BT-Drucksache 17/9584

Schutzverantwortung weiter entwickeln und wirksam umsetzen

Vom 9. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9584
17. Wahlperiode 09. 05. 2012

Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln),
Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck (Bremen), Thilo Hoppe, Ute Koczy,
Omid Nouripour, Viola von Cramon-Taubadel, Agnes Brugger, Kai Gehring,
Ingrid Hönlinger, Uwe Kekeritz, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schutzverantwortung weiterentwickeln und wirksam umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die internationale Gemeinschaft steht immer wieder vor der Frage, wie
schwerste Menschenrechtsverletzungen in innerstaatlichen Konflikten verhin-
dert werden können. Auf dem Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen 2005
hat die Generalversammlung daher die „Responsibility to Protect“ (RtoP), die
Schutzverantwortung beschlossen. Damit haben alle Staats- und Regierungs-
chefs anerkannt, dass jeder Staat erstens verpflichtet ist, seine Bevölkerung vor
Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eth-
nischen Säuberungen zu schützen. Zweitens ist die internationale Gemeinschaft
verpflichtet, Staaten grundsätzlich bei der Wahrnehmung ihrer Schutzverant-
wortung zu unterstützen, also nicht erst dann tätig zu werden, wenn ein Staat
bereits dabei versagt. Wo ein Staat die Schutzverantwortung gegenüber seiner
Bevölkerung offenkundig nicht ausüben kann oder will, ist die internationale
Gemeinschaft drittens in der Mitverantwortung, durch die Vereinten Nationen
(VN) geeignete diplomatische, humanitäre und andere Mittel bis hin zu Zwangs-
maßnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta zu ergreifen. In dieser sich er-
gänzenden Verantwortung von Staaten und der internationalen Gemeinschaft
liegt die Chance für einen frühzeitigen und wirksamen Schutz vor schwersten
Menschenrechtsverletzungen.

Die Anerkennung der Schutzverantwortung ist ein wichtiger Schritt, um künftig
schwerste Menschenrechtsverbrechen verhindern zu können. Die Errungen-
schaft des Konzepts besteht vor allem in der Rückbesinnung auf den Zweck
staatlicher Souveränität, den Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Es schafft
einen Perspektivwechsel von der ausschließlichen Orientierung an der Sicher-
heit von Staaten zur Sicherheit von Menschen, von der Täterperspektive zur
Opferperspektive. Die Schutzverantwortung zielt auf eine Integration von Men-

schenrechtsschutz und staatlicher Souveränität. Sie stärkt vor allem die Rechte
besonders gefährdeter Gruppen wie Frauen, Kinder, Flüchtlinge und Vertrie-
bene. Durch das kollektive Handeln im VN-Rahmen kann die Schutzverantwor-
tung den kooperativen Multilateralismus, das Völkerrecht und den internationa-
len Menschenrechtsschutz insgesamt stärken.

Die Schutzverantwortung wirksam umzusetzen, ist die zentrale Herausforde-
rung für einen wirksamen Menschenrechtsschutz im 21. Jahrhundert. Sie stärkt

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die Souveränität von Staaten, anstatt sie zu schwächen. Denn starke Staaten sind
fähig und willens, die eigene Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen,
ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen.

Die RtoP wurde als ganzheitlicher Ansatz im Sinne einer Schutzverantwortung
zur Vorbeugung (responsibility to prevent), zur Reaktion (responsibility to react)
und zum Wiederaufbau (responsibility to rebuild) konzipiert. In den letzten Jah-
ren ist die RtoP innerhalb der VN weiter konkretisiert und fokussiert worden im
Sinne einer Schutzverantwortung zur Vorbeugung (responsibility to prevent),
zur Unterstützung (responsibility to assist) und zur Reaktion (responsibility to
react). Damit richtet die RtoP heute den Fokus auf die primäre Verantwortung
von Staaten und deren Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.
Durch den Schwerpunkt auf diese Präventionspflichten sollen der Einsatz mili-
tärischer Mittel und die Anwendung von Gewalt verhindert werden.

Nur die Vereinten Nationen können ein Mandat für die Durchsetzung der RtoP
erteilen, und das nur strikt begrenzt auf die vier Kernverbrechen Völkermord,
Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säube-
rungen. Das Konzept der RtoP schafft keine zusätzlichen Interventionsgründe,
sondern definiert Tatbestände. Aufgrund des ihm übertragenen Gewaltmonopols
konnte der Sicherheitsrat schon immer die Souveränität eines Mitgliedstaates
beschränken bzw. aussetzen. Die VN-Charta erwähnt in diesem Zusammenhang
aber ausdrücklich nur internationale Konflikte. Die RtoP stellt klar, dass auch in-
nerstaatliche Konflikte in klar definierten Fällen die internationale Gemein-
schaft in die Verantwortung nimmt und der Sicherheitsrat zu entsprechenden Be-
schlüssen legitimiert sein kann.

Die Schutzverantwortung begründet keine neuen völkerrechtlichen Rechte oder
Pflichten der VN und ihrer Mitgliedstaaten, sondern ist bereits im bestehenden
Völkerrecht verankert. Den Einsatz von Gewalt an eine Autorisierung des VN-
Sicherheitsrates zu binden, stimmt mit geltendem Recht überein und ist völker-
rechtlich keine Neuigkeit. Dasselbe gilt für die Schutzverantwortung eines jeden
Staates, die bereits aus den vertraglichen und völkergewohnheitsrechtlichen
Pflichten zur Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts
resultiert. Nach Artikel 1 der Völkermordkonvention (1948) sind Staaten dazu
verpflichtet, Völkermord zu verhüten und zu bestrafen. Spätestens seit dem Ur-
teil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) 2007 Bosnia and Herzegovina vs.
Serbia and Montenegro steht fest, dass, wer seiner Verpflichtung zur Verhütung
und Bestrafung von Völkermord auch in einem anderen Staat nicht nachkommt,
gegen geltendes Völkerrecht verstößt. In engem Bezug dazu stehen auch die
Normen der UN-Völkerrechtskommission (ILC) zur Staatenverantwortung. Ein
„massives oder systematisches Versagen“ eines verantwortlichen Staates löst die
Verpflichtung anderer Staaten aus zusammenzuarbeiten, um diese Rechtsverlet-
zung durch den Einsatz rechtmäßiger Mittel zu beenden. Neben der Völker-
mordkonvention sind Staaten auch nach den Genfer Konventionen (1949), den
Zusatzprotokollen zu den Genfer Konventionen (1977), und dem Statut von
Rom des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) dazu verpflichtet, Völker-
mord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhüten
und zu bestrafen. Diese genannten Pflichten gelten auch völkergewohnheits-
rechtlich. Verbrechen gegen die Menschlichkeit können auch Handlungen sein,
die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die
Zivilbevölkerung mit dem Ziel begangen werden, einen Teil der Bevölkerung zu
vernichten, indem Nahrung und Medikamente vorenthalten werden. Ethnische
Säuberung ist zwar kein eigenständiges Verbrechen nach dem Völkerrecht, sol-
che Handlungen können aber unter Umständen einem der drei anderen Verbre-
chen zugeordnet werden.
Die Schutzverantwortung geht nicht auf die Initiative von Staats- und Regie-
rungschefs, sondern der Zivilgesellschaft zum Schutz von Menschen vor Mas-

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senverbrechen zurück. Die Afrikanische Union hat die Schutzverantwortung als
bislang einzige Organisation in ihre Gründungscharta (Artikel 4 Buchstabe h)
aufgenommen und damit den Vorwurf widerlegt, dass die Schutzverantwortung
eine westliche Norm sei. VN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und seine Sonder-
berater zur Prävention von Völkermord, Francis Deng, und zur RtoP, Edward
Luck, haben in den letzten Jahren erfolgreiche Aufklärungsarbeit über die In-
halte und Ziele der Schutzverantwortung geleistet und viele Missverständnisse
ausgeräumt. Die Schutzverantwortung ist zwar noch keine verpflichtende völ-
kerrechtliche Norm und auch noch kein Völkergewohnheitsrecht. Die gewohn-
heitsrechtliche Etablierung der Norm schreitet aber voran.

Die Ereignisse in Libyen und Syrien haben auch Defizite in der Verrechtlichung
internationaler Beziehungen aufgezeigt. Die Entscheidungsstrukturen innerhalb
des Sicherheitsrates stellen die Machtverhältnisse aus den Jahren nach 1945 dar.
Beschlüsse sind daher oft mehr geprägt von nationalen Interessen und Machtan-
sprüchen als von genuiner Friedenspolitik. Das gilt in beiden Richtungen: sei es,
um einen Beschluss herbeizuführen oder um einen Beschluss zu verhindern. Das
Hauptproblem ist jedoch die fehlende Bereitschaft von Staaten, schwersten
Menschenrechtsverletzungen zu begegnen. Insbesondere die fünf Vetomächte
im Sicherheitsrat stellen in Situationen schwerster Menschenrechtsverletzungen
ihre nationalen Interessen über die Achtung der Menschenrechte und ihre Pflicht
zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und blockieren
ein kollektives Vorgehen. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Sicherheitsrat
sich im Fall Libyens mit der Resolution 1970 und vor allem mit der Resolution
1973 so weitgehend wie nie zuvor für die internationale Schutzverantwortung
ausgesprochen hat.

Die Enthaltung der deutschen Bundesregierung am 18. März 2011 im Sicher-
heitsrat an der Seite von Russland und China und gegen das Votum der Arabi-
schen Liga u. a. wichtiger Akteure aus der Region war ein falsches politisches
Signal an Muammar al-Gaddafi. Angesichts der drohenden Rückeroberung
Bengasis durch regimetreue Truppen und der öffentlichen Hassreden Muammar
al-Gaddafis, der wie beim Völkermord in Ruanda die Regimegegner als „Kaker-
laken“ bezeichnete, von denen Libyen „gesäubert“ werden müsse, drohte in
Bengasi ein Massaker an der Zivilbevölkerung. Der Schutz der Zivilbevölke-
rung vor einem solchen Angriff war dringlich und notwendig. Die Bundesregie-
rung hat sich ihrer Verantwortung zum Teil aus innenpolitischen Erwägungen
heraus entzogen. Dabei hätte das Mittragen des UN-Mandats zum Schutz der
libyschen Bevölkerung nicht Art und Ausmaß einer deutschen (militärischen)
Beteiligung bestimmt. Denn bei einem derartigen prinzipiellen Beschluss des
VN-Sicherheitsrates gibt es keinen Beteiligungsautomatismus.

Allerdings weist der Fall Libyen auf die Gefahren eines Missbrauchs oder einer
Überdehnung von RtoP-Mandaten hin. Die an der Durchsetzung der Flugver-
botszone beteiligten NATO-Streitkräfte waren nur zum Schutz der Zivilbevölke-
rung mandatiert und nicht als „Luftwaffe der Rebellen“. Das Mandat beinhaltete
weder einen Regimewechsel noch Waffenlieferungen an die Rebellen. Ein Miss-
brauch oder eine Überdehnung von Mandaten schadet der Etablierung der RtoP
als politisches Prinzip. Es stellt sich die Frage, was RtoP-Mandate grundsätzlich
leisten sollen und wie sie ggf. begrenzt werden müssen. Für die Weiterentwick-
lung der RtoP müssen auch die Bedenken der Staaten des Südens aufgegriffen
werden. Brasilien hat sich mit dem Vorstoß der Responsibility while Protecting
für klare Kriterien bei der Durchführung von RtoP-Mandaten ausgesprochen.
Die RtoP wird sich langfristig nur dann als völkerrechtliche Norm etablieren
können, wenn glaubhaft darstellbar ist, dass die Vorgaben der UN strikt einge-
halten werden. Die Überdehnung des Libyen-Mandates ist einer von mehreren
Gründen, die Russland zum Vorwand nimmt, um eine Verurteilung des syri-

schen Regimes im VN-Sicherheitsrat zu blockieren.

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Soll die RtoP künftig dazu beitragen, Menschen wirksam zu schützen, müssen
jetzt die notwendigen Weichenstellungen erfolgen, damit missbräuchliches
Handeln, Nichthandeln oder unentschlossenes und zu spätes Handeln der inter-
nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen werden können. Wir brauchen klare
Leitplanken für die Erteilung und Umsetzung von Mandaten im Rahmen der
Schutzverantwortung und mehr multilaterale Koordination. Noch immer gibt es
keine einheitlichen Kriterien, um zu bestimmten, wann Massenverbrechen im
Sinne der Schutzverantwortung kurz bevorstehen oder schon eingetreten sind,
um ein angemessenes und rechtzeitiges Handeln der internationalen Gemein-
schaft zu befördern. Vor allem beim militärischen Eingreifen darf eine Interven-
tion nicht mehr Schaden anrichten als ein Nichthandeln der Staatengemeinschaft
(do no harm). Eckpunkte für einen Kriterienkatalog hatte bereits die Internationale
Kommission zur Intervention und Staatensouveränität (ICISS) 2001 entwickelt.
Die Kommission empfahl fünf grundlegende Kriterien – „Ernst der Bedrohung“,
„Redlichkeit der Motive“, „Anwendung als letztes Mittel“, „Verhältnismäßig-
keit der Mittel“ und „Angemessenheit der Folgen“ – die jedoch keinen Eingang
in das Abschlussdokument des VN-Millenniumgipfels von 2005 gefunden haben.
Hier gilt es anzuknüpfen und Eckpunkte für einen einheitlichen Kriterienkatalog
zu entwickeln, der Beschränkungen und Grenzen von Mandaten und Einsätzen
eindeutig regelt. Insbesondere die Mittel sowie Dauer und Beendigung der Ein-
sätze müssen eingegrenzt und bestimmt werden. Zudem muss jeweils genau
benannt sein, wem die Befugnis für den Einsatz erteilt wird. Die künftige Rolle
von Regionalorganisationen bedarf hier ebenso weiterer Klärung wie auch eine
künftige stärkere Rolle des IStGH und der VN-Generalversammlung.

Wir brauchen eine Verschiebung von einer reaktiven hin zu einer präventiven
Schutzverantwortung und frühzeitigem Handeln. Die verkürzte Sicht auf das
Konzept allein auf die militärische Intervention und der Mangel an einer Kultur
der präventiven Schutzverantwortung müssen behoben werden. Der Blick muss
auch auf tieferliegende Ursachen schwerster Menschenrechtsverletzungen ge-
richtet werden, die eine friedliche Entwicklung verhindern. Schwerste Men-
schenrechtsverletzungen entstehen vor allem durch Diskriminierung und Margi-
nalisierung verschiedener Nationalitäten, Ethnien und Religionen in Gesell-
schaften. Die ICISS hat mit Bezug auf Artikel 55 der VN-Charta verdeutlicht,
dass die Basis der Prävention die Chancengleichheit, die Zurechnungsfähigkeit
staatlichen Handelns und die Einhaltung der Menschenrechte, Rechtsstaatlich-
keit sowie die Förderung von sozialem und ökonomischem Fortschritt und die
gleiche Verteilung von Ressourcen sind. Ungerechte Handels- und Rohstoff-
politik sowie Rüstungsexporte der Industriestaaten stellen ein Hindernis für
friedliche und nachhaltige Entwicklung dar. Bilaterale und besonders multilate-
rale Entwicklungspolitik im Bereich Good Governance und in der Armuts-
bekämpfung können die strukturellen Ursachen von Konflikten wirksam und
frühzeitig bekämpfen. Nur durch kohärente nationale und internationale An-
strengungen in der Außen-, Entwicklungs-, Menschenrechts- und Handelspolitik
kann schwersten Menschenrechtsverletzungen wirksam vorgebeugt und können
militärische Interventionen im Rahmen der RtoP vermieden werden.

Auch die Möglichkeiten von Kapitel-VI-Mandaten, wie politische Missionen
präventive Diplomatie und Vermittlung, die Einsetzung von Sondergesandten
und Untersuchungsmissionen müssen als präventives Instrument stärker ausge-
schöpft werden. Das Beispiel Kenia hat gezeigt, wie durch intensive Vermittlung
eine weitere Eskalation des Konflikts abgewendet werden konnte. Generell feh-
len aber immer noch Strategien, Mittel und Instrumente zur wirksamen Präven-
tion von schwersten Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord oder Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit. Die Krisenfrühwarnung ist meist zu mangelhaft,
um rechtzeitig Handlungsbedarf zu erkennen. Hierzu wären künftig eine früh-

zeitigere und umfassendere zivile VN-Präsenz in potentiellen Krisenstaaten und

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eine verstärkte Kooperation mit den zivilgesellschaftlichen Netzwerken vor Ort
nötig. Denn letztlich kann nachhaltiger Menschenrechtsschutz nicht von oben
verordnet werden, sondern muss in der Gesellschaft verankert werden.

Der VN-Generalsekretär Ban Ki-Moon hat am 30. Januar 2009 seinen Bericht
„Implementing the Responsibility to Protect“ (A/63/677) vorgelegt. Er benennt
politischen und institutionellen Handlungsbedarf und gibt entsprechende Emp-
fehlungen an die Mitgliedstaaten ab. Er schlägt vor, dass der Anwendungsbe-
reich der RtoP eng sein und sich auf die vier Kernverbrechen beschränken soll,
dafür aber das gesamte Spektrum an Maßnahmen und Instrumenten genutzt
wird, das den Mitgliedstaaten, dem VN-System, den Regionalorganisationen
und ihren Partnern aus der Zivilgesellschaft zur Verfügung steht („Narrow-but-
deep-“Ansatz). 2009 hat die Staatengemeinschaft den Bericht des Generalsekre-
tärs auf der 105. Vollversammlung der Generalversammlung offiziell zur Kennt-
nis genommen (A/RES/63/308).

Die Bundesregierung hat die Empfehlungen des VN-Generalsekretärs bislang
nicht aufgegriffen und nicht ernsthaft dazu beigetragen, RtoP zu operationalisie-
ren, zu institutionalisieren und umzusetzen. Ungeachtet der globalen Rolle und
der historischen Verantwortung Deutschlands für die Verhütung von Völker-
mord verspielt die Bundesregierung die Möglichkeit, die internationale Agenda
in diesem Bereich mitzugestalten. Vielmehr zeichnet sich das deutsche Engage-
ment für die Schutzverantwortung durch Profil- und Konzeptlosigkeit aus. RtoP
ist keine Priorität der deutschen Außen-, Menschenrechts- und Sicherheitspoli-
tik und fristet noch immer ein Nischendasein. Die Bundesregierung muss end-
lich auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene aktiv dazu beitragen,
dass der Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen kein leeres Ver-
sprechen bleibt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

zur Stärkung der Prävention

1. sich für die Ausarbeitung der Schutzverantwortung im Sinne einer umfassen-
den Präventionsdoktrin und die Stärkung von Maßnahmen auf Grundlage
von Kapitel VI der VN-Charta einzusetzen;

2. sich für eine Stärkung des VN-Generalsekretariates einzusetzen, insbeson-
dere durch eine finanzielle und politische Unterstützung sowie eine institu-
tionelle Aufwertung

a) des gemeinsamen Büros der VN-Sonderberater für die Prävention von
Völkermord und für RtoP, insbesondere auch durch den Aufbau von mehr
Kapazitäten im Rahmen von Standby-Arrangements für eine gezielte Be-
obachtung und Vermittlung in krisenhaften Entwicklungen,

b) von UN-Women (United Nations Entity for Gender Equality and the Em-
powerment of Women) und der Sondergesandten gegen sexuelle Gewalt
in Konflikten sowie

c) von Ansätzen zur präventiven Diplomatie wie etwa der Task Force on pre-
ventive Diplomacy;

3. sich in den VN dafür einzusetzen, dass die koordinierende Rolle der VN-
Unterorganisationen UNHCHR (United Nations High Commissioner for
Human Rights), UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees),
UNDP (United Nations Development Programme), UNICEF (United Nations
International Children’s Emergency Fund), OCHA (United Nations Office for
the Coordination of Humanitarian Affairs), WFP (World Food Programme)
gestärkt wird, um Krisen wirksamer vorzubeugen;

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4. sich im Rahmen der VN dafür einzusetzen, dass multilaterale Organisatio-
nen wie UNDP oder die Weltbank stärker darauf ausgerichtet werden, struk-
turelle Ursachen von schwersten Menschenrechtsverletzungen vor allem in
Ländern anzugehen, die von der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit
vernachlässigt werden;

5. sich in der VN-Generalversammlung dafür einzusetzen, dass das Gremium
häufiger von seinen Befugnissen zur Verhütung schwerster Menschen-
rechtsverletzungen nach den Artikeln 10, 11, 14 der VN-Charta Gebrauch
macht und Empfehlungen zur stärkeren Inanspruchnahme der Kommission
für Gute Dienste, Vermittlung oder Vergleich im Rahmen der VN unterbrei-
tet;

6. die Frühwarnung zu stärken, vor allem mehr dazu beizutragen, dass inner-
halb der VN genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um vorhandene
Informationen im Hinblick auf drohende oder bereits stattfindende Massen-
verbrechen systematisch auszuwerten und eine systematischere Vernetzung
mit regionalen, subregionalen und nationalen Frühwarnmechanismen sowie
mit Informationsnetzwerken der Zivilgesellschaft voranzutreiben;

7. sich für den Ausbau ziviler Präventionsinstrumente (Mediations-, Polizei-,
Verwaltungs- und Rechtsexperten) durch systematisches Pooling unter den
VN-Mitgliedstaaten und Regionalorganisationen einzusetzen;

zur Vermeidung von Blockaden im Sicherheitsrat

8. sich dafür einzusetzen, dass die Vorverfahrenskammer des IStGH gestärkt
wird, um Fakten zur Vorbereitung der Einleitung von Verfahren wegen Völ-
kermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu
sammeln. Damit soll die politische Entscheidung des Sicherheitsrates über
angemessene Maßnahmen nicht ersetzt, aber der Handlungsdruck auf die
Sicherheitsratsmitglieder erhöht werden;

9. die Kooperation zwischen den VN und dem IStGH zu stärken;

10. sich im Falle einer Blockade des VN-Sicherheitsrates für eine Befassung
der VN-Generalversammlung mit RtoP-relevanten Fällen im Sinne der
„Uniting-for-Peace-Resolution“ von 1950 einzusetzen, um durch Empfeh-
lungen an den VN-Sicherheitsrat den Handlungsdruck zu erhöhen;

11. die Zusammenarbeit und Arbeitsteilung im Hinblick auf die Schutzverant-
wortung mit Regionalorganisationen zu intensivieren;

12. sich für ein Vertragsorgan zur Völkermordkonvention einzusetzen, das die
Einhaltung der Vertragsverpflichtungen überwacht, um Defiziten in der Ver-
hütung und Bestrafung von Völkermord (Artikel 1 der Völkermordkonven-
tion) entgegenzuwirken;

13. sich während ihrer nichtständigen Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat da-
für einzusetzen, dass

a) die ständigen Sicherheitsratsmitglieder von der Anwendung oder Andro-
hung des Vetos absehen und eine diesbezügliche Verständigung erzielen
in Situationen, in denen die in Nummer 139 des Gipfeldokuments 2005
festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf die Schutzverantwortung of-
fenkundig nicht erfüllt wurden,

b) im Falle eines schwerwiegenden Verdachts auf schwerste Menschen-
rechtsverletzungen die Situation nach Artikel 13 Buchstabe b des IStGH-
Statuts an den Chefankläger des IStGH überwiesen wird,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/9584

c) die Empfehlung des VN-Generalsekretärs umgesetzt wird und der VN-
Sicherheitsrat häufiger von seiner Befugnis nach Artikel 34 der VN-
Charta Gebrauch macht, Situationen zu untersuchen, die zu schwersten
Menschenrechtsverbrechen führen können, und seine Befugnis nach Ar-
tikel 33 Absatz 2 der VN-Charta nutzt, den Streitparteien bestimmte
Streitbeilegungsmaßnahmen zu empfehlen (A/65/877–S/2011/393);

zur Verhinderung einer Mandatsüberdehnung

14. auf internationaler Ebene für die Ausarbeitung von Leitkriterien zur Reak-
tion auf schwerste Menschenrechtsverletzungen einzutreten. Dabei sollen
die Kriterien der ICISS zur Grundlage einer Diskussion über Möglichkeiten
und Grenzen der Umsetzung von RtoP-Mandaten gemacht und insbeson-
dere Beschränkungen hinsichtlich Mitteln, durchführender Akteure sowie
Dauer und Beendigung von Einsätzen berücksichtigt werden;

15. sich für eine zeitliche Begrenzung von RtoP-Mandaten mit Verlängerungs-
option, eine Berichtspflicht mit zeitnahen Zwischenberichten zum Verlauf
der jeweiligen Mission und für einen Abschlussbericht einzusetzen;

16. bei RtoP-Mandaten auf eine enge Beschränkung auf den Schutz von Zivilis-
ten hinzuwirken und dazu eine Diskussion über die Neubewertung und
Operationalisierung des Konzepts der Schutzzonen entlang des VN-Unter-
suchungsberichts zum Massaker in Srebrenica anzuregen;

zur operativen Umsetzung der Schutzverantwortung

auf der Ebene der VN

17. der Empfehlung des VN-Generalsekretärs nachzukommen (A/63/677) und
Untersuchungen darüber zu unterstützen, wie und wann nationale und inter-
nationale Maßnahmen zur Prävention und Reaktion auf schwerste Men-
schenrechtsverletzungen beitragen, und welche Lernprozesse es in ver-
schiedenen Regionen gibt;

18. die VN auf der Grundlage dieser Untersuchungen dabei zu unterstützen,
einen Maßnahmenkatalog zur Umsetzung der Schutzverantwortung unter
den drei Säulen (Schutzverantwortung des Staates, internationale Unterstüt-
zung und Kapazitätsaufbau und rechtzeitige und entschiedene Reaktion)
auszuarbeiten;

19. sich im VN-Menschenrechtsrat dafür einzusetzen, dass Maßnahmen unter
den ersten beiden Säulen dieses Katalogs als Kriterien in das universelle,
periodische Überprüfungsverfahren (UPR-Verfahren) des VN-Menschen-
rechtsrates aufgenommen werden und eine Diskussion über die Einrichtung
regionaler Peer-Review-Mechanismen anzustoßen;

20. zu klären, wie sich VN-Friedensmissionen im Rahmen der Schutzverant-
wortung von bisherigen Friedensmissionen unterscheiden und inwiefern an-
dere Konzepte und Strategien erforderlich sind;

21. sich im Rahmen von VN-Mandaten, vor allem im Bereich der Prävention,
stärker an der Umsetzung der Schutzverantwortung zu beteiligen;

22. sich für ein RtoP-Mainstreaming in VN-Friedensmissionen einzusetzen, in-
dem etwa Vorgaben zur Prävention und Reaktion auf Massenverbrechen in
die „Rules of Engagement“ aufgenommen werden und Angehörige von
Friedensmissionen gezielter auf den Umgang mit drohenden Massenverbre-
chen geschult werden;

Drucksache 17/9584 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

auf der Ebene der deutschen Außenpolitik

23. eine nationale Strategie zur institutionellen und programmatischen Veranke-
rung der Schutzverantwortung auf nationaler Ebene auszuarbeiten, indem
sie

a) Instrumente der deutschen Außen- und Außenwirtschafts-, Entwick-
lungs-, Menschenrechts- Sicherheits- und Asyl- und Flüchtlingspolitik
darauf prüft, wie diese zur Umsetzung der zweiten RtoP-Säule beitragen
und wie einzelne Maßnahmen gegebenenfalls angepasst oder neu ausge-
richtet werden könnten, um eine verbesserte Wirkung zu erzielen;

b) sich in zentralen politischen Grundsatzdokumenten der Bundesrepublik
Deutschland explizit zur RtoP als wichtiges politisches Prinzip bekennt;

c) sich der vom Global Center for the Responsibility to Protect initiierten
Initiative anschließt, nationale Kontaktstellen zur Koordination von
RtoP-Maßnahmen einzurichten, und in diesem Zusammenhang die Ein-
richtung eines Beirats zur Verhütung von Massenverbrechen von der US-
Administration eingerichteten „Mass Atrocity Prevention Boards“ prüft;

d) in Zusammenarbeit mit dem „Beirat Zivile Krisenprävention“ ein ein-
heitliches Konzept zur Überprüfung und Überwachung ziviler Krisen-
prävention und ihrer Instrumente und Strukturen entwickelt, das explizit
Maßnahmen zur Prävention der vier Kernverbrechen berücksichtigt;

e) sich gemäß dem Antrag „Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher
Außenpolitik“ (Bundestagsdrucksache 17/5910) intensiv für eine Stär-
kung präventiver Politik zur Vorbeugung von Massenverbrechen ein-
setzt, Ressourcen und Instrumente ziviler Krisenprävention entspre-
chend ausbaut und dabei insbesondere die Frühwarnung stärkt, indem sie
ein ressortübergreifendes Lagezentrum mit Vernetzung in die Zivilge-
sellschaft aufbaut und den vom VN-Sonderberater zur Verhütung von
Völkermord entwickelten Ansatz zur Frühwarnung vor Massenverbre-
chen einführt („Völkermord-Frühwarnsystem“);

f) die Schutzverantwortung in Menschenrechtsdialogen, politischen Dialo-
gen, Regierungsgesprächen etc. anspricht und gegenüber skeptischen
Staaten gezielt für das Konzept wirbt;

g) dem Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit im Rahmen des Men-
schenrechtsberichts der Bundesregierung, des Aktionsplans Zivile Kri-
senprävention und des Weißbuchs regelmäßig über Maßnahmen zur Um-
setzung der RtoP berichtet, wobei der Handlungsbedarf, die Ziele, die
geplanten Maßnahmen und Schwerpunkte konkret benannt, zuständige
Akteure bestimmt und ein zeitlicher Rahmen zur Erreichung der Ziele
festgelegt werden;

h) Nichtregierungsorganisationen regelmäßig in die Bemühungen zur Um-
setzung der RtoP einbezieht;

i) aktiv Öffentlichkeitsarbeit über die Schutzverantwortung betreibt und
dabei den Schwerpunkt auf Prävention legt, um einem verkürzten Ver-
ständnis von RtoP – etwa durch Gleichsetzung der dritten Säule mit
militärischen Maßnahmen – vorzubeugen;

24. das Thema Frauen, Frieden und Sicherheit auf Grundlage der Sicherheits-
ratsresolutionen 1325, 1820, 1888 und 1889 auch als Herausforderung im
Sinne der RtoP zu begreifen und in einen nationalen Aktionsplan zu berück-
sichtigen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/9584

25. im Falle eines schwerwiegenden Verdachts auf schwerste Menschenrechts-
verletzungen die Situation nach Artikel 14 des IStGH-Statuts an den Chef-
ankläger des IStGH zu verweisen;

auf europäischer Ebene

26. sich für eine Operationalisierung der Schutzverantwortung im Rahmen der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), der Gemein-
samen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), des Europäischen Auswärti-
gen Dienstes (EAD), des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)
und der EU-Entwicklungspolitik einzusetzen, damit sich die EU nicht nur
zum RtoP-Konzept bekennt, sondern es auch umsetzt;

27. sich im Rat der Europäischen Union für einen EU-Sonderbeauftragten für
die Schutzverantwortung einzusetzen;

28. sich auch in der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa) für eine Auseinandersetzung über Konzept und Instrumente der
RtoP einzusetzen.

Berlin, den 9. Mai 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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