung mindes-
tens zwei Jahre in hohem Umfang regelmäßig ehrenamtlich engagieren, sollte eine
Starthilfe ermöglicht werden.
Freiwilligendienste sind in den Händen der Zivilgesellschaft am besten aufgehoben.
Die Träger sind die Qualitätsgaranten der jeweiligen Freiwilligendienste. Im Sinne des
Subsidiaritätsprinzips sollten deshalb das zivilgesellschaftliche Trägerprinzip in den
Jugendfreiwilligendiensten bewahrt und Bundesfreiwilligendienst und die internatio-
nalen Freiwilligendienste gestärkt werden. Die pädagogische Begleitung durch die
Trägerorganisationen ist für die TeilnehmerInnen der Freiwilligendienste eine zentrale
Komponente. So lernen die TeilnehmerInnen in den durch die Träger organsierten Bil-
dungsseminaren, sich auf den Einsatz vorzubereiten bzw. diesen zu reflektieren, mit
Herausforderungen umzugehen, Konflikte zu erkennen und zu lösen. Hier üben sie,
fremde Inhalte aufzubereiten, Vorträge zu halten, vor Gruppen sicher aufzutreten und
selbstständig Entscheidungen zu treffen. Die Träger sind damit ein wichtiger Rückhalt
für die TeilnehmerInnen. Die Träger spiegeln aber auch die thematische und inhaltli-
che Vielfalt wider, mit denen die Jugendlichen und Erwachsenen in Berührung kom-
men. Die im Bundesfreiwilligendienst angeordnete staatliche Organisation der päda-
gogischen Begleitphase für das In- und Ausland führt daher am Ziel vorbei – die Bil-
dungsarbeit sollte inkl. der sogenannten Seminare zur politischen Bildung nicht in
staatlicher Hand liegen, sondern von der Zivilgesellschaft selbst organisiert werden.
Sie verfügt über die Kompetenzen, die pädagogische Begleitung staatsunabhängig und
passgenau durchzuführen.
Wer sich früh im Leben engagiert, bleibt meist dabei. Die meisten Freiwilligen wollen
sich nach ihrem Freiwilligendienst weiter engagieren und suchen gezielt nach Einsatz-
möglichkeiten am neuen Studien- oder Ausbildungsort. Sie wollen aber auch die Bin-
dung an den eigenen Jahrgang und die Einsatzstelle nicht verlieren, die in dem Frei-
willigendienst sehr eng geworden ist. Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen
besteht der Wunsch, diese entstandenen Kontakte und Freundschaften aufrechtzuer-
halten und Erfahrungen weiterzugeben. Hier braucht es einen Ausbau und Förderung
der Alumni-Arbeit.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. entsprechend der hohen Nachfrage, 100.000 auf alle Formate verteilte zusätzliche
Freiwilligendienstplätze für unter 27-Jährige zu fördern und allen unter 27-Jähri-
gen nach dem freiwilligen Jahr einen Bonus von 1500 € für den Start ins Leben

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zu zahlen. Mit einer Informations- und Imagekampagne für alle Freiwilligen-
dienstformate sollen gezielt bisher unterrepräsentierte Zielgruppen angesprochen
und auf den Nutzen für die Gesellschaft, die Chancen und den persönlichen Mehr-
wert eines Freiwilligendienstes mit erweitertem Bildungs- und freiwilligem
Coachingprogramm aufmerksam gemacht werden;

2. gemeinsam mit den Ländern, Kommunen, Vertretern der Hochschulrektorenkon-
ferenz und dem Bundesinstitut für Berufsbildung sowie Vertretern der Träger und
der Zivilgesellschaft einen Runden Tisch zur Stärkung der sozialen sowie inklu-
siven Öffnung der Freiwilligendienste und der Anerkennungskultur einzuberu-
fen. Hierbei sollten Vorschläge zu folgenden Fragestellungen geprüft und erar-
beitet werden:
• welche Anreize und Unterstützungsangebote notwendig und hilfreich sind,

um bislang in den Freiwilligendiensten unterrepräsentierte Gruppen für einen
Freiwilligendienst zu gewinnen,

• wie im Freiwilligendienst erworbene Kompetenzen als Ausbildungs- oder
Studienleistungen anerkannt und zertifiziert werden können und ob bzw. wie
ein Jahr Freiwilligendienst zukünftigen Studierenden ein zusätzliches drittes
Wartesemester und einen bevorzugten Zugang zu einem Auslandssemester
oder ein Auslandspraktikum mit Erasmus Plus bringen kann,

• wie ein einheitlicher Freiwilligenausweis mit Vergünstigungen bei bundes-
weit relevanten Anbietern von Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen und
des ÖPNV ermöglicht werden kann und wie vorhandene Angebote von Ver-
günstigungen, insbesondere im öffentlichen Nahverkehr und bei der Deut-
schen Bahn AG ausgebaut, bekannt und transparenter gemacht werden kön-
nen;

3. das Gesetz über den Bundesfreiwilligendienst und das Gesetz zur Förderung von
Jugendfreiwilligendiensten (JFDG) so zu reformieren, dass bürokratische Hürden
und der Verwaltungsmehraufwand für die Träger und Zentralstellen verschiede-
ner Freiwilligendienstformate minimiert werden und damit folgende Punkte um-
zusetzen:
• Träger- und Subsidiaritätsprinzip stärken und Bürokratie abbauen: Es braucht

eine Vereinfachung und Angleichung des Antrags- und Abrechnungsverfah-
rens sowie eine möglichst einheitliche Finanzierung (Fördermittelbeantra-
gung und Nachweisführung) für die unterschiedlichen Freiwilligendienstfor-
mate. Administrative Vorgaben für die Beantragung und Abrechnung der Zu-
satzförderung von Freiwilligen mit besonderem Förderbedarf und Incom-
erInnen müssen erleichtert werden, um den Verwaltungsaufwand in Grenzen
zu halten. Der Katalog der zuwendungsfähigen Ausgaben sollte um Bewer-
bungs- und Vermittlungsverfahren sowie die Einsatzstellenakquise ergänzt
werden. Die Rechte und Pflichten von Trägern im Bundesfreiwilligendienst
müssen gesetzlich verankert werden.

• Freiwilligendienst inklusiv ausgestalten: für Menschen mit Behinderungen,
zur Vereinbarkeit von gesellschaftlichem Engagement und Familie und für
Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf – sei es durch Fluchterfah-
rung oder benachteiligende Lebensbiographien – muss der Freiwilligendienst
in Teilzeit ermöglicht werden. Assistenzleistungen für Menschen mit Behin-
derungen sollen, vorranging als Leistung des Bundesteilhabegesetzes, er-
möglicht werden. Es braucht darüber hinaus einen stigmatisierungsfreien und
niedrigschwelligen Zugang für Jugendliche aus benachteiligten Lebensver-
hältnissen. Geflüchteten muss es unabhängig von der individuellen Bleibe-
perspektive und dem Format des Freiwilligendienstes möglich sein, an einem
Freiwilligendienst teilzunehmen.

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• Das Bildungsprogramm qualitativ weiterentwickeln und mit einem
Coachingprogramm ergänzen: Träger und verbandliche Zentralstellen sollten
als Kompetenzzentren für die gesamte pädagogische Bildungsarbeit wirken
und müssen entsprechend finanziell ausgestattet werden. Dafür ist eine Um-
schichtung der bisherigen Fördermittel notwendig. Anstatt zentralisierte
Doppelstrukturen zu fördern, die die Trägerorganisationen in ihren Gestal-
tungsmöglichkeiten einschränken, sollten die Organisationen darin gefördert
werden, die politische Bildung in ihr pädagogisches Gesamtkonzept zu in-
tegrieren. Die Träger sollten prüfen, ob mitunter eine zielgruppenspezifische
Seminararbeit – beispielsweise für Geflüchtete – sinnvoll ist. Die isolierte
Seminarwoche „Politische Bildung“ an einem Bildungszentrum des Bundes
gehört abgeschafft bzw. in die Verantwortung der zivilgesellschaftlichen
Zentralstellen und ihrer Träger. Für junge Menschen unter 27 Jahren soll das
begleitende Bildungsprogramm der Träger durch ein freiwilliges Orientie-
rungscoaching ergänzt werden. Hierzu gehören Angebote zur Berufsfindung,
Ausbildungs- und Studienplanung.

• Leitlinien zur Arbeitsmarktneutralität: Viele Träger und Zentralstellen befin-
den sich mit den Gewerkschaften in einem fachlichen Diskurs zur Verstän-
digung über Leitlinien zur Arbeitsmarktneutralität. Die Erarbeitung und Ein-
haltung von Leitlinien zur Arbeitsmarktneutralität sollte darüber hinaus je-
doch verbindlich gesetzlich geregelt werden. Für Freiwillige und Mitarbei-
tende in den Einsatzstellen sind unabhängige Ombuds- und Beschwerdestel-
len einzurichten, an die Verstöße niedrigschwellig gemeldet werden können.

• Partizipation verbessern und die Alumni-Arbeit ausbauen: Freiwilligen-
dienstleistende sollten neben dem begleitenden Bildungsprogramm auch
strukturell zugesicherte Partizipations- und Einflussmöglichkeiten in den
Einsatzstellen erhalten. Das Sprecher-/-innensystem im Bundesfreiwilligen-
dienst ist dringend zu reformieren, um echte Wirkung der Partizipation ent-
falten zu können. Vorbild ist hier das FÖJ, das seit seiner Gründung 1986 als
Maßnahme der Demokratiebildung und zur Förderung der Gestaltungskom-
petenz für bürgerschaftliches Engagement konzipiert ist. Dies betrifft insbe-
sondere die Übergabe und den Wissenstransfair nach Neuwahl der Spreche-
rInnen. Trägerorganisationen sollten die Teilnehmerinnen auch nach Ab-
schluss des Freiwilligendienstes begleiten. Hierfür müssen entsprechende
Mittel und Infrastruktur bereitgestellt werden. Eine strukturierte Rückkehr-
bzw. Ehemaligenarbeit bietet sich beispielsweise durch Kooperationen mit
bestehenden Freiwilligenbörsen oder die Weitervermittlung an Gruppen der
eigenen Organisation am aktuellen Lebens- oder zukünftigen Studienort an.

• Taschengeld innerhalb einer Einsatzstelle angleichen: Unabhängig von dem
jeweiligen Freiwilligendienstformat sollten innerhalb einer Einsatzstelle ein-
heitliche Taschengelder ausgezahlt werden;

4. in allen Freiwilligendienstformaten adäquate Rahmenbedingungen für Freiwilli-
gendienstleistende aus dem Ausland (Incoming) zu schaffen. Die Zahl der geför-
derten Einsatzmöglichkeiten in Freiwilligendiensten für Interessierte aus dem
Ausland sollte sich den Zahlen derjenigen Deutschen, die für ihren Freiwilligen-
dienst ins Ausland (Outgoing) gehen, anpassen. Die pädagogische Begleitung,
Vor- und Nachbetreuung im Ausland ist anzuerkennen bzw. zu ermöglichen. Für
Drittstaatsangehörige müssen die Visavergabeprozesse deutlich erleichtert und
vereinheitlicht werden;

5. die internationalen Freiwilligendienste zu stärken. Dafür soll in den Richtlinien
der entsprechenden Programme das Subsidiaritäts- und Trägerprinzip verbindlich
implementiert wohlwollend umgesetzt werden. Die Verantwortung und Kompe-
tenz für die Umsetzung der Programme liegt bei den zivilgesellschaftlichen Ak-

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teuren. Die Bildungsarbeit und pädagogische Begleitung soll in die vollständige
Verantwortung der Träger überführt werden. Unterschiedliche Ansätze in der Bil-
dungsarbeit und Profile von Partnerschaften haben ihre Berechtigung. Der Cha-
rakter der internationalen Freiwilligendienste als informelle Lerndienste inkl. sei-
nes Beitrags zur Emanzipation junger Menschen muss erhalten werden.

Berlin, den 20. Juni 2017

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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