BT-Drucksache 18/10533

zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache 18/10211 - Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch

Vom 30. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10533
18. Wahlperiode 30.11.2016
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Annalena Baerbock,
Manuel Sarrazin, Dr. Franziska Brantner, Corinna Rüffer, Beate Müller-Gemmeke,
Monika Lazar, Markus Kurth, Sven-Christian Kindler, Peter Meiwald, Brigitte
Pothmer, Claudia Roth (Augsburg), Hans-Christian Ströbele und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/10211, 18/10518 –

Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in
der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Freiheit, Grenzen zu überschreiten, ist ein europäischer Wert, der nicht nur für
Waren, Güter und Dienstleistungen, sondern insbesondere auch für die Menschen gilt.
Sie fördert das Gefühl der Zusammengehörigkeit in Europa und stärkt europäische
Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Pluralismus. Spätestens seitdem die Bri-
ten im Frühsommer 2016 für den Austritt Großbritanniens aus der EU votierten, ist
klar, dass eben dieser Zusammenhalt nicht mehr selbstverständlich ist. Die verbleiben-
den 27 Mitgliedstaaten stehen nun vor der Aufgabe, die EU so weiterzuentwickeln,
dass sie wieder mehr Akzeptanz in der Bevölkerung findet. Die Rückkehr zu nationa-
len Egoismen und ein weiteres Erstarken rechter Kräfte gilt es zu verhindern. Dafür
braucht es mehr Europa und ein Europa, das Antworten auf die sozialen Sorgen und
Ängste seiner Bürgerinnen und Bürger findet.
In Europa herrscht nach wie vor ein enormes Wohlstands- und Einkommensgefälle.
Um die regionalen Unterschiede in den Lebensverhältnissen wirksam zu bekämpfen,
sind verbindliche Ziele in der europäischen Sozialpolitik, eine stärkere Koordinierung
sowie gemeinsame Mindeststandards im Bereich der sozialen Sicherung und des Ar-
beitsmarktes unerlässlich. Ergänzend hierzu muss eine Mindesteinkommensrichtlinie
erarbeitet werden, die Eckpunkte für Grundsicherungsleistungen in den einzelnen Mit-

Drucksache 18/10533 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
gliedstaaten festlegt. Die Bundesregierung muss sich dringend stärker für die Einfüh-
rung existenzsichernder Grundsicherungssysteme in allen Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union einsetzen.
Darüber hinaus müssen transparente und nachvollziehbare Regeln für den Zugang zu
Sozialhilfeleistungen in Deutschland geschaffen werden. Menschen, die aus anderen
EU-Mitgliedstaaten zu uns kommen, um Arbeit zu suchen, brauchen unsere Unterstüt-
zung durch die Sicherstellung ihrer Existenzgrundlage einerseits und Beratung und
Angebote von Maßnahmen andererseits, um sie in die Lage zu versetzen, sich
schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und unabhängig von staatlicher
Unterstützungsleistung zu werden. Genau das ist ein grundlegendes Ziel der Grundsi-
cherung für Arbeitsuchende. Wenn diese Zielsetzung ernst genommen werden soll,
heißt es im Umkehrschluss auch, dass eine Versagung dieser Brücke in den Arbeits-
markt gerade dazu führen kann, dass es für viele Menschen deutlich schwerer wird,
sich in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu integrieren. Ohne Existenzsicherung
besteht eine noch größere Gefahr, dass sie von skrupellosen Unternehmen oder Ver-
mietern ausgebeutet werden. Entsprechend ist es fragwürdig, wenn in einem Gesetz
für Arbeitsuchende jene von allen Leistungen ausgeschlossen werden, die tatsächlich
Arbeit finden wollen. In diese Erwägungen müssen aber auch mögliche finanzielle
Belastungen für die deutsche Grundsicherung einbezogen werden. Denn für Unions-
bürgerinnen und Unionsbürger aus Mitgliedstaaten mit einem weitaus niedrigeren
durchschnittlichen Einkommen können die Beträge, die hier als SGB-II-Regelsatz ge-
zahlt werden, bei einer kompletten Öffnung der Sozialhilfeleistungen einen Anreiz zur
Einwanderung darstellen. In der Summe könnte dadurch eine relevante finanzielle Be-
lastung im Bereich der Grundsicherung entstehen.
Das Bundessozialgericht hat im Dezember 2015 in mehreren Fällen entschieden, in
welchen Fällen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger existenzsichernde Leistungen in
Deutschland beanspruchen können. Nach geltender Rechtslage können diese, wenn sie
nur zur Arbeitsuche eingereist sind, von SGB-II-Leistungen ausgeschlossen werden.
Das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass der Ausschluss auch für jene Personen
greift, die über kein Aufenthaltsrecht verfügen. So der Aufenthalt dieser Personen aber
als „verfestigt“ anzusehen ist nach sechs Monaten, hat das Bundessozialgericht ihnen
einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) zuer-
kannt.
Der Deutsche Städtetag, der Deutsche Landkreistag und auch der Bundesrat haben da-
raufhin eine gesetzliche Klarstellung verlangt, weil die grundlegende Abgrenzung zwi-
schen SGB II und SGB XII verwischt worden ist.
Die Aufnahme von erwerbsfähigen Menschen ins SGB XII führt dazu, dass die Kom-
munen stärker belastet werden, weil diese Leistungen komplett von den Kommunen
zu finanzieren sind. Außerdem führt sie dazu, dass diese Personen in der Folge von
sinnvollen Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt, die ausschließlich im
SGB II enthalten sind, ausgeschlossen sind. Des Weiteren haben auch Personen, die
nicht arbeiten und keine Arbeit suchen, nach einem Aufenthalt von sechs Monaten
Zugang zu Sozialhilfeleistungen der Kommunen.
Die Bundesregierung hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, Unionsbür-
gerinnen und Unionsbürger, die noch nicht bzw. nicht ausreichend lange Zeit in
Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, pauschal für die ersten fünf
Jahre ihres Aufenthalts von Grundsicherungsleistungen und grundsätzlich auch von
Sozialhilfe auszuschließen. Damit sendet der Entwurf völlig falsche Signale.
Der Gesetzentwurf bietet keine angemessene Lösung für die vielschichtigen Heraus-
forderungen in den Kommunen und für die Betroffenen. Der Bund wird aus der finan-
ziellen Verantwortung entlassen. Der fehlende Zugang zu sozialer Sicherheit kann
dazu führen, dass sich die Probleme vor Ort verstärken, weil Menschen in Schwarzar-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10533
beit und andere Notlagen gedrängt werden. Die Arbeitsmarktintegration von Unions-
bürgerinnen und Unionsbürgern wird erschwert. Außerdem ist fraglich, ob ein so lan-
ger Ausschluss von Grundsicherungsleistungen dem Grundrecht auf Gewährung eines
menschenwürdigen Existenzminimums entspricht.
Um arbeitsuchende Unionsbürgerinnen und Unionsbürger bei der Integration in den
Arbeitsmarkt zu unterstützen, braucht es einen differenzierteren Ansatz: Anstatt sie,
wie von der Bundesregierung beabsichtigt, komplett von Unterstützung auszuschlie-
ßen, sollen sie nach drei Monaten und damit nach dem Zeitraum, in dem sie sich ohne
Bedingungen in jedem Mitgliedstaat aufhalten können, Zugang zu Grundsicherungs-
leistungen für Arbeitsuchende erhalten können, so sie denn nachweislich nach Arbeit
suchen. Um die Arbeitnehmerfreizügigkeit stark zu machen, bekommen europäische
Arbeitsuchende so Hilfen an die Hand, um in Deutschland Fuß zu fassen. Wenn Per-
sonen jedoch nicht aktiv nach Arbeit suchen oder keine begründete Aussicht haben,
eine Stelle zu bekommen, kann das Aufenthaltsrecht und damit der Anspruch auf
Leistungen nach dem SGB II wieder entfallen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

den vorgelegten Gesetzentwurf zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen
in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zurückzuziehen und
stattdessen

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der regelt, dass
a) nach einem Aufenthalt von drei Monaten auch Arbeitsuchende aus der EU

Grundsicherung nach dem SGB II beantragen können, wenn sie zuvor eine
Verbindung zum hiesigen Arbeitsmarkt aufgebaut haben und aktiv nach Ar-
beit suchen;

b) Unionsbürgerinnen und Unionsbürger den gleichen Anspruch wie deutsche
Arbeitsuchende auf alle Integrationsinstrumente wie Beratung, Vermittlung,
berufliche und sprachliche Qualifizierung aus SGB II und III und Teilnahme
an Integrationskursen haben;

c) Unionsbürgerinnen und Unionsbürger von den Leistungen nach SGB II und
SGB XII ausgeschlossen werden können, wenn sie nicht (mehr) nach Arbeit
suchen oder ihre Arbeitssuche keine Aussicht auf Erfolg hat;

2. sich auf EU-Ebene einzusetzen für
a) eine bessere soziale Absicherung der Freizügigkeit, so dass alle Unionsbür-

gerinnen und Unionsbürger, die in einem EU-Mitgliedstaat Arbeit suchen,
dabei unterstützt werden, dass sie eine Chance auf dem Arbeitsmarkt be-
kommen und grundsätzlich Zugang zu Grundsicherungsleistungen erhalten,
und

b) die Einführung von sozialen Mindeststandards sowie die Einführung von
existenzsichernden Grundsicherungsleistungen in allen Mitgliedstaaten und
die Verabschiedung einer Mindesteinkommensrichtlinie, die die Rahmenbe-
dingungen, wie die jeweilige Mindesthöhe und die Eckpunkte der Ausge-
staltung von Grundsicherungsleistungen in den Mitgliedstaaten, regelt. Die
konkrete Umsetzung wäre Aufgabe der Mitgliedstaaten.

Berlin, den 29. November 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Drucksache 18/10533 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Begründung

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sind ausländische Arbeitsuchende bereits heute vom Bezug von Arbeitslosengeld
II ausgeschlossen, „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“. In einem Urteil
des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15. September 2015 wurde entschieden, dass dieser Ausschluss
europarechtlich zulässig ist. Damit ist die Rechtsunsicherheit jedoch noch nicht beseitigt. Denn neben der euro-
parechtlichen Klärung bleibt die Frage, wer wann welche Ansprüche auf Sozialleistungen nach deutschem Recht
hat, weiter ungeklärt. Die Sozialgerichte beantworten diese Frage unterschiedlich.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat dazu seit Dezember 2015 in mehreren Fällen Urteile zu den Leistungsaus-
schlüssen von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern nach dem SGB II und SGB XII gesprochen. Das Gericht
hat festgestellt, dass zwar der Ausschluss arbeitsuchender Unionsbürgerinnen und Unionsbürger von SGB-II-
Leistungen – im Nachgang zur Rechtsprechung des EuGH – rechtens sei, jedoch auch entschieden, dass Leistun-
gen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII zu erbringen seien. Die Betroffenen dürften demnach nicht mehr von
Sozialhilfeleistungen (nach SGB XII) ausgeschlossen werden, wenn sich ihr Aufenthalt „verfestigt“ habe, was
spätestens nach sechs Monaten der Fall sei. Das hat das Gericht mit dem Grundrecht auf Gewährung eines men-
schenwürdigen Existenzminimums begründet.
Das Sozialgericht (SG) Berlin wendete sich in einer Entscheidung gegen das BSG und begründete, dass der
Kläger keinen Anspruch auf Sozialhilfe habe, weil dieser dem Grunde nach – also nach seinem Gesundheitszu-
stand – erwerbsfähig sei und nicht dem Regelungsbereich des Sozialhilferechts (§ 21 Satz 1 SGB XII) unterfiele
(SG Berlin – Az. S 149 AS 7191/13). Das Sozialgericht Mainz wiederum hat dem Bundesverfassungsgericht in
diesem Zusammenhang Fragen zur Entscheidung vorgelegt (SG Mainz – Az. S 3 AS 149/16). Hier stellt sich
also die verfassungsrechtliche Frage, ob bzw. inwiefern durch den Ausschluss von Unionsbürgerinnen und Uni-
onsbürgern von Grundsicherungsleistungen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum in
Frage gestellt wird oder nicht.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf löst die bestehenden und die durch die Urteile des BSG
entstandenen Probleme nicht zufriedenstellend.
Der Vorschlag, Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die sich nachweislich um Arbeit bemühen, den Zugang
zu SGB-II-Leistungen zu ermöglichen, ist hingegen sowohl migrationspolitisch als auch sozialpolitisch fair und
europapolitisch progressiv, da er vier entscheidende Ziele verwirklicht:
Erstens ist der Zugang zu Leistungen nach dem SGB II ab dem vierten Monat bedacht und ausgewogen. Er stützt
sich auf die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG, laut der es den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern grund-
sätzlich möglich ist, sich innerhalb der ersten drei Monate ohne jegliche Bedingungen oder Formalitäten inner-
halb der Europäischen Union rechtmäßig aufzuhalten. Schon heute ist in dieser Zeit der Bezug von Grundsiche-
rungsleistungen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss bleibt bestehen. Grundsicherungsleistungen können demzu-
folge nach dem SGB II im Anschluss an die ersten drei Monate des Aufenthalts bei Nachweis der Arbeitssuche
beantragt werden. Gleichzeitig wird zweitens deutlich, dass im Einzelfall der Zugang auch wieder entzogen wer-
den kann, wenn keine aktive Arbeitssuche und keine Aussicht auf Erfolg der Arbeitssuche bestehen. Das oft
angebrachte Argument der Zuwanderung in deutsche soziale Sicherungssysteme verliert so seine Gültigkeit.
Vielmehr werden damit diejenigen, die ernsthaft Arbeit suchen, bei der Integration in den Arbeitsmarkt und in
die Gesellschaft unterstützt. Darüber hinaus entlässt der beschriebene Vorschlag der Verortung im SGB II den
Bund nicht aus seiner finanziellen Verantwortung. Im Gegensatz zur Sozialhilfe nach dem SGB XII werden
Leistungen nach dem SGB II überwiegend vom Bund finanziert. In diesem Zusammenhang wird außerdem be-
rücksichtigt, dass die bisher gültige und sinnvolle Rechtskreisabgrenzung zwischen SGB II und SGB XII, zwi-
schen „erwerbsfähig“ und „nichterwerbsfähig“, weiterhin Gültigkeit besitzt. Drittens wird das laut Grundgesetz
bestehende Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewahrt, indem der Personenkreis der arbeitsu-
chenden EU-Bürgerinnen und EU-Bürger nicht pauschal von Sozialleistungen ausgeschlossen wird, wie im Ge-
setzentwurf vorgesehen.
Es zeigt sich also, dass eine klare gesetzliche Grundlage dringend erforderlich ist. Der beschriebene Vorschlag
schafft diese Klarheit. Der vorgelegte Gesetzentwurf stellt bestenfalls eine Scheinlösung dar.

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