BT-Drucksache 17/9224

Sittenwidrigkeit von Löhnen

Vom 28. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9224
17. Wahlperiode 28. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus,
Klaus Ernst, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers,
Dr. Ilja Seifert, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich und der Fraktion
DIE LINKE.

Sittenwidrigkeit von Löhnen

Am 19. September 2011 hat das Sozialgericht Berlin entschieden, dass im Land
Berlin bei einer Vollzeitbeschäftigung ein monatliches Bruttoentgelt in Höhe von
weniger als 1 058 Euro (Stundenlohn bei einer 38,5 Stundenwoche 6,34 Euro)
als sittenwidrig anzusehen ist (Az. S 55 AS 24521/11 ER). In ein Arbeitsverhält-
nis, das aufgrund der sittenwidrigen Vergütung rechtswidrig ist, darf daher von
den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht vermittelt und eine
Vermittlung nicht durch Sanktionen erzwungen werden. Eine sittenwidrige Be-
schäftigung gilt als unzumutbar.

Die Sittenwidrigkeit begründet das Gericht mit einem hierfür notwendigen auf-
fälligen Missverhältnis, das dadurch gegeben ist, dass das angebotene Arbeits-
entgelt bei Vollzeitarbeit mit durchschnittlicher Arbeitsleistung unter dem
Grundsicherungsniveau für eine volljährige Person ohne Unterhaltsverpflich-
tungen liegt. Das Sozialgericht begründet diesen Maßstab mit den wesentlichen
Verfassungsmaßstäben des Grundgesetzes – insbesondere des Würdeanspruchs
und des Sozialstaatsgebots – sowie den Wertvorgaben des Artikels 4 Nummer 1
der Europäischen Sozialcharta.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Bundesregierung sicher-
stellt, dass die Grundsicherungsträger nicht in Arbeitsverhältnisse mit sitten-
widrigen Entgelten vermitteln. Es stellt sich auch die Frage, ob, und wenn ja, in
welchem Ausmaß die Grundsicherungsträger trotz Sittenwidrigkeit Vermitt-
lung in solche prekären Arbeitsverhältnisse vornehmen und damit einer weite-
ren Ausbreitung von niedrigen Löhnen und prekären Beschäftigungsverhältnis-
sen Vorschub leisten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die wiederholt vorgetragene Argumentation
des Sozialgerichts Berlin, wonach „unsere Verfassungs- und Rechtsordnung

(…) grundsätzlich keine Arbeitsvergütung (toleriert), die dem Arbeitnehmer
bei vollschichtiger Beschäftigung und durchschnittlicher Arbeitsleistung die
Absicherung bereits der eigenen menschenwürdigen Existenz nicht erlaubt“
(Rn. 14)?

Drucksache 17/9224 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des Sozialgerichts Berlin,
dass ein auffälliges Missverhältnis, das die Sittenwidrigkeit im Sinne des
§ 138 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs begründet, anzunehmen ist,
„wenn der angebotene Lohn bei Vollzeitarbeit mit einer durchschnittlichen
Arbeitsleistungserwartung unter dem Grundsicherungsniveau für eine voll-
jährige alleinstehende Person ohne Unterhaltsverpflichtungen, bei grundsi-
cherungsrechtlich angemessener Unterkunft und bei uneingeschränkter Er-
werbstätigkeit liegt“ (Rn. 14)?

3. Wie bewertet die Bundesregierung die Rechtsqualität der Europäischen So-
zialcharta, und welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich aus Artikel 4
Nummer 1 der Europäischen Sozialcharta, in dem sich die Vertragsstaaten
verpflichten, „das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerken-
nen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen
Lebensstandard zu sichern“?

4. Welchen rechtlichen und praktischen Stellenwert hat die Entscheidung des
Sozialgerichts Berlin für die Verwaltungspraxis der Jobcenter

a) in Berlin und

b) auf der Bundesebene

sowie für die Fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zur Um-
setzung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch?

5. Wie hoch ist derzeit die Grenze für die Sittenwidrigkeit von monatlichen
Bruttoentgelten (aufgrund des Unterschreitens des Grundsicherungsni-
veaus) bezogen auf das Bundesgebiet nach den Kriterien des Sozialgerichts
Berlin?

6. In welchen Bundesländern gibt es derzeit weitere Urteile von Sozialgerich-
ten zur Sittenwidrigkeit von Entgelten für das Jahr 2011, die für die Sozial-
verwaltung im Grundsicherungsbereich bindend sind?

Welche Werte werden hierbei für die Sittenwidrigkeit von Bruttoentgelten
jeweils festgelegt?

7. Welche Handlungsempfehlungen und Weisungen formuliert die Bundes-
agentur für Arbeit in Bezug auf die Vermeidung der Vermittlung in Arbeit
mit sittenwidrigen Entgelten?

8. Nach welchen Kriterien bewertet die Bundesagentur für Arbeit Arbeitsent-
gelte als sittenwidrig, und wie bewertet die Bundesregierung dieses Vorge-
hen im Lichte der oben zitierten Rechtsprechung des Sozialgerichts Berlin?

9. Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass Grundsicherungsträger und Ar-
beitsagenturen nicht in Arbeitsverhältnisse mit sittenwidrigen Entgelten
vermitteln?

Gibt es entsprechende Dienstanweisungen und Kontrollen?

10. Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, bei denen Grundsiche-
rungsträger oder Arbeitsagenturen eine Vermittlung in Arbeitsverhältnisse
mit sittenwidrigen Entgelten vorgenommen haben (bitte sowohl die Ge-
samtzahl nennen als auch eine differenzierte Betrachtung nach einzelnen
Grundsicherungsträgern und Arbeitsagenturen vornehmen)?

11. Bei wie vielen von den genannten Fällen handelt es sich um ein Arbeitsver-
hältnis aus dem Bereich Arbeitnehmerüberlassung?

12. Wie viele Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante gibt es derzeit?

Bei wie vielen wird ein als sittenwidrig einzustufendes Arbeitsentgelt ge-

zahlt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9224

13. In welcher Spanne bewegen sich die Entgelte bei den noch bestehenden
Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante?

14. Wie bewertet die Bundesregierung eine Vermittlung in ein Arbeitsverhält-
nis mit sittenwidrigen Entgelten durch die Grundsicherungsträger oder die
Arbeitsagenturen?

15. Wie oft wurden in den Jahren 2005 bis 2011 jeweils Sanktionen verhängt,
weil Leistungsbeziehende die Annahme eines Arbeitsverhältnisses abge-
lehnt haben?

Wie oft wurde den Leistungsberechtigten eine unzureichende, sitten-
widrige Entlohnung als Ablehnungsgrund benannt?

16. In wie vielen Fällen haben wegen der Ablehnung eines Arbeitsverhältnis-
ses sanktionierte Leistungsberechtigte gegen diesen Bescheid

a) Widerspruch oder

b) Klage

eingelegt?

17. In wie vielen Fällen waren

a) der Widerspruch oder

b) die Klage

erfolgreich?

18. Nehmen die Vermittlerinnen und Vermittler regelmäßig eine regelhafte und
dokumentierte Prüfung hinsichtlich einer möglichen Sittenwidrigkeit von
Arbeitsentgelten vor, bevor sie eine Sanktion verhängen?

19. Werden Leistungsbeziehende regelhaft von den Grundsicherungsträgern
und Arbeitsagenturen über die Grenze für die Sittenwidrigkeit von Arbeits-
entgelten in Kenntnis gesetzt?

Berlin, den 28. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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