BT-Drucksache 18/10283

Alleinerziehende entlasten - Umgangsmehrbedarf anerkennen

Vom 9. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10283
18. Wahlperiode 09.11.2016
Antrag
der Abgeordneten Cornelia Möhring, Katja Kipping, Sigrid Hupach, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, Eva Bulling-Schröter, Nicole
Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Susanna Karawanskij, Kerstin
Kassner, Jutta Krellmann, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold
(Havelland), Dr. Petra Sitte, Dr. Kirsten Tackmann, Azize Tank,
Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Katrin
Werner, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Alleinerziehende entlasten -‒ Umgangsmehrbedarf anerkennen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Alleinerziehend zu sein, gehört noch immer zu einem der größten Armutsrisiken in
Deutschland. Betroffen sind davon vor allem Frauen – 90 Prozent der Alleinerziehen-
den sind weiblich – und ihre Kinder. Rund 40 Prozent der Alleinerziehenden mit min-
derjährigen Kindern beziehen Hartz IV.
Besonders groß ist mit 27 Prozent der Anteil der Alleinerziehenden in Ostdeutschland,
während in Westdeutschland diese Familienform 18 Prozent ausmacht. 44 Prozent der
ostdeutschen Alleinerziehenden sind Bedarfsgemeinschaften, während es in West-
deutschland 37 Prozent sind. Die ostdeutschen Alleinerziehenden und ihre Kinder sind
deswegen überproportional von Armutsrisiken betroffen (Statistisches Bundesamt
2014 und Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2014). Von allen Kindern mit SGB-
II-Leistungsbezug leben rund die Hälfte in Haushalten von Alleinerziehenden, hier so-
gar zu 95 Prozent Mütter (Stellungnahme des Verbandes alleinerziehender Mütter und
Väter, Bundesverband e. V. (VAMV) zur Neuregelung zur temporären Bedarfsge-
meinschaft vom 31.03.2016).
Diese Gruppe an Alleinerziehenden, die im Hartz-IV-Bezug ohnehin unter den viel zu
niedrigen Regelsätzen leidet, wird noch zusätzlich benachteiligt, was die familien- und
sozialpolitische Diskriminierung dieser Familienform fortsetzt. Nach der Rechtspre-
chung des Bundessozialgerichts hat ein umgangsberechtigtes Elternteil während des
Aufenthalts des Kindes Anspruch auf einen Anteil des Regelbedarfs für das Kind. Die
umgangsberechtigten Elternteile sind zumeist die Väter. Im Umkehrschluss werden
teilweise für den anderen Elternteil die Regelbedarfe des Kindes entsprechend gekürzt.
Dieses Vorgehen ist nicht verbindlich vorgeschrieben, wird aber teilweise von den
Jobcentern so praktiziert. Die Praxis der Träger ist hier zwar uneinheitlich, führt ver-
einzelt jedoch dazu, dass eine Alleinerziehende, das heißt das Elternteil, bei dem sich
das Kind vorwiegend aufhält, finanzielle Einbußen dafür hinnehmen muss, dass das
Kind Umgang mit dem Vater hat.

Drucksache 18/10283 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Die bestehende Armut wird dadurch noch verschärft und die Beziehung zwischen den
Eltern stark belastet. Denn bestimmte Fixkosten bleiben im Haushalt der Alleinerzie-
henden weiterhin bestehen, auch wenn das Kind mehrere Tage pro Monat beim Vater
ist. Dazu gehören etwa Ansparungen für Möbel und Hausrat, Mitgliedsbeiträge, In-
standhaltungen, Versicherungsbeiträge, Medien und Kommunikation. Auch beim Um-
gangsberechtigten fallen Kosten unter anderem für die Miete sowie Möbel und Spiel-
zeuge an. Auch Verbrauchsgüter lassen sich in der Praxis nicht auf den Tag genau
aufteilen. Im Ergebnis entsteht ein Mangel, der konflikthafte Beziehungen zwischen
ehemaligen Partner/-innen weiter verschärfen kann und in jedem Fall nicht im Sinne
des Kindeswohls ist.
Der große Protest zahlreicher Verbände und eine sehr erfolgreiche Petition mit rund
40.000 Unterschriften hat die von der großen Koalition im Zuge des neunten SGB-II-
Änderungsgesetzes geplante Verschärfung – nämlich die gesetzliche Verankerung die-
ser bestehenden Verwaltungspraxis – verhindert. Allerdings muss es nun darum gehen,
eine klare gesetzliche Lösung des Problems zu schaffen. Dies wäre möglich, in dem
die Alleinerziehende, bei der das Kind mehr als die Hälfte eines Monats verbringt, den
vollen Regelsatz erhält und keine Kürzungen zu befürchten hat, und der Umgangsbe-
rechtigte pauschal den halben Regelsatz zugesprochen bekommt – vorausgesetzt beide
sind im SGB-II-Leistungsbezug. Ansonsten gilt der Anspruch jeweils entsprechend für
den Elternteil, der im SGB-II-Bezug ist. Eine solche Anerkennung des Umgangsmehr-
bedarfs anstelle der bisherigen uneinheitlichen Praxen der Jobcenter, geschweige denn
des geplanten Verfahrens würde zu einem echten Bürokratieabbau in den Jobcentern
führen, wie es der Sachverständige Prof. Stefan Sell in der Anhörung zum neunten
SGB-II-Änderungsgesetz, Drs.-Nr. 18/8041, herausstellte (Ausschuss für Arbeit und
Soziales, Protokoll-Nr. 18/77).
Mit der finanziellen Anerkennung des Umgangsmehrbedarfs kann der Lebensalltag
von Alleinerziehenden bzw. Umgangsberechtigten kurzfristig deutlich verbessert wer-
den. Grundsätzlich ist ein Systemwechsel vom Hartz-IV-System mit seiner demüti-
genden Sanktionspraxis hin zu einer sanktionsfreien Mindestsicherung notwendig, die
wirklich vor Armut schützt und allen Menschen ein Leben in Würde garantiert.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Regelungen im SGB II insofern zu ändern, als dass das Konstrukt der „temporären
Bedarfsgemeinschaft“ aufgelöst wird und stattdessen
1. dem Elternteil im SGB-II-Leistungsbezug, bei dem sich das Kind vorwiegend,

also mehr als die Hälfte des Monats aufhält, den vollen Regelsatz für das Kind
zuzusprechen und

2. dem anderen Elternteil, der im SGB-II-Leistungsbezug steht einen pauschalen
Umgangsmehrbedarf in Höhe des hälftigen Regelbedarfs zuzugestehen.

3. Für die Kosten der Unterkunft und Heizung gilt, dass das Kind als Mitglied beider
Haushalte betrachtet wird. Dementsprechend sind Angemessenheitsgrenze für
die Kosten der Unterkunft und Heizung anzuwenden.

Berlin, den 8. November 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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