BT-Drucksache 17/9825

Besteuerung von im Ausland lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern und Zahlungen an frühere Militärkollaborateure

Vom 23. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9825
17. Wahlperiode 23. 05. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Herbert Behrens, Heidrun Dittrich,
Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko, Stefan Liebich, Cornelia Möhring,
Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Paul Schäfer (Köln), Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Vogler, Harald Weinberg, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Besteuerung von im Ausland lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern und
Zahlungen an frühere Militärkollaborateure

Renten, die an im Ausland wohnende Personen geleistet werden, sind seit 2005
in Deutschland steuerpflichtig. Entsprechende Steuerbescheide werden seit ver-
gangenem Jahr versandt. Dabei haben auch solche Personen Steuerbescheide
erhalten, die Renten beziehen, die aus Zwangsarbeit für die Nazis oder andere
Formen der NS-Verfolgung zurückgehen. Diese Maßnahme hat vor allem in der
belgischen Öffentlichkeit unter dem Stichwort „Nazitaks“ große Empörung her-
vorgerufen.

Seit Ende November 2011 ist zwar gesetzlich klargestellt, dass Renten für Opfer
der NS-Verfolgung im Sinne von § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG)
steuerfrei sind. Dennoch sind Steuerbescheide auch an diese Personengruppe ge-
gangen. Das zentral zuständige Finanzamt Neubrandenburg konnte offenbar aus
den ihm vorliegenden Akten nicht entnehmen, ob es sich um „normale“ Alters-
renten aus einer freiwilligen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung han-
delt oder um Leistungen für ehemalige Zwangsarbeiter.

Obwohl der Pressesprecher der Bundesregierung auf der Pressekonferenz vom
21. November 2011 erklärte, dass das geschilderte Problem „nicht existiert oder
demnächst nicht mehr existieren wird“, erhielten noch Anfang des Jahres NS-
Opfer Steuerbescheide. Es gingen „Dutzende von Anrufen pro Tag“ bei belgi-
schen Verwaltungsstellen ein, hieß es (u. a. in der Gazet van Antwerpen, 27. Ja-
nuar 2012). Das Vorgehen der deutschen Behörden wird als intransparent und
skandalös aufgefasst. Die hochbetagten Personen haben teilweise Schwierigkei-
ten, den Bescheid sowie die Widerspruchsmöglichkeiten zu verstehen, viele
empfinden es auch als Zumutung. Die Empörung verstärkte sich Ende März
2011 durch Berichte, denen zufolge Deutschland noch an 2 500 ehemalige Mi-
litärkollaborateure (Belgier, die sich freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht
und Waffen-SS gemeldet hatten) Zahlungen leiste, die weit höher seien als die
Renten an NS-Opfer (www.grenzecho.net/ArtikelLoad.aspx?aid=4f55527b-
40d6-42a6-90 7e-4fa31a 6c3b43).

Nach Angaben des Finanzministeriums Mecklenburg-Vorpommern gegenüber
den Fragestellern liegt dem Finanzamt Neubrandenburg mittlerweile eine in
Belgien erstellte Namensliste aller ehemaligen belgischen Zwangsarbeiter vor.
Außerdem nehme das Amt bei Vorliegen von Hinweisen auf erlittene Zwangs-
arbeit eine Einzelfallprüfung vor, um die Besteuerung von NS-Verfolgten zu
vermeiden. Die belgische Regierung ist diesbezüglich mehrfach mit der Bundes-

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regierung in Kontakt getreten. Den Fragestellern ist hingegen nicht bekannt,
welche Kontakte es zu anderen Regierungen gibt.

Aus Sicht der Fragesteller muss sichergestellt werden, dass NS-Opfer keine sol-
chen Rentenbescheide oder gar Androhungen von Vollstreckungsmaßnahmen
erhalten. Dabei sollte die Bundesregierung die enge Auslegung des Begriffs
„NS-Opfer“ von § 1 BEG aufgeben. In einer Presseerklärung vom 21. November
2011 führt das Bundesministerium der Finanzen aus, es würden lediglich jene
Zwangsarbeiter, „die als Verfolgte in diesem Sinne (§ 1 BEG) anerkannt sind,
unter diese Steuerbefreiungsvorschrift fallen“. Nach Ansicht der Fragesteller
liegt es auf der Hand, dass jede Deportation zur Zwangsarbeit ein Unrecht dar-
stellt. Die Fragesteller plädieren entschieden dafür, die bescheidenen Renten, die
aus diesem Unrecht erwachsen, in jedem Fall steuerfrei zu stellen und nicht die
einen Zwangsarbeiter schlechter zu stellen als die anderen. Nach Angaben in der
belgischen Presse betragen die Rentenzahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter
40 bis 100 Euro pro Monat (www.nieuwsblad.be/article/detail.aspx?articleid=G
RF3P312H). Es muss überprüft werden, ob die Zahlungen an ehemalige Kolla-
borateure der Nazis tatsächlich höher sind als jene an deren Opfer.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Seit wann genau werden die genannten Rentenbescheide verschickt?

2. Sind auch nach Inkrafttreten von § 3 Nummer 8a des Beitreibungsrichtlinie-
Umsetzungsgesetzes Steuerbescheide an ausländische NS-Opfer sowie ehe-
malige Zwangsarbeiter versandt worden, und wenn ja, warum?

3. Wird die Steuerbefreiung auch auf solche ehemaligen Zwangsarbeiter ausge-
dehnt, die nicht als NS-Opfer im Sinne von § 1 BEG anerkannt sind, und
wenn nein, was will die Bundesregierung unternehmen, um auf deren Steuer-
befreiung hinzuwirken?

4. Wie genau setzt sich die Zahl von 25 000 Personen zusammen, die in der
Pressekonferenz der Bundesregierung am 21. November 2011 genannt
wurde?

5. Wie viele ehemalige Zwangsarbeiter sind nach Einschätzung der Bundes-
regierung als NS-Verfolgte im Sinne von § 1 BEG anerkannt (bitte nach Län-
dern – heutiger Wohnsitz – aufschlüsseln)?

Falls der Bundesregierung keine belastbaren Zahlen vorliegen, wie ist aus
ihrer Sicht ungefähr das Verhältnis der Zahl als NS-Verfolgte „anerkannter“
zur Zahl „nicht anerkannter“ ehemaliger Zwangsarbeiter einzuschätzen?

Welche Einschätzung hat die Bundesregierung zu der Frage, wie viele der im
Auszahlungszeitraum noch lebenden ehemaligen belgischen Zwangsarbeiter
Leistungen durch die Stiftung EVZ „Erinnerung, Verantwortung und Zu-
kunft“ erhalten haben?

6. Wie viele im Ausland lebende NS-Opfer im Sinne von § 1 BEG beziehen der-
zeit laufende monatliche Leistungen (bitte nach Ländern sowie Kategorien
wie Renten, Entschädigungs-/Wiedergutmachungsleistungen usw. aufschlüs-
seln)?

7. Wie viele im Ausland lebende weitere NS-Opfer, insbesondere Zwangsarbei-
ter, beziehen derzeit laufende monatliche Leistungen (bitte nach Ländern so-
wie Kategorien wie Renten, Entschädigungs-/Wiedergutmachungsleistungen
usw. aufschlüsseln)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9825

8. Wie viele Steuerbescheide sind bislang insgesamt versandt worden, und wie
viele hiervon an

a) NS-Opfer im Sinne von § 1 BEG und

b) weitere NS-Opfer, insbesondere Zwangsarbeiter

(bitte jeweils möglichst nach Ländern aufschlüsseln)?

9. Über welche Wege und Medien werden die Betroffenen über die Rechts-
situation informiert?

a) In welcher Sprache erfolgt die Information?

b) Werden in mehrsprachigen Ländern, wie Belgien, sämtliche relevanten
Sprachen verwandt?

c) Werden sämtliche Rentenbezieher in sämtlichen Ländern angeschrieben,
oder nach welchen Kriterien erfolgen die Informationen?

10. Wie genau vollzieht sich die Prüfung jener Steuerbescheide, die bereits ver-
sandt worden sind, daraufhin, ob die Empfänger womöglich steuerbefreite
NS-Opfer oder ehemalige Zwangsarbeiter sind, und welche Regelungen
gelten derzeit für die Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen wie
Rentenkürzungen usw.?

11. Wie stellt das Finanzamt Neubrandenburg sicher, dass künftig nicht weitere
Steuerbescheide an NS-Opfer ergehen?

12. Wie genau wird geprüft, ob Rentenzahlungen an im Ausland lebende
Personen aus einer Verfolgung (auch Zwangsarbeit) während der national-
sozialistischen Herrschaft herrühren?

13. Bis wann wird die entsprechende Prüfung voraussichtlich abgeschlossen
sein?

14. Gilt derzeit ein Moratorium für die Versendung von Steuerbescheiden in all
jenen Fällen, die noch nicht entsprechend geprüft sind, und wenn nein,
warum nicht?

a) Wie viele Fälle sind vom Moratorium ggf. betroffen?

b) Gilt dieses Moratorium ggf. für alle Länder oder nur für bestimmte (bitte
ggf. aufführen und begründen)?

15. Ist sichergestellt, dass Vollstreckungsmaßnahmen nur dann ergriffen wer-
den, wenn definitiv sichergestellt ist, dass es sich beim Betroffenen nicht
um ein NS-Opfer oder um einen ehemaligen Zwangsarbeiter handelt, und
wie wird in Zweifelsfällen, etwa wenn der Rentner (aus Altersgründen
usw.) sich nicht äußert, verfahren?

16. Trifft die Aussage des niederländischen Staatssekretärs Frans Weekers vom
27. Dezember 2011 im belgischen Parlament (Frage 2011Z24968) zu:
„Wenn die Betroffenen eine Steuerbefreiung geltend machen möchten,
müssen sie sich beim Finanzamt Neubrandenburg anmelden“ (genutzte
Quelle: Übersetzung des niederländischsprachigen Originals durch den
Sprachendienst des Deutschen Bundestages), und inwiefern gibt es noch
andere Möglichkeiten, auszuschließen, dass NS-Opfer auf ihre Leistungen
Steuern zahlen müssen?

Inwiefern wird dabei berücksichtigt, dass einige der Betroffenen möglicher-
weise aus Altersgründen nicht in der Lage oder aus politischen Gründen
nicht willens sind, mit deutschen Behörden zu kommunizieren?

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17. Sind seit erstmaligem Versand der fraglichen Steuerbescheide bereits Zah-
lungen eingegangen, und wenn ja, waren hierunter auch solche von NS-Op-
fern bzw. kann die Bundesregierung ausschließen, dass NS-Opfer Steuern
bezahlt haben, weil sie von ihrer Steuerbefreiung nichts wussten oder diese
zum Zahlungszeitpunkt noch nicht rechtskräftig war?

a) Wie hoch sind diese Zahlungen?

b) Wie wird gewährleistet, dass diese Zahlungen an die NS-Opfer zurück-
gezahlt werden, auch in solchen Fällen, in denen die Betroffenen keinen
Widerspruch gegen die Bescheide eingelegt haben?

c) Setzt dies zwingend ein Tätigwerden der Betroffenen voraus oder wird
dies vom Finanzamt Neubrandenburg von Amts wegen durchgeführt?

d) Wie viele Betroffene sind bislang diesbezüglich bei deutschen Behörden
vorstellig geworden?

e) Welche Regelungen sind bezüglich bereits gezahlter Steuern für solche
Zwangsarbeiter vorgesehen, die nicht als NS-Opfer nach § 1 BEG aner-
kannt sind?

18. Trifft es zu, dass die belgische Regierung eine Namensliste von Personen
übermittelt hat, die in Belgien als NS-Opfer anerkannt worden sind und die
vom Finanzamt Neubrandenburg als Instrument genutzt wird, um Steuerbe-
scheide an diese Personengruppe zu vermeiden?

19. Inwiefern haben die Bundesregierung oder das Finanzministerium Mecklen-
burg-Vorpommern Kontakt mit anderen Staaten aufgenommen, um in
Zusammenarbeit mit den dort jeweils zuständigen Stellen an vergleichbare
Namenslisten zu kommen?

20. Inwiefern hat die Bundesregierung bzw. das Finanzministerium Mecklen-
burg-Vorpommern Kontakt mit den Behörden weiterer Länder aufgenom-
men, um die Besteuerung von NS-Opfern zu vermeiden?

21. Inwiefern sind von dem Problem der Rentenbesteuerung für im Ausland
lebende Rentenberechtigte auch solche Personen betroffen, die Rentenan-
sprüche aus Arbeit in einem Ghetto beziehen, und welche Regelungen gibt
es für solche „Ghetto-Arbeiter“, die nicht als NS-Verfolgte im Sinne von § 1
BEG anerkannt sind?

22. Wie hoch sind im Durchschnitt etwa die Bezüge von

a) NS-Opfern,

b) ehemaligen Zwangsarbeitern und

c) ehemaligen SS- und Wehrmachtsangehörigen nach dem Bundesversor-
gungsgesetz?

23. Falls die Bundesregierung hierzu keine Angaben machen kann, in welchem
Verhältnis stehen ungefähr die Bezüge aus einer NS-Verfolgung und einer
durch Kriegsbeschädigung beim freiwilligen Dienst in Wehrmacht oder
Waffen-SS begründeten Versorgungszahlung?

Gesetzt, dass die Rentenzahlungen signifikant geringer sind, welche Initia-
tiven will die Bundesregierung ergreifen, um sicherzustellen, dass NS-Op-
fer nicht schlechter gestellt werden als ehemalige Nazikollaborateure?

24. Wie viele Leistungsbezieher nach dem Gesetz über die Versorgung der
Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG) gibt es derzeit insge-
samt, und wie hoch sind die monatlich gezahlten Leistungen (bitte nach
Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen differenzieren)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9825

25. Wie viele Leistungsbezieher wohnen im Ausland, und wie hoch sind die
dahin ausbezahlten Leistungen (die 15 wichtigsten Länder bitte getrennt
ausweisen)?

26. Ist die Bundesregierung bereit, den belgischen Behörden eine Übersicht
über in Belgien lebende ehemalige freiwillige SS-Angehörige zu übermit-
teln, die deutsche Renten bzw. BVG-Leistungen beziehen, da es in Belgien
Forderungen gibt, die Leistungen zumindest für jene belgischen Militär-
kollaborateure, die nach der Befreiung vom Faschismus wegen Kollabo-
rationsverbrechen verurteilt worden sind, als Vorteil, der aus einem Ver-
brechen erwuchs, zu betrachten und einzuziehen.

Wenn nein, warum nicht?

27. Wie viele im Ausland lebende Personen beziehen derzeit Leistungen nach
dem Bundesversorgungsgesetz?

a) Wie viele dieser Personen waren freiwillige Mitglieder der Waffen-SS?

b) Wie viele dieser Personen waren freiwillige Angehörige der Wehr-
macht?

c) Wie viele dieser Personen waren in anderen bewaffneten Einheiten unter
deutschem Oberkommando?

28. Falls die Bundesregierung hierzu nicht über genauere Angaben verfügt,

a) inwiefern hält sie die in der belgischen Presse kolportierte Anzahl von
2 500 Nazikollaborateuren, die Leistungen beziehen sowie 13 500 NS-
Opfern, die Renten erhalten, für realistisch;

b) worin genau liegt die Schwierigkeit, genauere Angaben zu erhalten, da
es ja auch möglich ist, aus der Gesamtsumme der Rentenempfänger im
Ausland, diejenigen zu ermitteln, die NS-Opfer sind;

c) welchen Unterschied hinsichtlich des Zeitaufwandes würde es machen,
aus der Gesamtsumme der BVG-Leistungsempfänger, diejenigen aus-
ländischen Empfänger zu ermitteln, die ihren Leistungsanspruch infolge
eines freiwilligen Dienstes in bewaffneten deutschen Einheiten geleistet
haben?

Berlin, den 23. Mai 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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