BT-Drucksache 17/9191

Umfassende Visaliberalisierungen für Menschen in Russland und Osteuropa

Vom 28. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9191
17. Wahlperiode 28. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Dr. Lukrezia
Jochimsen, Jan Korte, Jan van Aken, Agnes Alpers, Christine Buchholz, Herbert
Behrens, Dr. Diether Dehm, Nicole Gohlke, Annette Groth, Heike Hänsel,
Dr. Rosemarie Hein, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich,
Niema Movassat, Thomas Nord, Petra Pau, Jens Petermann, Paul Schäfer (Köln),
Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte, Frank Tempel, Alexander
Ulrich, Halina Wawzyniak, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Umfassende Visaliberalisierungen für Menschen in Russland und Osteuropa

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das Ziel eines visumfreien Reisens zwischen der EU einerseits und der Rus-
sische Föderation und den Ländern der Östlichen Partnerschaft andererseits
wurde für die Östliche Partnerschaft im Jahr 2009 und für die Russische Fö-
deration erstmals 2003 und zuletzt am 15. Dezember 2011 auf dem EU-Russ-
land-Gipfel in Brüssel festgelegt. Das Papier „Gemeinsame Schritte zum vi-
safreien Regime von kurzfristigen Reisen von Bürgern Russlands und der
EU“ enthält entsprechende Konkretisierungen. Ukraine, Moldau und Geor-
gien sind gegenüber der EU bereits in Vorleistung getreten und haben einsei-
tig die Visapflicht für EU-Bürgerinnen und Bürger abgeschafft.

Der Bundestag teilt das Anliegen des visumfreien Reisens nachdrücklich und
fordert, dass an seiner baldigen Verwirklichung ernsthaft und ohne Verzöge-
rung gearbeitet wird.

Die Bundeskanzlerin selbst hat im Rahmen des Petersburger Dialogs im Juli
2011 in Hannover bekräftigt, dass Deutschland seine Bremserrolle in Bezug
auf die Verbesserung der Visasituation aufgeben muss. Dann würden sich
auch die anderen Länder der EU der Visaliberalisierung anschließen. Der
Bundestag kritisiert vor diesem Hintergrund die bis heute ausgebliebenen
Fortschritte bei der versprochenen Visaliberalisierung.

2. Der Bundestag begrüßt die Initiative des Ost-Ausschusses der deutschen
Wirtschaft mit dem Ziel, die Visafreiheit für Russland und Osteuropa voran-
zutreiben. Anlass der Initiative sind zahlreiche Beschwerden betroffener Ein-
zelpersonen und von Verbänden, Vereinen und Unternehmen über eine zu

strenge und zum Teil willkürliche Visumpraxis der deutschen Auslandsver-
tretungen in Russland und der Region. In einem Positionspapier des Ost-Aus-
schusses werden nicht nur die zahlreichen Probleme bei der Visavergabe
durch die Bundesrepublik Deutschland geschildert, sondern auch kurzfristige
Maßnahmen zur Lösung von Missständen benannt, bis die Visafreiheit um-
gesetzt werden kann.

Drucksache 17/9191 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Der Bundestag nimmt Bezug auf die Sachverständigenanhörung des Aus-
wärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages vom 28. September 2011
(vgl. Protokoll Nr. 17/46). Die geladenen Sachverständigen plädierten dabei
in großer Übereinstimmung für schnelle Visaerleichterungen auf dem Weg
zur Visumfreiheit, so das Resümee des Ausschussvorsitzenden. Deutlich
wurden die negativen Auswirkungen der geltenden Visapraxis in politischer,
wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht. Visaerleichte-
rungen hingegen seien ein „Konjunkturprogramm zum Nulltarif“ und not-
wendig zur Beseitigung der letzten Relikte des „Kalten Krieges“, so ein Ver-
treter des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Bei der Anhörung
wurde ein gemeinsames Interesse von Abgeordneten aller Fraktionen erkenn-
bar, schnellstmöglich zu Erleichterungen im Reiseverkehr und bei den Visa-
bestimmungen zu kommen. Eine Vielzahl von Maßnahmen ist ohne gesetz-
liche Änderungen durch entsprechende Anweisungen und Auslegungshin-
weise sofort in die Praxis umsetzbar, weitere Schritte bedürfen gesetzlicher
Änderungen, insbesondere auf europäischer Ebene.

4. Der Bundestag betont im Einklang mit den Sachverständigen, dass sich die
in der Initiative des Ost-Ausschusses angedachten Verbesserungen auf alle
Bürgerinnen und Bürger der genannten Länder beziehen müssen, da der
zivilgesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Austausch sowie
familiäre Kontakte den gleichen Stellenwert wie wirtschaftliche bzw. geschäft-
liche Beziehungen haben.

5. Der Bundestag bedauert, dass die politischen Spannungen in der Visafrage zu
einer Verschlechterung des diplomatischen Verhältnisses zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Russischen Föderation geführt haben. Ein
deutliches Zeichen für eine wirksame Visaliberalisierung würde auch die
Glaubwürdigkeit des „Deutschland-Jahres“ erhöhen, das die Bundesregie-
rung derzeit in Russland realisiert. Im Gegenzug erhofft sich der Bundestag,
dass die Russische Föderation ihrerseits dafür sorgt, Hemmnisse für eine
Visaliberalisierung abzubauen und insbesondere die behördliche Melde-
pflicht bei Besuchen rasch abzuschaffen.

6. Der Bundestag stellt fest, dass vorgebrachte Sicherheitsbedenken gegen eine
Visaliberalisierung in der Regel nicht stichhaltig sind, was auch bei der An-
hörung im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages mehrfach be-
tont wurde. Zudem lässt sich die strenge deutsche Prüfungspraxis dadurch
umgehen, dass eine Einreise in die Europäische Union, und damit auch nach
Deutschland, mit einem Schengen-Visum eines anderen EU-Mitgliedstaates
erfolgt – ohne dass es deshalb soweit ersichtlich in der Vergangenheit zu kon-
kreten „Gefährdungen“ gekommen wäre.

7. Im Rahmen der Sachverständigenanhörung wurde außerdem deutlich, dass
Visaerleichterungen nicht nur in Bezug auf Russland bzw. Osteuropa, son-
dern weltweit erforderlich sind. Wie sich aus den Antworten der Bundes-
regierung auf die Kleinen Anfragen der Fraktion DIE LINKE. ergibt (vgl.
Bundestagsdrucksachen 17/6225 und 17/8823), spiegeln höchst unterschied-
liche Ablehnungsquoten – je nach Kontinent, Land, aber auch Landesteil –
eine soziale Selektivität im Visumverfahren wider. Insbesondere beim Nach-
weis der „Rückkehrbereitschaft“ bzw. der familiären und wirtschaftlichen
„Verwurzelung“ im Herkunftsland wird Menschen oftmals leichtfertig und
ohne konkreten Beleg die Absicht einer „illegalen Einreise“ unterstellt. Der
Bundestag sieht auch diesbezüglich einen dringenden Änderungsbedarf, um
das Menschenrecht auf Reisefreiheit in der Praxis nicht einem ökonomischen
Vorbehalt zu unterwerfen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9191

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich aktiv und auf allen Ebenen für die schnellstmögliche Realisierung der
angestrebten Visumfreiheit in Bezug auf die Russische Föderation und die
Länder der Östlichen Partnerschaft einzusetzen und insbesondere ihre bis-
herige bremsende Rolle aufzugeben,

2. sich im Rahmen der Europäischen Union für Änderungen des Visa- und
Grenzkodex mit dem Ziel der Reiseerleichterung und Liberalisierung der
Visumbestimmungen einzusetzen, insbesondere hinsichtlich der Vorgaben zu
weiteren, strengen Grenzkontrollen nach vorheriger Visumerteilung,

3. die bestehenden Visaerleichterungsabkommen, den EU-Visa- und Grenz-
kodex sowie nationale rechtliche Bestimmungen soweit es geht im Sinne ei-
ner Erleichterung der Reisefreiheit auszulegen und anzuwenden,

4. sich bei der Anwendung von EU-Recht insbesondere an der liberalen Praxis
anderer EU-Mitgliedstaaten zu orientieren und deren Verfahrensweisen zur
Erleichterung des Visumverfahrens zu übernehmen,

5. durch ministerielle Anweisungen und Vorgaben für sofortige Erleichterungen
in der Visumpraxis zu sorgen, die – angelehnt an die Vorschläge des Ost-Aus-
schusses der Deutschen Wirtschaft – unter anderem folgende Aspekte bein-
halten müssen:

– Reduzierung der Zahl der geforderten Unterlagen und Akzeptanz von
Kopien; vollelektronische Abwicklung und Kommunikation per Telefax
ermöglichen,

– weitgehende Aufhebung der Pflicht zur persönlichen Vorsprache,

– bevorzugte Ausstellung von Mehrjahresvisa,

– kurzfristige Visumerteilung an der Grenze erleichtern,

– Qualitäts- und Beschwerdemanagement einführen, Schulung der Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter in den Außenstellen, insbesondere der Orts-
kräfte, aber auch der bei der Grenzkontrolle eingesetzten Bundespolizis-
tinnen und -polizisten mit dem Ziel freundlichen und hilfsbereiten
Umgangs,

– Verbesserung der personellen und räumlichen Kapazitäten in der Visabe-
arbeitung, Verkürzung von Wartezeiten,

– weitgehender Verzicht auf Einladungsschreiben und Verpflichtungserklä-
rungen, die (soweit überhaupt erforderlich) nur noch in einer realistischen
und dem Einkommen der Einladenden angemessenen Höhe verlangt wer-
den und insbesondere Familienbesuche nicht behindern dürfen,

– Reisebüroverfahren nicht nur für geschäftliche Vielreisende ermöglichen,

– Zweifel an der Rückkehrbereitschaft dürfen nur bei hinreichend konkreten
Anhaltspunkten erhoben und müssen den Betroffenen nachvollziehbar
und widerlegbar dargelegt werden; die familiäre Situation bleibt dabei
unbeachtlich, es dürfen keine überhöhten Einkommensanforderungen
gestellt werden,

6. einen verbindlichen Plan vorzulegen, aus dem ersichtlich wird, wie die
Visaliberalisierung für die genannte Region und andere Regionen der Welt
vorangetrieben werden soll.

Berlin, den 28. März 2012
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/9191 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Die vonseiten der Russischen Föderation zum 1. November 2010 eingeführten
Verschärfungen der Visabestimmungen für deutsche Staatsangehörige – andere
EU Staaten sind von den neuen Regelungen nicht betroffen – haben gezeigt, wie
angespannt die politische Situation zwischen Russland und Deutschland auf-
grund der fehlenden Visaliberalisierung ist. Stellungnahmen betroffener Grup-
pen und Akteure in den Regionen zeigen, dass das geringe Engagement
Deutschlands in dieser Frage als verletzend wahrgenommen wird. Die zivilge-
sellschaftlichen Gruppen in der Region nehmen sich zunehmend als isoliert
wahr und familiäre Kontakte sind nur noch unter sehr erschwerten Bedingungen
aufrechtzuerhalten. Die Bewertung, die Visabestimmungen seien noch ein Re-
likt des „Kalten Krieges“, ist daher durchaus berechtigt.

Auch andere Staaten der Östlichen Partnerschaft, zum Beispiel Belarus, ver-
schlechterten aufgrund ihrer negativen Erfahrungen nun ihrerseits die Visa-
praxis. Diese Zeichen sind alarmierend, weil gerade in Zeiten der politischen
Auseinandersetzung in diesen Ländern ein zivilgesellschaftlicher Austausch un-
gehindert und spontan möglich sein muss.

Bei der Sachverständigenanhörung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen
Bundestages vom 28. September 2011 kam eine Vielzahl von Missständen in der
deutschen Visumpraxis zu Tage: Unbegründete oder nicht nachvollziehbare
Ablehnungen von Visa bzw. Infragestellungen des Reisezwecks, formalisierte
Ablehnungsschreiben, unfreundliches und überlastetes Personal, scharfe telefo-
nische Nachfragen („Verhöre“) zu jeder Tages- und Nachtzeit durch Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter des Konsulats, die Anforderung sehr vieler Dokumente,
zumeist im Original und gegebenenfalls noch amtlich übersetzt, die Notwendig-
keit persönlicher Vorsprachen, was insbesondere in einem Flächenland wie
Russland lange und kostspielige Reisen bedeutet, lange Wartezeiten (zum Teil
auch auf der Straße), lange Bearbeitungszeiten, strenge Prüfungen bei der Ein-
reise durch die Bundespolizei, zu wenige Langzeitvisa usw. All dies schade dem
Image Deutschlands und bedeute für deutsche Unternehmen erhebliche Kosten
(160 Mio. Euro jährlich alleine für Visagebühren) und wirtschaftliche Nachteile,
insbesondere für den Mittelstand. Diese Visumpraxis sei insgesamt ein Hinder-
nis auf dem Weg zu einer „strategischen Partnerschaft“ mit Osteuropa. Deutsch-
land werde international als ein Land wahrgenommen, in dem keine Willkom-
mens-, sondern eine Ablehnungskultur herrsche. Auch die Transformationspro-
zesse in den Ländern Osteuropas könnten ohne einen zivilgesellschaftlichen
Austausch und die Möglichkeit für soziale und familiäre Kontakte nicht nach-
haltig gefördert werden.

In der Sachverständigenanhörung blieb die mehrfach gestellte Frage unbeant-
wortet, warum bei der Einreise in die EU penible und „beschämende“ Kontrol-
len des Reisezwecks, der Rückkehrbereitschaft, der finanziellen Mittel usw. an
der Grenze erfolgen, obwohl diese Voraussetzungen bereits von den Botschaften
in oft aufwändigen Verfahren geprüft wurden. Der Grund hierfür ist, dass Arti-
kel 7 Absatz 3 des Schengener Grenzkodex bei Drittstaatsangehörigen (bis auf
wenige Ausnahmen) solche intensiven Kontrollen bei der Einreise verpflichtend
vorsieht – neben der ohnehin üblichen Prüfung der Gültigkeit und Echtheit von
Reisedokumenten und Sicherheitsdatenabfrage. Die Bundesregierung muss sich
angesichts der breiten Kritik hieran auf der EU-Ebene für eine entsprechende
Änderung des Grenzkodex einsetzen, zumal die jetzige doppelte Prüfpraxis auch
im Widerspruch zu Artikel 6 steht, wonach die Grenzkontrollen stets verhältnis-
mäßig sein müssen. Die Bundesregierung rechtfertigt die gegenwärtige Praxis
und Rechtslage unter anderem damit, dass sie dazu diene, „die strafbewehrte
sogenannte Visumerschleichung“ feststellen und verfolgen zu können (vgl.
Bundestagsdrucksache 17/8823, Antwort zu Frage 15). Allerdings wurden im

Jahr 2011 bei ca. 1,8 Millionen erteilten Visa an den deutschen Grenzen gerade

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9191

einmal 66 gefälschte Visa entdeckt (Bundestagsdrucksache 17/8834, Antwort zu
Frage 7).

Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. (Bundestagsdrucksache 17/8823) zeigt, dass von wirksamen Visa-
erleichterungen bislang keine Rede sein kann. Die allgemeine Weisung des Aus-
wärtigen Amts an die deutschen Auslandsvertretungen, „im Rahmen der gesetz-
lichen Voraussetzungen“ „verstärkt Visa mit langfristiger Gültigkeitsdauer“ zu
erteilen (Antwort zu den Fragen 8 und 9), hat den Anteil der Mehrjahresvisa an
allen Visa von 2010 auf 2011 nur geringfügig von 12,2 auf 14,7 Prozent erhöht
– wobei fast zwei Drittel dieser „Mehrjahresvisa“ lediglich Einjahresvisa waren.
Die ministeriellen Vorgaben sind offenkundig unzureichend. Auch Spielräume
des Visakodex für „Bona-fide“-Antragsteller und Vielreisende werden nicht
ausreichend genutzt und unnötig eingeengt, genauere Zahlenangaben hierzu
konnte oder wollte die Bundesregierung jedoch nicht machen (vgl. Antwort zu
den Fragen 10 und 18). Den Vorschlägen des Ost-Ausschusses der Deutschen
Wirtschaft oder der liberalen Praxis z. B. Finnlands will die Bundesregierung
ebenfalls nicht folgen (vgl. Antwort zu Frage 13), vielmehr erklärt sie, sich „für
eine einheitliche Gestaltung des Visumverfahrens durch sämtliche Anwender-
staaten des Schengener Abkommens“ einzusetzen.

In Bezug auf Russland ist – trotz eines Anstiegs der Visumzahlen – im Jahr 2011
ein Rückgang des eingesetzten Personals um 8 Prozent und eine entsprechende
Mehrbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um 15 Prozent gegenüber
dem Vorjahr feststellbar (vgl. Anlage zu Frage 20). Diese Personalentwicklung
ist das genaue Gegenteil des eigentlich Erforderlichen.

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