BT-Drucksache 18/10014

Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten

Vom 18. Oktober 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10014
18. Wahlperiode 18.10.2016
Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, Nicole
Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Ralph Lenkert, Cornelia Möhring,
Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Azize
Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann (Zwickau), Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Das Teilhaberecht menschenrechtskonform gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Jahr 2013 haben die Parteien der CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag
die Erarbeitung eines Bundesleistungsgesetzes angekündigt, um ein modernes Teilha-
berecht zu schaffen. Die Menschen mit Behinderungen sollten aus dem „bisherigen
Fürsorgesystem“ herausgeführt werden. Der Bund sollte sich an den Kosten der Ein-
gliederungshilfe stärker beteiligen. Ländern und Kommunen sollten durch das Bun-
desteilhabegesetz keine zusätzlichen Kosten entstehen.
Der im Jahr 2016 von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Bundesteilhabe-
gesetzes (BTHG) auf Bundestagsdrucksache 18/9522 missachtet die Positionen und
Kernforderungen der Menschen mit Behinderungen, ihrer Selbstvertretungsorganisa-
tionen und Vereine, von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden und von Gewerkschaften,
Schwerbehindertenvertretungen sowie der Wissenschaft. Bundesweite Aktionen und
Proteste nehmen zu. In zahlreichen kritischen Stellungnahmen wird erheblicher Ände-
rungsbedarf formuliert. Den sechs gemeinsamen Kernforderungen des Deutschen Be-
hindertenrates zum Bundesteilhabegesetz schlossen sich bis heute mehr als 140 Orga-
nisationen, Vereine und Verbände an.
Zu diesen Forderungen zählen beispielsweise eine bundesweit einheitliche Gewähr-
leistung und Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen, um einheitliche Lebensver-
hältnisse zu sichern. Die Regionalisierung der Ausgestaltung von Teilhabeleistungen
abhängig vom Bundesland wird demnach strikt abgelehnt.
Die durchgängige menschenrechtliche Ausgestaltung des Bundesteilhabegesetzes so-
wie die korrekte und vollständige Übernahme des Behinderungsbegriffs der UN-Be-
hindertenrechtskonvention (UN-BRK) ins Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)
und alle anderen betroffenen Gesetze müssen nachgeholt werden. Dies ist im vorlie-
genden Entwurf nicht gewährleistet. Im Gegenteil bewegen sich fast alle Neuregelun-
gen im alten Fürsorgekonzept der Sozialhilfe und heben Verbesserungen nicht nur auf,
sondern führen zu direkten Verschlechterungen.

Drucksache 18/10014 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Der leistungsberechtigte Personenkreis wird faktisch eingeschränkt. Wer Leistungen
der geplanten neuen Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen möchte, muss laut Ge-
setzentwurf (§ 99 SGB IX) nachweisen, selbst in mindestens fünf von neun Lebensbe-
reichen ohne personelle oder technische Unterstützung nicht teilhaben zu können oder
dies in mindestens drei Lebensbereichen auch mit Unterstützung nicht zu können. Eine
mögliche Ausnahmeregelung erhöht nur die Unsicherheit und Abhängigkeit vom
Wohlwollen der amtlichen Entscheider.
Diese Regelungen würden einen wesentlichen Teil der bisher leistungsberechtigten
Menschen von den notwendigen Leistungen ausschließen. Davon betroffen wären
Menschen, die beispielsweise nur in einem Lebensbereich (wie z. B. eine blinde Stu-
dentin beim Erfassen von Texten) Unterstützung benötigen, oder auch Menschen mit
psychischen Beeinträchtigungen, deren Unterstützungsbedarf oft zeitlich schwankt.
Teilhabeleistungen in der geplanten neuen Eingliederungshilfe werden teilweise nach-
rangig gegenüber Pflegeleistungen gestellt. Verschlechterungen für Menschen mit Be-
hinderungen können sich auch aus fehlender Teilhabeorientierung im Dritten Pflege-
stärkungsgesetz und ungelösten Schnittstellen zu anderen Sozialgesetzbüchern wie der
Pflegeversicherung (SGB XI), der Hilfe zur Pflege (SGB XII) und der Kinder- und
Jugendhilfe (SGB VIII) ergeben.
Zukünftig sollen Teilhabeleistungen an mehrere leistungsberechtigte Menschen – auch
gegen ihren Willen – gemeinsam erbracht werden können. Wer dieses von Betroffenen
sogenannte „Zwangspooling“ ablehnen will, muss faktisch dessen Unzumutbarkeit be-
weisen.
Nicht nur diese Regelung schränkt die Selbstbestimmung sowie das Wunsch- und
Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen stark ein, statt sie zu stärken und zu för-
dern. Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen befürchten zu Recht, dass
sie in Zukunft noch weniger bestimmen können, wo, wie und mit wem sie leben möch-
ten. Eine gleichberechtigte, volle und wirksame Teilhabe an allen gesellschaftlichen
Lebensbereichen – wie es die UN-BRK ermöglichen und gewährleisten möchte –
würde in weite Ferne rücken.
Die Anrechnungsgrenzen für Einkommen und Vermögen bei Gewährung von Teilha-
beleistungen werden zwar angehoben, aber nicht abgeschafft. Dies steht im Wider-
spruch zu der menschenrechtlich verbrieften selbstbestimmten gesellschaftlichen Teil-
habe aller Menschen.
Auch die Monitoringstelle zur UN-Behindertenrechtskonvention beim Deutschen
Institut für Menschenrechte sieht in dem Gesetzentwurf einen Verstoß gegen die UN-
Behindertenrechtskonvention, insbesondere Artikel 19. Ein Rechtsgutachten im Auf-
trag des Arbeiter-Samariterbundes zweifelt die Grundrechtskonformität des Gesetz-
entwurfes an.
Der vorliegende Gesetzentwurf muss im Licht der UN-BRK als Rückschritt bewertet
werden. Darüber hinaus würde eine fundierte Umsetzung vor Ort in den Kommunen
äußerst schwierig werden; vor allem weil Länder und Kommunen finanziell belastet
und nicht – wie im Koalitionsvertrag festgelegt – im Rahmen eines Bundesteilhabege-
setzes durch den Bund finanziell entlastet werden.
Es ist daher unerlässlich, den Gesetzentwurf grundlegend, umfassend und menschen-
rechtskonform zu überarbeiten. Einige gute und weitgehend unstrittige Teilregelungen
im Bundesteilhabegesetz sollen jedoch – mit folgenden Maßgaben – sofort verabschie-
det werden:
1. Im Rahmen des Budgets für Arbeit sind bedarfsgerechte Leistungen, die nicht

finanziell gedeckelt werden, für die Menschen mit Behinderungen durch bundes-
weit einheitliche Regelungen zu garantieren. Unter den identischen Bedingungen
ist ein Budget für Ausbildung zu verwirklichen.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10014
2. Früherkennung und Frühförderung sind weiter auszubauen. Einheitliche Quali-

tätsstandards müssen für alle Anbieter verbindlich gelten. Die Beteiligung von
Kindertagesstätten an der Komplexleistung Frühförderung ist zu ermöglichen.
Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist inklusiv auszurichten.

3. Die Unabhängige Beratung ist als Rechtsanspruch festzuschreiben und verpflich-
tend barrierefrei auszugestalten. Auch ist die Befristung der finanziellen Förde-
rung bis 2022 aufzuheben.

4. Für die Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen ist der Qualifizierungsan-
spruch auf alle stellvertretenden Mitglieder der Schwerbehindertenvertretungen
auszuweiten. Es ist zu regeln, dass Maßnahmen seitens der Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber, die Beschäftigte mit Behinderungen betreffen, erst dann zur Umset-
zung freigegeben werden dürfen, wenn die Schwerbehindertenvertretungen be-
teiligt und angehört wurden.

5. Die vorgesehenen Mitwirkungsrechte für Werkstatträte sind zu echten Mitbe-
stimmungsrechten – auch für die Beschäftigten mit Behinderungen in den Werk-
stätten – weiterzuentwickeln sowie ihre Tätigkeiten finanziell langfristig zu si-
chern.

6. Für die Frauenbeauftragten in Werkstätten sind langfristige finanzielle Förderun-
gen vorzusehen, um ihr Engagement und ihre Tätigkeiten abzusichern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem das komplexe und vielschichtige Teilhabe-
recht grundlegend, umfassend und menschenrechtskonform unter Beteiligung der
Menschen mit Behinderungen und ihren Selbstvertretungsorganisationen und Verei-
nen, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Schwerbehindertenvertretun-
gen, Werkstatträten und der Monitoringstelle zur UN-Behindertenrechtskonvention
auf Grundlage ihrer zahlreichen Stellungnahmen überarbeitet wird. Dabei ist zu be-
achten:
a) Die zahlreichen Schnittstellen zwischen den verschiedenen Sozialgesetzbüchern

sind im Sinne der Menschen mit Behinderungen und der rechtsverbindlichen UN-
Behindertenrechtskonvention auszugestalten. Dies muss insbesondere das Ver-
hältnis zwischen den Teilhaberegelungen im SGB IX und der Pflegeversicherung
im SGB XI, der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII und der dort zu ermög-
lichenden sogenannten Großen Lösung sowie der Hilfe zur Pflege im SGB XII
umfassen.

b) Im Mittelpunkt müssen hierbei die Ermöglichung und Gewährleistung der gleich-
berechtigten, vollen und wirksamen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
gemäß der UN-BRK stehen. Die unterschiedlichen Teilhabeleistungen sind dabei
bedarfsgerecht sowie unabhängig von Einkommen und Vermögen in einem
neuen SGB IX gleichrangig untereinander festzuschreiben.

c) Teilhabeleistungen im neuen SGB IX sind gleichrangig zu einer teilhabesichernd
weiterzuentwickelnden Pflegeversicherung (SGB XI) auszugestalten. Im Rah-
men des Gesamtplanverfahrens zur Bedarfsfeststellung sind Teilhabeleistungen
im neu gestalteten SGB IX gegenüber der Hilfe zur Pflege im SGB XII vorrangig
auszugestalten.

Berlin, den 18. Oktober 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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