BT-Drucksache 17/9981

Die Zwei-Staaten-Perspektive für den israelisch-palästinensischen Konflikt erhalten - Entwicklung der C-Gebiete in der Westbank fördern - Abrissverfügungen für Solaranlagen stoppen

Vom 13. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9981
17. Wahlperiode 13. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln), Marieluise Beck
(Bremen), Agnes Brugger, Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz,
Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Zwei-Staaten-Perspektive für den israelisch-palästinensischen
Konflikt erhalten – Entwicklung der C-Gebiete in der Westbank fördern –
Abrissverfügungen für Solaranlagen stoppen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Es besteht ein internationaler Konsens darüber, dass der israelisch-palästinensi-
sche Konflikt in der Form zweier nebeneinander existierender, unabhängiger
und lebensfähiger Staaten geregelt werden sollte. Bei Abwesenheit ernsthafter
israelisch-palästinensischer Verhandlungen wird vor Ort („on the ground“) aller-
dings eine Realität geschaffen, die eine solche Zwei-Staaten-Regelung zuneh-
mend schwieriger und unwahrscheinlicher macht.

Zu den Kernproblemen zählt der Ausbau jüdisch-israelischer Siedlungen in der
Westbank und die anhaltende Blockade des Gazastreifens. Der durch die Oslo-
Verträge geschaffene politische Interimsstatus behindert bei anhaltender Besat-
zung systematisch die Entwicklung palästinensischer Staatlichkeit. Das betrifft
vornehmlich die Lage in den sogenannten C-Gebieten.

Mit der Unterzeichnung des Oslo-II-Interimsabkommens im September 1995
wurde das Territorium der Westbank in drei Gebiete unterteilt:

– Im A-Gebiet (18 Prozent des Territoriums mit 55 Prozent der Bevölkerung)
ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) für die Verwaltung, die Auf-
rechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Sicherheit zuständig.

– Im B-Gebiet (20 Prozent des Territoriums mit 41 Prozent der Bevölkerung)
ist die PA für die Verwaltung, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ord-
nung und Israel für die Sicherheit zuständig.

– Im C-Gebiet (62 Prozent des Territoriums mit 5,8 Prozent der Bevölkerung)
verbleiben fast alle Kompetenzen bei Israel.
In dem heutigen C-Gebiet lebten 1972 1 200 jüdisch-israelische Siedler, 1993
waren es bereits 110 000 und im Jahr 2010 ist die Zahl auf 310 000 Siedler ge-
stiegen (die Siedler in Ost-Jerusalem, das nicht zu den C-Gebieten gehört, nicht
eingeschlossen). Damit leben heute im C-Gebiet doppelt so viele israelische
Siedler wie Palästinenser (150 000). Die israelischen Siedler leben in 124 Sied-
lungen und in ca. 100 sogenannten Außenposten. Letztere sind Siedlungen, die

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nicht nur nach internationalem Recht, sondern selbst nach israelischem Recht
illegal sind.

Im C-Gebiet befinden sich für eine künftige Entwicklung eines lebensfähigen
palästinensischen Staates wertvolle Bodenschätze und im Jordantal fruchtbares
Land. Die Entwicklung des Landes und der Ressourcen in den C- Gebieten wird
sowohl vom Nahost-Quartett als auch von dem „Ad Hoc Liaison Committee“,
das die Entwicklungszusammenarbeit für die palästinensischen Gebiete koordi-
niert, als grundlegend wichtig für ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum
und den Staatsbildungsprozess des palästinensischen Staates angesehen. Israel
kontrolliert nahezu vollständig die Infrastrukturplanung und die Bebauung der
C-Gebiete und verhindert dort fast jede palästinensische Entwicklung, während
der Siedlungsbau massiv vorangetrieben wird.

Das Oslo-Abkommen sah indes vor, dass die Befugnisse für die Planung und
Gebietsaufteilung innerhalb von fünf Jahren in einem graduellen Prozess von
Israel auf die Palästinensische Autonomiebehörde übergehen sollten. Dies ist
jedoch bis dato nicht geschehen, so dass Israel weiterhin die fast vollständige
Verantwortung und Autorität gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung
in den C-Gebieten ausübt.

Der auf zwei Jahre (2009 bis 2011) angelegte Plan zur Staatsbildung des paläs-
tinensischen Ministerpräsidenten Salam Fayyad nahm die C-Gebiete in den
Blick. Danach war der Bau zahlreicher großer Infrastrukturprojekte geplant wie
Kläranlagen, Abfalldeponien, Wasserleitungen und Überlandstraßen. Trotz der
Unterstützung durch das Nahost-Quartett wurden die meisten der genannten
Projekte von der sogenannten israelischen Zivilverwaltung, die aber dem isra-
elischen Militär unterstellt ist, nicht genehmigt. Zahlreiche dieser Projekte lie-
gen auf Eis und die von Geldgebern dafür zur Verfügung gestellten finanziellen
Mittel können nicht abfließen. Aktuell wird von der Palästinensischen Autorität
mit Hilfe der Vereinten Nationen an einer neuen Strategie eigens für die C-Ge-
biete gearbeitet.

Für die Palästinenser ist es in den C-Gebieten so gut wie unmöglich, Land zu
nutzen, zu planen oder eine Baugenehmigung zu erhalten. Israel wendet das jor-
danische Gesetz von 1966 an, das für die Nutzung von Land ein „Land Regist-
ration Certificate“ fordert. Seit Beginn der Besatzung wird ein solches aber nur
für Land ausgestellt, das bereits vor 1967 registriert war. Jegliche Art von Kon-
struktion, die 20 cm über oder unter dem Erdboden liegt, auch Zelte, Tierbehau-
sungen, Brunnen etc., benötigt eine Erlaubnis. Das zwingt die Palästinenser
dazu, ohne Genehmigung zu bauen, was wiederum in zahlreichen Fällen die
Zerstörung der errichteten Anlagen und Gebäude durch das israelische Militär
zur Folge hat. Die Zerstörung privaten Eigentums in den C-Gebieten hat in den
vergangenen Jahren deutlich zugenommen und geriet dadurch zunehmend auch
in die internationale Kritik. Derzeit bestehen in den C-Gebieten 3 300 Abriss-
verfügungen gegen Gebäude, die ohne Erlaubnis errichtet wurden. Darüber hin-
aus ist die palästinensische Bevölkerung kontinuierlich und verstärkt tätlichen
Angriffen durch israelische Siedler ausgesetzt, wie aus den regelmäßig erstellen
Berichten des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer
Angelegenheiten (UN OCHA) hervorgeht.

Durch die bestehenden israelischen Beschränkungen sind die wirtschaftlichen
Möglichkeiten für Palästinenser in den C-Gebieten auf wenig intensive Land-
wirtschaft beschränkt. Durch die De-facto-Kontrolle Israels über die gesamten
Wasserressourcen der Westbank haben die Palästinenser nur eingeschränkten
Zugang zu Wasserquellen, während die Wasserressourcen von israelischer Seite
überbeansprucht werden. Die Siedler eignen sich wichtige Wasserquellen und
Brunnen gezielt an.

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Während der Zugang zu Ackerland in den C-Gebieten entlang der Hauptstraßen
in der nördlichen und südlichen Westbank einfacher geworden ist, ist die Zahl
der Erlaubnisse für palästinensische Bauern zum Betreten und Bearbeiten ihres
Bodens zwischen dem tatsächlichen Verlauf der sogenannten Sicherheitsbar-
riere und der grünen Grenze von 1967 deutlich zurückgegangen. Nach einem
Bericht der Weltbank von 2010 sind Zugangsbegrenzungen zwar die sichtbar-
sten, nicht aber die einschneidensten Einschränkungen in den C-Gebieten. Die
bestehenden Rechtsverordnungen zur Bodennutzung und zu Infrastrukturpla-
nungen behindern die Entwicklung noch stärker.

Die geschilderte Lage führt dazu, dass sich die ohnehin schweren Lebensbedin-
gungen der in den C-Gebieten lebenden Palästinenser weiter verschlechtern. Die
Entwicklung wird behindert, die Lebensbedingungen sind für viele untragbar
geworden und die Bewohner können für einen ausreichenden Lebensunterhalt
für ihre Familien nicht mehr sorgen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt die u. a. von Deutschland finanzierte Unter-
stützung von elf Gemeinden in den südlichen Hebronbergen mit regenerativen
Energien (Stromanlagen mit Solar- und Windenergie) zur Verbesserung der
Lebensbedingungen der dort ansässigen palästinensischen Bevölkerung aus
Mitteln der Europäischen Union und einiger Mitgliedstaaten, darunter auch
Deutschland. Diese Errungenschaften sind jetzt gefährdet. Seit Januar 2012
wurden gegen fünf der von der israelischen Organisation Comet-ME durchge-
führten Projekte durch die israelische Zivilverwaltung sogenannte Stop-work-
Anordnungen verhängt. In einer Anhörung vor einem Ausschuss der Zivilver-
waltung wurden Ende Februar 2012 die Stop-work-Anordnungen in Abrissver-
fügungen umgewandelt. Die Gründer von Comet-ME sehen in dem Vorgehen
der israelischen Behörden ein Signal an die EU, sich nicht in die C-Gebiete mit
Investitionen einzumischen.

Genau solche Investitionen sind aber aus zwei Gründen dringend geboten: Zum
einen wird es ohne eine wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung der C-
Gebiete keinen Aufbau eines zusammenhängenden und lebensfähigen palästi-
nensischen Staates geben können. Zum anderen droht ohne den Ausbau von In-
vestitionen in den C-Gebieten die Hilfe und Unterstützung für den zukünftigen
palästinensischen Staat, die die UNO, die EU und auch Deutschland leisten, ei-
ner insgesamt negativen Entwicklung Vorschub zu leisten. Diejenigen finanziel-
len Mittel, die nicht in die C-Gebiete, sondern in die B- und A-Gebiete fließen,
in denen die Möglichkeiten, Infrastruktur aufzubauen wesentlich besser sind,
verstärken ungewollt die Asymmetrie der Lebensqualität zwischen den unter-
schiedlichen Gebieten. Es entsteht ein zunehmender Sog für diejenigen Palästi-
nenser, die in den C-Gebieten leben, diese zu verlassen und in die A- oder B-Ge-
bieten umzuziehen. Auf diese Art und Weise wird zur Entstehung eines
Enklavensystems beigetragen, bei dem die A- und B-Gebiete als Inseln in dem
Meer der von Israel kontrollierten C-Gebiete liegen. Damit wird eine Struktur
gefestigt, die nicht nur das Gegenteil eines zusammenhängenden und lebens-
fähigen palästinensischen Staates ist – ein solcher Staat wird durch diese Struk-
tur auf Dauer verhindert.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die für die C-Gebiete geltenden Restriktionen zu einem wichtigen Thema der
bilateralen Beziehungen zu machen mit dem Ziel, dass die israelische Regie-
rung diese beseitigt bzw. kontinuierlich Bereiche, die heute zu den C-Gebie-
ten gehören, in B- bzw. A-Gebiete umwandelt;

2. die israelische Regierung zu einer sofortigen Aussetzung der Abrisse von
Anlagen und Gebäuden aufzufordern, die Palästinensern in den C-Gebieten

gehören, bis diese Zugang zu einem fairen und rechtsstaatlichen Planungs-
prozess haben;

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3. die israelische Regierung aufzufordern, einen zunehmenden Transfer von
Verantwortung für Planungsprozesse in den C-Gebieten in die Verantwor-
tung palästinensischer Stadt- und Regionalverwaltungen zu unterstützen;

4. die Palästinensische Autonomiebehörde bei der zukünftigen Entwicklung
von Bebauungsplänen für die gesamte Westbank, einschließlich der C-Ge-
biete, Ost-Jerusalems und der Gebiete zwischen der Sicherheitsbarriere und
der grünen Linie, zu unterstützen;

5. die israelische Regierung aufzufordern, alle Fälle von Gewalt und Ein-
schüchterung durch israelische Siedler strafrechtlich verfolgen zu lassen;

6. die israelischen Behörden aufzufordern, die Tore zu den Bereichen, die zwi-
schen der Sperranlage und der grünen Grenze liegen, regelmäßig zu öffnen
und landwirtschaftlichem Gerät die Zufahrt zu ermöglichen;

7. in den C-Gebieten Entwicklungsprojekte einschließlich des Baus neuer
Schulen, Gemeindezentren, Krankenhäuser, Stadtverwaltungen, Straßen,
Bewässerungsanlagen und anderer Infrastrukturprojekte zu unterstützen und
seitens Israel eine zeitnahe Erteilung von Genehmigungen einzufordern;

8. den Zugang der palästinensischen Bevölkerung zu Trinkwasser, Gesund-
heitsversorgung und Bildung in den C-Gebieten zu unterstützen;

9. in den C-Gebieten die Entwicklung des palästinensischen Privatsektors zu
unterstützen;

10. die israelische Regierung aufzufordern, das Oslo-II-Abkommen umzuset-
zen;

11. die israelische Regierung aufzufordern, keine weiteren israelischen Staats-
bürger in den C-Gebieten anzusiedeln und entsprechend den Bestimmungen
der Roadmap die Siedlungstätigkeit einzufrieren, bis eine Verhandlungs-
lösung der beiden Konfliktparteien erreicht ist;

12. zusammen mit anderen internationalen Akteuren gegen unfreiwillige
Bevölkerungsbewegungen, Zwangsräumungen und die Umsetzung von
Abrissverfügungen in den C-Gebieten bei den israelischen Behörden zu
protestieren;

13. der israelischen Regierung gegenüber entschieden deutlich zu machen, dass
sie die Beeinträchtigung und eine mögliche Zerstörung der von Deutsch-
land finanzierten Stromanlagen mit Solar- und Windenergie zur Verbes-
serung der Lebensbedingungen der ortsansässigen palästinensischen Be-
völkerung als einen unfreundlichen Akt und eine Beeinträchtigung der
bilateralen Beziehungen betrachten würde;

14. eine Zuordnung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bzw. eine
konkrete statistische Erfassung der Zusagen für Maßnahmen in den C-Ge-
bieten für die Jahre 2009 bis 2011 vorzunehmen und dem Deutschen Bun-
destag vorzulegen;

15. künftig eine Zuordnung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bzw.
eine konkrete statistische Erfassung der Zusagen für Maßnahmen in den
C-Gebieten vorzunehmen;

16. sich innerhalb der EU für eine Dokumentation der Umsetzung von Einzel-
maßnahmen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit in den C-Ge-
bieten einzusetzen.

Berlin, den 12. Juni 2012
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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Begründung

Alle israelischen Siedlungen in der Westbank befinden sich in den C-Gebieten.
Die Siedlergemeinden umfassen zwar nur 9,3 Prozent des Gebietes der Westbank.
Im Zusammenhang mit den Siedlerstraßen und den Zugangsbeschränkungen der
Palästinenser zu ihrem Boden dominiert die israelische Siedlungsstruktur aber
etwa 40 Prozent der Westbank. Nach einem Bericht der israelischen Organisation
Peace Now aus dem Jahr 2006 sind 40 Prozent des Landes in den C-Gebieten,
auf dem israelische Siedlungen stehen, in palästinensischem Privatbesitz.

Die israelische Seite agiert in den C-Gebieten durch die sogenannte Zivilverwal-
tung, die ihrerseits COGAT (Coordinator of Government Activities in the Terri-
tories) unterstellt ist, einer Behörde des israelischen Verteidigungsministeriums.
In der Ziviladministration arbeiten israelische Soldaten und israelische Zivilis-
ten. Palästinenser sind in der israelischen Ziviladministration nicht repräsentiert.
Die Planungsprozesse, die jeden Aspekt des zivilen Lebens der Palästinenser in
den C-Gebieten und direkt oder indirekt auch die Lebensbedingungen der Paläs-
tinenser in den A- und B-Gebieten betreffen, werden auf diese Art und Weise
ausschließlich von Israelis kontrolliert.

Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung huma-
nitärer Angelegenheiten (UN OCHA) ist faktisch in etwa 70 Prozent der C-Ge-
biete palästinensische Bautätigkeit verboten, die ihrerseits 62 Prozent des West-
bankterritoriums ausmachen. Lediglich innerhalb der Grenzen eines von Israel
genehmigten Planes, der nur 1 Prozent der C-Gebiete umfasst, die zudem weit-
gehend bebaut sind, ist palästinensische Bautätigkeit erlaubt.

Die Lebensbedingungen der palästinensischen Bevölkerung in den C-Gebieten
werden ständig verschlechtert. Neben der restriktiven Planungspolitik ist sie
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ausgesetzt sowie Schikanen durch das
israelische Militär oder durch Siedler. Allein im Jahr 2010 wurden nach Anga-
ben von UN OCHA bei 79 Vorfällen Palästinenser verletzt und bei 219 Vorfällen
wurde palästinensischer Besitz bzw. palästinensisches Land beschädigt. Nach
Angaben der israelischen Nichtregierungsorganisation BIMKOM-Planners for
Planning Rights haben 11 Prozent aller palästinensischen Einwohner der C-Ge-
biete seit dem Jahr 2000 mindestens einmal ihren Wohnort gewechselt. Die be-
troffenen Familien sind teilweise in die A- und B-Gebiete und zum Teil an an-
dere Orte in den C-Gebieten gezogen.

Nach Angaben von UN OCHA sind seit Januar 2010 von den israelischen Be-
hörden 45 Zisternen und Anlagen zum Auffangen von Regenwasser zerstört
worden. Im Jordantal zeigt sich, zu welchen asymmetrischen Entwicklungen
dies führt. Vor 1967 lebten dort zwischen 200 000 und 320 000 Palästinenser,
während es heute noch 56 000 sind und von diesen leben 70 Prozent in der Stadt
Jericho, die zu den A-Gebieten zählt. Israelische Siedler haben sich dagegen auf
den Anbau von Exportfrüchten spezialisiert und verbrauchen das meiste Wasser
der Region.

Die palästinensische Wirtschaft hat sich mit einem reduzierten Defizit, einem
Positivwachstum und einer stabilen Inflation durch die andauernden Reformen
und deutliche Unterstützung von außen positiv entwickelt. Eine Verbesserung
der Lage hat es allerdings nicht überall gegeben. Sowohl die C-Gebiete mit dem
Jordantal als auch Ost-Jerusalem und die Gebiete zwischen der sogenannten
Sicherheitsbarriere und der grünen Linie sind davon ausgenommen.

Während die Versorgung mit Dienstleistungen für die palästinensische Bevölke-
rung in den A- und B-Gebieten in den vergangenen Jahren verbessert werden
konnte, verbleibt die Bevölkerung vor allem in abgelegenen Gegenden der C-Ge-
biete ohne angemessenen Zugang zu grundlegenden sozialen Dienstleistungen.

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Deutschland unterstützt seit 2009 mit bislang insgesamt etwa 600 000 Euro ver-
schiedene Projekte mit regenerativen Energien in den südlichen Hebronbergen.
Die Projekte werden durch die deutsche Organisation medico international in
Zusammenarbeit mit der von zwei israelischen Physikern gegründeten Organi-
sation Comet-ME und mit den Einwohnern und Einwohnerinnen der Gemein-
den durchgeführt. Durch diese Stromanlagen mit Solar- und Windenergie
konnte das Leben der Betroffenen sehr grundsätzlich verbessert werden. Die mit
dem installierten System produzierte Strommenge reicht zwar nicht für eine
Heizung, hat aber das Leben der Bewohner und vor allem das der Bewohnerin-
nen grundlegend verändert: Kinder können abends Hausaufgaben machen,
Frauen müssen die Butter nicht mehr in Handarbeit herstellen und können den
produzierten Schafskäse kühlen. Sie brauchen nicht mehr lange Wege in ent-
fernte Ortschaften auf sich zu nehmen, um etwa ein Mobiltelefon aufzuladen
oder gemeinsam fernzusehen.

Neben der Gefährdung dieser Projekte gibt es Projekte in den C-Gebieten, die
von Frankreich, Spanien, Irland und Polen finanziert wurden, die ebenfalls von
Stop-work-Anordnungen bzw. Abrissverfügungen betroffen sind und teilweise
bereits abgerissen wurden.

Die Zwei-Staaten-Regelung muss unterstützt und einer Delegitimierung des
Staates Israel muss entgegengewirkt werden. Die israelische Politik in den
C- Gebieten trägt aber wesentlich dazu bei, dass eine wachsende Zahl von Paläs-
tinenserinnen und Palästinensern nicht mehr an die Realisierung einer Zwei-
Staaten-Struktur glauben. Viele, vor allem Jüngere, die sich weder mit Fatah
noch mit Hamas identifizieren, engagieren sich auf meist explizit gewaltfreiem
Weg für gleiche Bürgerrechte in einem Staat. Damit stellen sie eine künftige
Zwei-Staaten-Struktur mit einem jüdischen und demokratischen Staat Israel und
einem palästinensischen und demokratischen Staat Palästina in guter Nachbar-
schaft infrage. Sie sehen in der Sanktionierung Israels (z. B. durch Klagen vor
internationalen Gerichtshöfen, Boykottaufrufen gegen Israel, etc.) wichtige In-
strumente und bekommen wachsende internationale Unterstützung. Dies wird
von der israelischen Regierung als Delegitimierung des Staates Israel charakte-
risiert und heftig kritisiert. Mit ihrer derzeitigen Politik in den C-Gebieten trägt
die israelische Regierung aber auch selbst zu dieser Entwicklung bei.

In seiner Erklärung vom 11. April 2012 hat das Nahost-Quartett betont, dass die
soziale und wirtschaftliche Entwicklung der C-Gebiete von entscheidender
Wichtigkeit für die Lebensfähigkeit eines künftigen palästinensischen Staates
wie auch für die Ermöglichung des Führens eines normalen Lebens für die
palästinensischen Einwohner ist. Der Rat der EU hat in seinen Schlussfolgerun-
gen zum Nahost-Friedensprozess vom 14. Mai 2012 Israel aufgerufen, seinen
Verpflichtungen hinsichtlich der Lebensbedingungen der palästinensischen Be-
völkerung in den C-Gebieten nachzukommen. Dazu zählt der Rat die beschleu-
nigte Genehmigung der palästinensischen Masterpläne, die Einstellung von
Zwangsumsiedlungen und Zerstörung palästinensischer Häuser und Infrastruk-
tur, die Vereinfachung von Verwaltungsverfahren für den Erhalt von Baugeneh-
migungen, die Gewährleistung des Zugangs zu Wasserversorgung und die Si-
cherstellung humanitärer Bedürfnisse. Der Rat fordert außerdem Israel auf, mit
der palästinensischen Behörde zusammenzuarbeiten, um dieser Behörde einen
größeren Zugang zu den C-Gebieten und mehr Kontrolle dort zu gestatten. Der
Rat kündigt weitere finanzielle Unterstützung für die palästinensische Entwick-
lung in den C-Gebieten an und erwartet von der israelischen Regierung, dass
diese Investitionen für künftige Verwendungszwecke geschützt werden.

Wenn Deutschland und die Europäische Union mit guten Gründen weiter an der
Perspektive einer Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts in Form

einer Zwei-Staaten-Struktur festhalten wollen, dann müssen sie die Unterstüt-
zung der beiden Konfliktparteien auf dieses Ziel ausrichten. Diese Unterstüt-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/9981

zung muss so strukturiert sein, dass sie nicht ungewollt die Entwicklung zu
einem zusammenhängenden und lebensfähigen palästinensischen Staat verbaut.
Beiden Konfliktparteien sollte eine Intensivierung der Unterstützung und der
Anbindung an die EU in Aussicht gestellt werden, wenn ihre Politik praktisch
zur Verwirklichung einer Zwei-Staaten-Regelung des israelisch-palästinen-
sischen Konflikts beiträgt. Den Konfliktparteien muss jedoch auch klar sein,
dass die Verweigerung der Verantwortung als Besatzungsmacht für das Wohler-
gehen der palästinensischen Bevölkerung bzw. sicherheitsgefährdende Aktivi-
täten gegen israelische Staatsbürger negative Auswirkungen auf die Beziehun-
gen haben werden.

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