BT-Drucksache 18/10628

Kinder und Familien von Armut befreien - Aktionsplan gegen Kinderarmut

Vom 13. Dezember 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10628
18. Wahlperiode 13.12.2016
Antrag
der Abgeordneten Norbert Müller (Potsdam), Sabine Zimmermann (Zwickau),
Sigrid Hupach, Karin Binder, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke,
Dr. Rosemarie Hein, Jutta Krellmann, Ralph Lenkert, Thomas Lutze,
Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Harald Weinberg,
Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich, Pia Zimmermann und der
Fraktion DIE LINKE.

Kinder und Familien von Armut befreien ‒ Aktionsplan gegen Kinderarmut

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Kinderarmut ist nach wie vor eines der prägendsten und gravierendsten Probleme in
diesem Land und hat zuletzt noch zugenommen. Laut Mikrozensus waren im Jahr 2015
19,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren von Armut bedroht, wäh-
rend es 19 Prozent im Jahr 2014 waren. Armut schränkt Bildungschancen, gesundheit-
liche Entwicklung sowie kulturelle und soziale Beteiligungsmöglichkeiten von jungen
Menschen ein und wirkt sich auf das gesamte Leben aus. Ursachen und Folgen von
Kinderarmut sowie die Lebenssituation besonders von Armut betroffener Familien wie
Alleinerziehender und kinderreicher Familien sowie von Familien mit Migrationshin-
tergrund sind hinreichend untersucht. Was fehlt, sind wirksame Aktivitäten gegen Kin-
derarmut.
Hier bleiben die Maßnahmen der Bundesregierung weiter hinter ihren Möglichkeiten
zurück. Die aktuellen Erhöhungen des Kindergeldes sowie des Kinderzuschlages rei-
chen bei weitem nicht aus, um Kinderarmut wirksam zurückzudrängen und Kindern
ein Aufwachsen außerhalb von Armut zu ermöglichen. Die Ungerechtigkeiten in der
Familienförderung, die Kinder gut verdienender Eltern durch Kinderfreibeträge stär-
ker unterstützt als Kinder Erwerbsloser oder mittlerer Einkommensbeziehender, wer-
den nicht angetastet. Zu viele Anspruchsberechtigte verzichten auf Grund von ange-
drohten Sanktionen bzw. hohem bürokratischen Aufwand auf ihnen zustehende Un-
terstützung wie Hartz-IV-Leistungen oder den Kinderzuschlag. Sanktionen im Hartz-
IV-Leistungsbezug bringen arme Familien regelmäßig an den Rand der Existenz. Die-
ser Zustand ist für einen demokratischen Sozial- und Rechtsstaat nicht hinnehmbar.
Auch die Hartz-IV-Regelsätze und die für 2017 angekündigten minimalen Erhöhun-
gen helfen keinem Kind aus der Armut. Hier muss deutlich mehr geschehen.
Die Bundesregierung hat die Chance verstreichen lassen, ein umfangreiches Konzept
gegen Kinderarmut vorzulegen. Die laufende Wahlperiode ist bislang eine verlorene
Zeit für den Kampf gegen Kinderarmut und Armut in Familien. Dies muss sich drin-
gend ändern. Auch die Nationale Armutskonferenz hat jüngst Handlungen angemahnt

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wie die Neuberechnung des Existenzminimums, einen Abbau von Ungerechtigkeiten
in der Familienförderung sowie den Zugang zu Sozialleistungen durch Bündelung an
einer Stelle einfacher zu gestalten (http://caritas.erzbistum-koeln.de/export/sites/cari-
tas/dicv-koeln/.content/.galleries/downloads/diverses/erklaerung-kinderarmut.pdf).
Auf die bestehende Kinderarmut muss mit einem mehrdimensionalen und mehrjähri-
gen Aktionsplan geantwortet werden. Familien brauchen Unterstützung zur Selbster-
mächtigung aus der Armut. Dafür müssen die Rechte der Kinder und Familien ge-
stärkt, der Zugang zu Leistungen und sozialer Infrastruktur verbessert sowie die sozi-
alen Sicherungssysteme ausgebaut und armutsfest gestaltet werden.
Der Schlüssel dafür liegt in einer Kindergrundsicherung, die monetäre Leistungen und
infrastrukturelle Angebote umfasst und dabei die individuellen Bedarfe und Bedürf-
nisse der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt. Grundstein der Kindergrundsiche-
rung ist ein deutlich erhöhtes Kindergeld in Höhe von 328 Euro. Das neue Kindergeld
entspricht dem maximalen steuerlichen Entlastungsbetrag und ersetzt diesen. Durch
die Überführung der Kinderfreibeträge wird das Kindergeld zu einer sozialpolitischen
Leistung für alle Kinder. Damit ist sichergestellt, dass alle Kinder dem Staat gleich
viel wert sind.
Im Rahmen der Kindergrundsicherung werden alle bestehenden monetären Sozialleis-
tungen armutsfest erhöht und ausgeweitet. Die soziale Infrastruktur wird ausgebaut.
Mit Familienstellen müssen neue niedrigschwellige Anlaufstellen für Familien ge-
schaffen werden, in denen der Zugang und die Beratung zu allen monetären Leistungen
gebündelt und der Zugang zu Infrastrukturangeboten wie Kinderbetreuung verbessert
werden. Damit wird Transparenz hergestellt und der Zugang zu Sozialleistungen er-
leichtert. Die Familienstellen werden die Anlaufstellen für die Leistungen der Kinder-
grundsicherung.
Damit wird materielle Kinderarmut wirksam bekämpft und allen Kindern gesellschaft-
liche Teilhabe ermöglicht. Ebenso muss die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbes-
sert, Mindestlohn und Tarifbindung erhöht und prekäre Beschäftigung zurückgedrängt
werden. Die Zeitsouveränität der Familien muss gestärkt werden, damit Familien und
deren Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. umgehend einen mehrjährigen und umfassenden Aktionsplan gegen Kinderarmut
aufzulegen, der die Vielschichtigkeit von Armutslagen berücksichtigt und mehr-
dimensionale Lösungsmöglichkeiten beinhaltet, um alle Kinder und Jugendlichen
sowie ihre Familien aus der Armut zu befreien. Dabei müssen die Belange von
besonders von Armut gezeichneten Regionen, von Alleinerziehenden, von kin-
derreichen Familien sowie von Familien mit Migrationshintergrund berücksich-
tigt werden;

2. die sozialen Sicherungssysteme gegen Kinderarmut auszubauen und hierfür Ge-
setzentwürfe vorzulegen. Dabei müssen folgende Prämissen erfüllt werden:
a) die sozialen und monetären Leistungen müssen Armut von Kindern und Ju-

gendlichen sowie deren Familien ausschließen;
b) der Bezug von sozialen und monetären Leistungen muss sanktionsfrei sein

und darf weder stigmatisieren noch diskriminieren;
c) die Leistungen inklusive Beratung müssen zu den Familien kommen und

entbürokratisiert werden, damit niemand wegen Unwissenheit oder Angst
vor Bürokratie auf Leistungen verzichtet und die Leistungen bei allen Kin-
dern, Jugendlichen und Familien ankommen;

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d) die familiäre Situation muss insbesondere bei komplexen Problemlagen
ganzheitlich betrachtet werden und in Gänze Unterstützung im Sinne des
SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) finden;

3. eine eigenständige Kindergrundsicherung für alle Kinder und Jugendlichen ein-
zuführen und hierfür Gesetzentwürfe vorzulegen, die sie aus der Armut befreit,
ihnen gute gesellschaftliche Teilhabe- und Entfaltungsmöglichkeiten bietet und
vor Ausgrenzung und Diskriminierung schützt. Die Bedarfe von Kindern, Ju-
gendlichen und Familien unterscheiden sich nach Lebensform und familiärer Si-
tuation (wie z. B. bei Alleinerziehenden), Alter, Wohnort (Unterkunftskosten und
soziale Infrastruktur), Förderungsbedarf sowie Teilhabemöglichkeiten und müs-
sen mit einer eigenständigen Kindergrundsicherung individuell gedeckt werden.
Um die Bedarfe zu decken hat ein Ausbau der bestehenden sozialstaatlichen In-
strumente zu erfolgen. Dabei sind pauschale Geldleistungen zu bündeln. Es muss
sichergestellt werden, dass die Angebote und Sozialleistungen bei den Betroffe-
nen ankommen, ein niedrigschwelliger und barrierefreier Zugang sichergestellt
ist und die Quote der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen auf nahezu
Null gesenkt wird. Die eigenständige Kindergrundsicherung umfasst den Ausbau
folgender sozialstaatlicher Elemente:
a) das Kindergeld wird einheitlich auf 328 Euro erhöht. Kindsbedingte Steuer-

freibeträge entfallen im Gegenzug. Damit werden alle Kinder gleich behan-
delt;

b) die sozialen Grundsicherungssysteme wie Hartz IV sind repressionsfrei und
sanktionsfrei auszugestalten Bis zur Ersetzung durch eine individuelle,
sanktionsfreie Mindestsicherung sind die Regelbedarfe realistisch zu ermit-
teln und die Regelsätze entsprechend zu erhöhen. Unterkunftskosten sind
den tatsächlichen Mietsteigerungen anzupassen. Erwachsene Leistungsbe-
rechtigte erhalten zunächst einen Regelsatz von 560 Euro. Die Regelbedarfe
für Kinder und Jugendliche werden auf 326 Euro (bis zum vollendetem
6. Lebensjahr), 366 Euro (7 bis 13 Jahre) und 401 Euro (14 bis zum vollen-
detem 18. Lebensjahr) festgelegt. In den Regelsätzen für Kinder und Jugend-
liche wird das sogenannte Teilhabegeld in voller Höhe (10 Euro) auf den
Regelbedarf aufgeschlagen. Die anderen Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepakets werden den realen Bedarfen angepasst. Sonderbedarfe für
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen werden übernommen soweit sie
nicht von anderen Leistungssystemen gedeckt sind. Alleinerziehende und
umgangsberechtigte Elternteile werden gestärkt, in dem Alleinerziehende
den vollen Regelsatz des Kindes inkl. Unterkunftskosten erhalten und um-
gangsberechtigte Elternteile den hälftigen Regelbedarf des Kindes bei voller
Anerkennung der Unterkunftskosten erhalten;

c) die vorgelagerten sozialen Sicherungssysteme sind auszubauen. Der Kinder-
zuschlag muss auf 220 Euro für Kinder bis zur Vollendung des sechsten Le-
bensjahres, auf 260 Euro bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahres und
300 Euro für Kinder und Jugendliche nach Vollendung des zwölften Lebens-
jahres erhöht werden und wird mit zunehmendem Elterneinkommen linear
abgeschmolzen. Der Unterhaltsvorschuss muss entfristet, das Höchstalter
auf 18 Jahre angehoben und das Kindergeld darf nur hälftig auf den Unter-
haltsvorschuss angerechnet werden. Das Wohngeld muss den tatsächlichen
Mietkosten (bruttowarm) gerecht werden;

d) die Systeme der Ausbildungsförderung (BAföG, BAB) sind so zu gestalten,
dass ein ergänzender SGB II-Anspruch entfällt. Solange sie nicht bedarfsde-
ckend organisiert sind, darf es keinen generellen Leistungsausschluss dieser
Gruppe geben;

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e) die soziale Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge sind für das Auf-
wachsen von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien von immen-
ser Bedeutung und beugen einer armutsbedingten Ausgrenzung vor. Dem-
entsprechend sind soziale Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge
auszubauen und zu stärken. Zur sozialen Infrastruktur gehören u. a. der öf-
fentliche Nahverkehr, kommunale Einrichtungen wie Bibliotheken und Me-
diatheken, Schwimmbäder und Sporteinrichtungen, Musikschulen, Kinder-
und Jugendeinrichtungen, Freizeit- und Erholungseinrichtungen aber auch
Familienzentren, Kultureinrichtungen, Museen, Mehrgenerationenhäuser
und Gesundheitseinrichtungen. Hier ist ein möglichst gebührenfreier, nied-
rigschwelliger und barrierefreier Zugang für alle Kinder und Jugendlichen
sowie deren Familien sicherzustellen. Partizipation und Mitbestimmung der
Kinder und Jugendlichen bei der Ausgestaltung der Angebote sind zu ge-
währleisten;

f) die Kinder- und Jugendhilfe muss mit ihren umfangreichen Aufgaben und
Angeboten, die der gesellschaftlichen Teilhabe und Unterstützung dienen,
in ihrer Gesamtheit gestärkt und ausgebaut werden. Dazu müssen die Ange-
bote und Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Jugendso-
zialarbeit und Beratungsstellen in den Städten und Gemeinden ausgebaut
und die Partizipation aller interessierten Kinder und Jugendlichen sicherge-
stellt werden. Um die Schließungen von Einrichtungen rückgängig zu ma-
chen und die Angebotsstruktur insgesamt zu stärken wird ein Sonderpro-
gramm aufgelegt. Um Kinder und Jugendliche an die Angebote der Kinder-
und Jugendhilfe heranzuführen, die bislang für diese nicht erreichbar sind,
ist ein Sonderprogramm zur Stärkung der Straßensozialarbeit/Mobilen Ju-
gendarbeit aufzulegen. Es ist rechtlich klar zu stellen, dass Jugendliche auch
über das 18. Lebensjahr hinaus (junge Erwachsene) Anspruch auf Unterstüt-
zung durch die Kinder- und Jugendhilfe haben. Die Situation in den Jugend-
ämtern und Allgemeinen Sozialen Diensten ist durch eine Erhöhung der Per-
sonaldecke und den Ausbau der Familienhilfen zu verbessern. Alle Ange-
bote der Kinder- und Jugendhilfe sind niedrigschwellig und barrierefrei aus-
zurichten;

g) mit einem Kitaqualitätsgesetz muss der Rechtsanspruch auf Betreuung und
frühkindliche Förderung gestärkt, der Kitaausbau qualitativ und quantitativ
vorangetrieben und die Gebührenfreiheit hergestellt werden. Bei der Bereit-
stellung von Plätzen in Kindertagesstätten ist der tatsächliche Bedarf maß-
geblich. Dazu zählen auch Betreuungsangebote außerhalb der regulären Öff-
nungszeiten. Zudem ist die rechtliche und finanzielle Grundlage für ein flä-
chen- und bedarfsgerechtes ganztägiges Betreuungs- und Förderungsange-
bot für Schülerinnen und Schüler inklusive Ferienbetreuung (darunter mehr-
tägige Angebote) zu schaffen;

h) mit einem Ganztagsschulprogramm muss (inklusive) Bildung für hetero-
gene Lerngruppen ganztägig Realität werden. Zudem müssen die Lehr- und
Lernmittel auf die Erfordernisse von heterogenen Lerngruppen ausgerichtet
werden und als offene Lehr- und Lernmittel (OER) zur Verfügung stehen;

i) mit einem Bundesprogramm Kita- und Schulverpflegung wird allen Kindern
und Jugendlichen eine hochwertige und unentgeltliche Essensversorgung er-
möglicht;

4. den Zugang zu den unterschiedlichen Leistungen zu bündeln, Zugangsbarrieren
abzusenken und Sorge zu tragen, dass die Leistungen bei den Adressatinnen und
Adressaten ankommen:

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a) dabei wird auf die Intention der §§ 13 bis 17 des Ersten Buches Sozialge-
setzbuch (SGB I) zurückgegriffen, wonach Sozialleistungsträger dazu ver-
pflichtet sind darauf hinzuwirken, dass alle Berechtigten die ihnen zustehen-
den Sozialleistungen umfassend und zügig erhalten, der Zugang zu Sozial-
leistungen einfach gestaltet und Auskunft, Aufklärung sowie Beratung si-
chergestellt werden;

b) im Zuge des Aktionsplans sind lokale Service- und Beratungsstellen (Fami-
lienstellen) als zentrale Anlaufstellen für alle Leistungen für Kinder einzu-
richten. In den Familienstellen erhalten Kinder, Jugendliche und Familien
Beratung und Unterstützung. Der Zugang zu den Familienstellen muss nied-
rigschwellig und barrierefrei gegeben sein;

c) in den Familienstellen werden unter fachkundiger Beratung alle vorhande-
nen sozialrechtlichen Ansprüche erfasst und beantragt. Für die Beantragung
wird auf ein leicht verständliches Antragsformular zurückgegriffen. Die Fa-
milienstellen sichern die Auszahlung der Kindergrundsicherung. Die mone-
tären Leistungen der Kindergrundsicherung sind perspektivisch in einer
Summe auszuzahlen;

d) die Familienstellen sind verpflichtet, von sich aus Kontakt zu den Familien
aufzunehmen und ihre Angebote vorzustellen. Sie haben Sorge dafür zu tra-
gen, dass die Quote der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen nahezu
auf null gesenkt wird;

e) die Familienstellen sind mit unabhängigen Ombudsstellen auszustatten, die
in Konfliktsituationen vermittelnd tätig werden;

5. den Aktionsplan gegen Kinderarmut mit Maßnahmen für Familien, Jugendliche
und junge Erwachsene zu flankieren. Dazu zählen folgende Maßnahmen:
a) die Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss verbessert werden und dabei

die Zeitsouveränität der Familien im Fokus stehen. Eltern benötigen ein in-
dividuelles Recht auf Teilzeitarbeit und ebenso ein Rückkehrrecht auf Voll-
zeit. Für Eltern wird ein besonderer Kündigungsschutz eingeführt, der bis
zur Vollendung des siebenten Lebensjahres des Kindes gilt. Arbeitszeit
muss zukünftig so gestaltet werden, dass es Müttern und Vätern möglich ist
sich gleichermaßen um ihre Familien zu kümmern und ihren Beruf auszu-
führen. Es sind Modelle für eine vollzeitnahe Teilzeit zu entwickeln. Mit
Hilfe des Elterngeldes wird vor allem jungen Familien geholfen, die Verein-
barkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Daher ist das Elterngeld für 24
Monate, also 12 Monate nicht übertragbar pro Elternteil oder 24 Monate für
Alleinerziehende, zu gewähren. Es kann flexibel bis zur Vollendung des
siebten Lebensjahres des Kindes in Anspruch genommen werden. Das be-
stehende ElterngeldPlus muss vor allem in Bezug auf die Mindestarbeitszeit
verbessert werden;

b) die Vereinbarkeit von Familie und Ausbildung muss verbessert werden, da-
mit junge Menschen mit Familie besser eine Ausbildung absolvieren können
und ihre Zeitsouveränität verbessert wird. Anstelle der derzeitigen Ermes-
sensbestimmung ist im Berufsbildungsgesetz ein Rechtsanspruch auf eine
Ausbildung in Teilzeit zu verankern;

c) die Vereinbarkeit von Familie und Studium ist zu verbessern, damit junge
Menschen mit Familie besser ein Studium absolvieren können und ihre Zeit-
souveränität verbessert wird. Dazu müssen Teilzeitstudiengänge ausgebaut
und das BAföG auch im Teilzeitstudium gewährt werden;

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d) bei allen Maßnahmen zur Verbesserung von Familie und Beruf ist darauf zu
achten, dass Zeitsouveränität nicht nur vom Erwerbsleben her gedacht wird.
Die Verteilung von Erwerbsarbeit, unbezahlter Hausarbeit, Kindererziehung
und -betreuung sowie Pflege soll in der Gesellschaft und zwischen den Ge-
schlechtern fair verteilt werden;

e) die besondere Lebenssituation von Alleinerziehenden muss insofern Be-
rücksichtigung finden, dass sie ein Recht auf Ablehnung besonderer Arbeits-
zeiten erhalten wie z. B. bei Nachtarbeiten, in denen keine Kinderbetreuung
möglich ist;

f) der gesetzliche Mindestlohn muss auf 12 Euro erhöht, Ausnahmeregelungen
für Langzeiterwerbslose, jugendliche Beschäftigte und Praktikanten abge-
schafft und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit gestärkt werden;

g) die Gültigkeit von Tarifverträgen muss ausgeweitet werden. Allgemeinver-
bindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen müssen erleichtert werden, in-
dem das Veto-Recht der Arbeitgeberinnen aufgehoben wird;

h) prekäre Beschäftigungen sind zu Gunsten guter Arbeit zurückzudrängen.
Dazu müssen die sachgrundlose Befristung gestrichen, die Leiharbeit auf
drei Monate beschränkt und perspektivisch abgeschafft werden sowie ab
dem ersten Tag das Prinzip gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Ar-
beit gelten;

i) die Ausbildungssituation muss verbessert werden, indem (unbeschadet der
Festlegungen in den Tarifverträgen) eine Mindestausbildungsvergütung im
Berufsbildungsgesetz verankert wird. Des Weiteren soll ein Gesetzentwurf
sowohl zur grundgesetzlichen Verankerung eines Rechtsanspruchs auf Aus-
bildung vorgelegt werden, so dass allen jungen Menschen ermöglicht wird,
eine vollqualifizierende, mindestens dreijährige Ausbildung aufzunehmen,
als auch zur Schaffung einer solidarischen Umlagefinanzierung, die alle Be-
triebe für die Ausbildung junger Menschen in die Pflicht nimmt;

j) die Studienbedingungen müssen verbessert werden. Das BAföG muss er-
höht werden und mehr Studierende durch Erhöhung der Freibeträge errei-
chen. Um allen Studienberechtigten die Möglichkeit zur Aufnahme eines
Studiums zu geben, müssen mehr Studienplätze geschaffen werden;

6. den Aktionsplan kontinuierlich weiterzuentwickeln. Die Weiterentwicklung und
Umsetzung des Aktionsplans ist durch eine Kommission zu begleiten, die zusam-
mengesetzt wird aus Politik, Betroffenen, Wissenschaft und Verbänden aus
Bund, Ländern und Kommunen unter besonderer Berücksichtigung der von Ar-
mutslagen betroffenen bzw. bedrohten Gruppen sowie Regionen. Die Kommis-
sion hat die Aufgabe, die vielschichtige Situation von armen Kindern, Jugendli-
chen und Familien fortlaufend zu analysieren, die Bedarfe von Familien, Kindern
und Jugendlichen in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen und Handlungsempfeh-
lungen an die Politik auszusprechen.

Berlin, den 13. Dezember 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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