BT-Drucksache 18/11599

Einen armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn sicherstellen

Vom 21. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11599
18. Wahlperiode 21.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
Jutta Krellmann, Thomas Lutze, Thomas Nord, Richard Pitterle, Michael
Schlecht, Dr. Petra Sitte, Dr. Axel Troost und der Fraktion DIE LINKE.

Einen armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn sicherstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der gesetzliche Mindestlohn von gegenwärtig 8,84 Euro pro Stunde ist unzureichend,
um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Vollzeitbeschäftigung davor zu bewah-
ren, in Armut abzurutschen. Vor allem in Ballungszentren sind Beschäftigte trotz Min-
destlohn und Vollzeitarbeit regelmäßig auf Sozialleistungen (ergänzende Leistungen
für Erwerbstätige) angewiesen, weil sie mit ihrem Lohn die Miete nicht bezahlen könn-
ten.
Daneben hat das Mindestlohngesetz auch 2017 noch zahlreiche Lücken: Zeitungsbo-
ten müssen ebenso wenig den gesetzlichen Mindestlohn erhalten wie Angestellte in
der Land- und Forstwirtschaft oder in der Fleischindustrie, vollständig vom Gesetz
ausgenommen sind Praktikantinnen und Praktikanten im maximal dreimonatigen frei-
willigen Praktikum, in Pflichtpraktika und Langzeitarbeitslose.
Zugleich liegt der Mindestlohn deutlich unter der Niedriglohnschwelle von zwei Drit-
teln des mittleren Einkommens und trägt somit nicht dazu bei, die scharfe Ungleich-
verteilung der Einkommen auch nur teilweise zu nivellieren.
Mit Blick auf die Alterssicherung ist es für Empfänger von Mindestlohn nahezu un-
möglich, Rentenansprüche zu erwerben, die über die Grenze für die Grundsicherung
im Alter hinausgeht: Altersarmut ist vorprogrammiert.
Zudem trägt die gegenwärtige Höhe des Mindestlohns kaum zur Stärkung der Binnen-
nachfrage bei, die von internationalen Institutionen wie dem Internationalen Wäh-
rungsfonds und der EU-Kommission für Deutschland immer wieder angemahnt wird,
da Deutschland seit Jahren erhebliche Außenhandelsüberschüsse erwirtschaftet und
damit die Volkswirtschaften der Importländer massiv unter Druck setzt.
Ein signifikant höherer gesetzlicher Mindestlohn ist also aus verschiedensten Gründen
geboten: zur Armutsbekämpfung im Inland ebenso wie zum Abbau des exzessiven
Leistungsbilanzüberschusses.
Drucksache 18/11599 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der
a) das Mindestlohngesetz dergestalt geändert, dass der gesetzliche Mindest-

lohn auf 12 Euro je Zeitstunde erhöht wird (§ 1 Absatz 2),
b) klarstellt, dass der gesetzliche Mindestlohn dem regelmäßig gezahlten

Grundentgelt für eine Zeitstunde entspricht, Sonderzahlungen, Zulagen, Prä-
mien, Zuschläge, Sachleistungen oder Aufwendungsersatzleistungen zu-
sätzlich zum gesetzlichen Mindestlohn zu leisten sind,

c) sämtliche Ausnahmen, Einschränkungen und Übergangsregelungen für den
gesetzlichen Mindestlohn unverzüglich aufhebt, insbesondere nach § 22 des
Mindestlohngesetzes für Praktikantinnen und Praktikanten, vor Anstellung
Langzeitarbeitslose und Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung
sowie nach § 24 des Mindestlohngesetzes Übergangsregelungen für abwei-
chende Regelungen von Tarifverträgen sowie für Zeitungszustellerinnen
und Zeitungszusteller;

2. auf weitere Einschränkungen und Ausnahmen bei Gültigkeit und Anwendung des
gesetzlichen Mindestlohns zu verzichten und insbesondere von den Plänen Ab-
stand zu nehmen, für Flüchtlinge und Zuwanderer Sonderregelungen zu treffen
und nötigenfalls klarzustellen, dass der Mindestlohn ausnahmslos gilt;

3. Sorge zu tragen, dass die Einhaltung des Mindestlohns systematisch und flächen-
deckend kontrolliert und Verstöße zuverlässig geahndet werden.

Berlin, den 21. März 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/11599
Begründung

Trotz des zum 1. Januar 2015 eingeführten gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro und dessen mode-
rater Erhöhung zum 1. Januar 2017 auf 8,84 Euro brutto pro Stunde, hat sich die Armut in Deutschland verfestigt:
Mit monatlich 1445 Euro brutto (bei durchschnittlicher tariflicher Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden) liegt der
Mindestlohn weiter deutlich unter der international anerkannten Niedriglohnschwelle von zwei Dritteln des mitt-
leren Einkommens (in Deutschland für 2015 2056 Euro brutto, neuere Werte liegen noch nicht vor). Zwischen
dem Beginn der Neunzigerjahre und 2002/2003 lag die Lohnquote, also der Anteil der Löhne und Gehälter am
gesamten Einkommen einschließlich Gewinnen und Vermögenserträgen, recht stabil etwas über 70 Prozent, zeit-
weise bei knapp 72 Prozent. Im Jahr 2007, zum Ausbruch der Finanzkrise, lag die Lohnquote bei nur noch 63
Prozent und ist, trotz steigender Tendenz, mit 68 Prozent immer noch deutlich unter dem Niveau von 2002/2003
(Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, eigene Berechnungen). Aber auch in der
Gruppe der Lohnempfängerinnen und Lohnempfänger öffnet sich die Einkommensschere zusehends. Während
die Haushalte mit den höchsten Einkommen zwischen 1991 und 2014 Einkommenszuwächse von 27 Prozent
verzeichnen konnten, mussten die einkommensschwächsten Haushalte einen Verlust von acht Prozent hinnehmen
(DIW Wochenbericht 4/2017: Einkommensverteilung und Armutsrisiko).
Die Zahl der Niedriglohnempfänger steigt weiter: So lag der Anteil der Vollzeitbeschäftigten mit Niedriglohn
(zwei Drittel des mitterlen Einkommens) im Jahr 2015 bei mehr als vier Millionen – ein Fünftel aller Vollzeitbe-
schäftigten. 15 Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 16,8 Prozent, seither ist er kontinuierlich gestiegen (Quelle:
Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit zum 31.12.2015).
An dieser ungleichen Verteilung ändert auch der viel zu niedrige gesetzliche Mindestlohn wenig: Vor allem in
westdeutschen Ballungszentren und Universitätsstädten sind wegen des niedrigen Lohns viele Vollzeitbeschäf-
tigte zusätzlich auf Aufstockerleistungen angewiesen (ergänzende Leistungen für Erwerbstätige nach dem Zwei-
ten Sozialgesetzbuch): im Oktober 2015, zehn Monate nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, bezogen
knapp 170 000 Vollzeitbeschäftigte Aufstockerleistungen, weil der Lohn zu niedrig war, um Miete und Heizung
zu bezahlen.
Einen unmittelbaren Zusammenhang hat die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns mit der zu erwartenden Ren-
tenhöhe: Wer Zeit seines Lebens zum gesetzlichen Mindestlohn arbeiten muss, weil er keine besser bezahlte
Stelle findet, hat keine Chance, eine sichere Altersrente über der Grundsicherung aufzubauen. Nach Angaben des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wäre hierfür ein Stundenlohn von 11,68 Euro brutto erforderlich
(Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage Nr. 63, April 2016 von Klaus Ernst).
Jüngst vorgelegte Untersuchungen zeigen, dass knapp die Hälfte aller geringfügig Beschäftigten widerrechtlich
einen Lohn deutlich unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns erhält (WSI Policy Brief Nr. 9, 1/2017), für 20 Pro-
zent der geringfügig Beschäftigten ist der Verstoß gegen das Mindestlohngesetz bereits aus der vertraglich ver-
einbarten Arbeitszeit ableitbar: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssten bei Einhaltung des gesetzli-
chen Bruttostundenlohns (zum Zeitpunkt der Studie 8,50 Euro) für die vereinbarte Arbeitszeit ein Gehalt ober-
halb der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro monatlich erhalten.
Und auch außenwirtschaftlich betrachtet ist eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns dringend geboten: Seit
2013 steht Deutschland wegen seiner enormen Exportüberschüsse unter verschärfter Beobachtung und wird re-
gelmäßig von der EU-Kommission gerügt wegen der Verletzung der EU-Regeln zu makroökonomischen Un-
gleichgewichten – im vergangenen Jahr waren es nach Berechnungen des ifo-Instituts 8,6 Prozent des BIP. Die
Exportorientierung führt in anderen Staaten und besonders bei den europäischen Nachbarn zwangsläufig zu De-
fiziten: Deutschland exportiert mit den Produkten die Verschuldung gleich mit. Zur Stärkung der Binnennach-
frage, die vom Internationalen Währungsfonds ebenso wie von der EU-Kommission in diesem Zusammenhang
immer wieder gefordert wird, würde eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns erheblich beitragen.
Neben der erforderlichen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns greift der Antrag eine Initiative der Länder
Brandenburg, Hamburg und Thüringen im Bundesrat (Drucksache 316/16 vom 1.7.2016) auf. Diese Initiative
zielte darauf ab, ausschließlich das regelmäßig gezahlte Stundenentgelt als dem gesetzlichen Mindestlohn ent-
sprechend zu definieren, alle weiteren Zahlungen, etwa Prämien, Zulagen oder Urlaubsgeld wären also zusätzlich
zu zahlen. Der Bundesrat hat den Antrag am 23.9.2016 abgelehnt.

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