BT-Drucksache 18/10864

Diskriminierung bekämpfen - Verbandsklagerecht einführen

Vom 17. Januar 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10864
18. Wahlperiode 17.01.2017
Antrag
der Abgeordneten Cornelia Möhring, Sigrid Hupach, Frank Tempel,
Matthias W. Birkwald, Eva Bulling-Schröter, Nicole Gohlke, Dr. André
Hahn, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Susanna Karawanskij, Katja Kipping,
Jan Korte, Caren Lay, Petra Pau, Harald Petzold (Havelland), Martina Renner,
Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Dr. Kirsten Tackmann, Azize Tank, Kathrin
Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann (Zwickau), Pia Zimmermann und
der Fraktion DIE LINKE.

Diskriminierung bekämpfen – Verbandsklagerecht einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Seit nunmehr zehn Jahren hat Deutschland ein einheitliches Antidiskriminie-
rungsgesetz: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) trat am 18. Au-
gust 2006 in Kraft. Es soll helfen, Diskriminierungen aus rassistischen Gründen
oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltan-
schauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhin-
dern oder zu beseitigen. Auch zehn Jahre nach seiner Einführung ist Diskriminie-
rung in Deutschland immer noch kein Randphänomen. Nach einer im April 2016
veröffentlichten Untersuchung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat fast
jeder dritte Mensch in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren Diskriminie-
rung erlebt.

2. Zu der damals von Kritikerinnen und Kritikern vorhergesagten Klageflut ist es
nicht gekommen. In der umfangreichen, wenn auch nicht vollständigen juristi-
schen Datenbank juris finden sich nur etwa 1400 Fälle, in denen deutsche Ge-
richte das AGG bei der Entscheidungsfindung anwenden mussten. Auch ein wirt-
schaftsschädigender Anstieg der Bürokratiekosten konnte wissenschaftlich nicht
nachgewiesen werden. Dass sich so wenige Menschen dazu entschließen, gegen
eine erlebte Diskriminierung vor Gericht zu ziehen, ist nicht verwunderlich. Ne-
ben den finanziellen Hürden und der Schwierigkeit für die oder den Einzelnen,
eine Diskriminierung zu beweisen, stellt eine Individualklage eine enorme emo-
tionale Belastung dar, zumal häufig ein strukturelles Ungleichgewicht oder sogar
ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Beispielsweise dem eigenen Arbeitgeber
Diskriminierung vorzuwerfen, kann nicht nur das Arbeitsklima, sondern auch das
Arbeitsverhältnis gefährden.

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3. Die derzeitige Ausgestaltung des AGG ist nicht geeignet, das geltende Menschen-

recht auf Schutz vor Diskriminierung durchzusetzen. Die schwach ausgestalteten
Unterstützungsmöglichkeiten wie das Beschlussverfahren unter Beteiligung von
Betriebsräten oder Gewerkschaften in § 17 Abs. 2 AGG (auch „kleine Verbands-
klage“ genannt) oder die Beistandschaft nach § 23 AGG, die Diskriminierungs-
opfern den Beistand durch einen Antidiskriminierungsverband ermöglicht, wer-
den kaum genutzt. Es fehlt ergänzend zur individuellen Klage Betroffener ein
Klagerecht von Verbänden.

4. Insbesondere für einen effektiven Abbau von mittelbarer Diskriminierung aus
strukturellen Gründen ist ein Verbandsklagerecht im AGG notwendig. Dies zei-
gen in besonders deutlicher Weise die Erfahrungen mit den geschlechtsdiskrimi-
nierenden Arbeitsbewertungssystemen in Deutschland. Es existiert seit vielen
Jahren in der Entlohnung zwischen Frauen und Männern ein verfestigter Unter-
schied von mehr als 20 Prozent. Der größere Teil dieser Lohnlücke wird durch
strukturelle Ursachen bedingt. Bisher existiert hiergegen grundsätzlich nur die
Möglichkeit der Individualklage betroffener Frauen oder das oben genannte Be-
schlussverfahren durch Betriebsräte oder Gewerkschaften, von dem hauptsäch-
lich aufgrund von Interessenkonflikten kein Gebrauch gemacht wird. Es sind da-
her auch nur wenige Klagen auf geschlechtsneutrale Entgeltzahlung bekannt.
Selbst in erfolgreichen Verfahren erstreckt sich die Rechtskraftbindung der Ent-
scheidung nur auf die einzelne Klägerin. Die gegebenenfalls diskriminierenden
Entlohnungssysteme und Tarifvertragsstrukturen finden für alle anderen Beschäf-
tigten jedoch weiter Anwendung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf zur Änderung des AGG vorzulegen, mit dem
1. in § 23 AGG ein echtes Verbandsklagerecht implementiert wird. Es soll Antidis-

kriminierungsverbände, deren Qualifizierung nach festgelegten Kriterien zu be-
stimmen ist, Gewerkschaften und Vertretungen von Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern ermächtigen, Klage zu erheben auf Feststellung, dass gegen ein Dis-
kriminierungsverbot des AGG verstoßen wurde,

2. die sogenannte „kleine Verbandsklage“ in § 17 Abs. 2 AGG auch für qualifizierte
Antidiskriminierungsverbände und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes
geöffnet und nicht mehr nur bei groben, sondern bei allen Verstößen gegen das
AGG ermöglicht wird,

3. die derzeitigen Verfahrensfristen des AGG von nur zwei Monaten erheblich er-
weitert werden,

4. im Falle einer festgestellten Diskriminierung entsprechend der ständigen Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs den Angehörigen der benachteiligten
Gruppe die gleiche Behandlung zuteil wird wie den anderen („Anpassung nach
oben“) und

5. die Sanktionsmöglichkeiten den europarechtlichen Vorgaben angepasst werden,
wonach Sanktionen von Diskriminierungen wirksam, verhältnismäßig und ab-
schreckend zu sein haben und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ermäch-
tigt wird, wegen „opferlosen“ Verstößen gegen das AGG Sanktionen zu verhän-
gen.

Berlin, den 17. Dezember 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10864
Begründung

Verfahren kollektiver Rechtsdurchsetzung werden häufig als Fremdkörper im deutschen Rechtssystem bezeich-
net, das allein auf individueller Rechtsverfolgung basiere. Von diesem Prinzip wird aber seit langem und immer
häufiger abgewichen. In Deutschland gibt es die Verbandsklage bereits seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Be-
kämpfung des unlauteren Wettbewerbs im Jahr 1896. Seit 1965 gibt es im Gesetz gegen den unlauteren Wettbe-
werb (UWG) die Verbandsklage zum Zwecke des Verbraucherschutzes. Inzwischen besteht sie auch im Um-
welt-, Naturschutz- und Behindertengleichstellungsrecht, so dass von einer Systemfremdheit nicht mehr die Rede
sein kann. Der Einführung sowohl von echten Verbandsklagen als auch von Verfahren mit Beistandschaft oder
Prozessstandschaft lag auch bisher die Einsicht zugrunde, dass Machtasymmetrien eine effektive Rechtsdurch-
setzung verhindern können, und zwar in bestimmten Konstellationen besonders und strukturell.
Deshalb forderte die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, bereits zum fünften
Geburtstag des AGG ein Klagerecht für Verbände und die Antidiskriminierungsstelle, denn oft hätten Diskrimi-
nierungen keinerlei Konsequenzen, „das ist fatal für eine moderne Gesellschaft“. Zum zehnjährigen Jubiläum
des AGG ist nun ein ausführlicher Evaluationsbericht erschienen, der diese Forderung bekräftigt, um die Durch-
setzung von Antidiskriminierungsrecht nicht den strukturell Schwächeren zu überlassen.
Die Forderung nach einem Verbandsklagerecht gegen Diskriminierung wird ebenfalls vom Deutschen Gewerk-
schaftsbund (DGB) und vom Deutschen Juristinnenbund (djb) erhoben. Für ein Verbandsklagerecht zur wirksa-
men Rechtsdurchsetzung und Stärkung von Diskriminierungsrechten plädiert auch das Deutsche Institut für Men-
schenrechte und weist auf die Möglichkeit der strategischen Prozessführung hin. Diese biete „die Chance, über
den Einzelfall hinaus zu sozialer, politischer oder rechtlicher Veränderung beizutragen (…) Einem Verband ist
es nicht nur leichter möglich, ein unter Umständen langwieriges Gerichtsverfahren zu führen. Ein von Verbänden
geführtes Gerichtsverfahren ist vor allem in Fällen struktureller oder institutioneller Diskriminierungen sowie
zum Ausgleich von Machtungleichheiten unverzichtbar. Prozesse können in die Öffentlichkeit gebracht werden
und dienen so auch der Aufklärung und Sensibilisierung von Gerichten, Behörden und der Gesellschaft im Gan-
zen. Die rechtliche Durchsetzung von Diskriminierungsverboten ist dabei zwar nicht einziger, aber ein wesentli-
cher Bestandteil einer effektiven Nichtdiskriminierungspolitik“.
Das vom Betriebsrat oder von einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft einzuleitende Beschlussverfahren nach
§ 17 Abs. 2 AGG kommt unter anderem deshalb kaum zur Anwendung, weil die Betriebsräte als Angehörige des
Betriebs in der Frage von Arbeitsgerichtsprozessen eher zurückhaltend sind, oft fehlt ihnen auch noch die nötige
Sensibilität, um Diskriminierung zu erkennen. Als Interessenvertretung aller Beschäftigten können sie bei der
Durchsetzung von den Rechten Einzelner oder Teilen der Beschäftigten wie der Entgeltgleichheit außerdem in
einen Interessenkonflikt geraten. Deshalb ist es nötig, die Durchsetzung des Antidiskriminierungsrechts auch im
Arbeitsrecht ebenfalls den Antidiskriminierungsverbänden und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu er-
möglichen.
Das Beschlussverfahren nach § 17 Abs. 2 AGG erfordert das Vorliegen eines groben Verstoßes durch den Ar-
beitgeber. Dies erfordert, dass die grobe Pflichtverletzung objektiv erheblich und offensichtlich schwerwiegend
sein muss. Diese hohe Messlatte hat sich in der Rechtspraxis als problematisch erwiesen.
Die Frist zur Geltendmachung von Rechten nach dem AGG ist mit zwei Monaten außergewöhnlich kurz. Die
regelmäßige Verjährung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch beträgt dagegen drei Jahre. Gerade Opfer von Dis-
kriminierungen benötigen Zeit, die erlittene Persönlichkeitsverletzung zu verarbeiten und sich auf die Suche nach
einem Rechtsbeistand zu machen. Daher halten auch die Autorinnen und Autoren der Evaluation eine Verlänge-
rung auf sechs Monate für „dringend erforderlich“. Für eine Verlängerung auf sechs Monate sprechen sich auch
der DGB und der djb aus.
Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Diskriminierungsverbot des AGG verstoßen, sind nach
§ 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Das bedeutet, dass diskriminierende Regelungen in Tarifverträgen, Betriebsverein-
barungen oder Arbeitsverträgen nicht angewendet werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs (EuGH) ist dann auf die Mitglieder der durch diese Diskriminierung benachteiligten Gruppe die
gleiche Regelung anzuwenden wie auf die übrigen Personen. Dieses Prinzip der „Anpassung nach oben“ ist die
wirkungsvolle und logische Konsequenz einer Diskriminierung und soll auch im deutschen Recht verankert wer-
den.

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Drucksache 18/10864 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Für eine präventive Wirkung von Antidiskriminierungsrecht sind auch wirksame, verhältnismäßige und abschre-
ckende Sanktionen nötig. So fordern es auch die zugrunde liegenden EU-Richtlinien. Mit Beschränkungen auf
maximal drei Monatsgehälter etwa wird eine abschreckende Wirkung allerdings verfehlt. In Fällen „opferloser
Diskriminierung“ wie etwa diskriminierenden Ausschreibungen sollte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes
zur Verhängung von Bußgeldern ermächtigt und befähigt werden.

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